„Vielleicht stimmt das, Kuzmany … “

„Was, Chef?“

„Naja, dass er sich einen Porno angeschaut und dabei die Kontrolle über sich verloren hat. Eine falsche Bewegung in der Erregung. Griff nach hinten ans Bücherregal. Und rumms! Wär doch möglich.“

„Gibt keinen Videorekorder!“

„Weiß ich auch, Kuzmany. Schau die letzten Internetseiten durch, die er angeklickt hat!“

„Das Ding ist hin, Chef. Da kriegt man nicht einmal die Festplatte raus. Wie nach einem Cabrio-Crash mit 100 gegen die Hauswand.“

„So schwer können Bücher sein?“

„Schaut so aus, Chef!“

„Hat er eine Erektion, Kuzmany? Gibt es da irgendwo Spuren von Samenflüssigkeit?“

Aus. Schluss. Das ist jetzt nicht mehr wahr, oder? Vergreif dich nicht an meinem Schwanz, verdammte Polizistenkröte! Das ist Privatsphäre. Und schon gar nicht, wenn der Fotograf in der Nähe ist! Lieber Gott! Jetzt red ich schon mit dem, der mir immer verflucht egal war. Lieber Gott, die Kuzmany soll ihre Pfoten weggeben! Außerdem ist das Sache der Gerichtsmedizin!

„Soll das nicht lieber die Gerichtsmedizin machen, Chef?“

„Okay. Hoffentlich kommt die Taschner bald. Ich will nicht alt werden hier in dieser ungustiösen Szenerie.“

Lieber Gott, Danke. Hast du der Kuzmany den Satz mit der Gerichtsmedizin eingebröselt? Oder bin ich schon Gedankenin-fremde-Gehirne-Bläser? Wo kommen die komischen Wörter her? Die Taschner? Ist das die berühmte Taschner, von der man manchmal in der Zeitung liest? Gerichtsmedizinerin Dr. Elisabeth Taschner? Wenigstens ist die hübscher als die Kuzmany. Hat erst letzte Woche im Lokalfernsehen ein Interview gegeben; da ist es um eine erdrosselte Prostituierte gegangen. Oder war das der Politiker, der vom Berg gesprungen ist? Sind das Hirnlücken? Ist das wichtig, dass man das weiß? Zersetzt sich mein Kopf so schnell? Oder ist es mir einfach wurscht, wurscht, wurscht? Sind einem, wenn man tot ist, andere Tote egal? Wird sie Spermaspuren an meinem Penis finden? Hab ich einen Steifen oder nicht? Wenn man was spüren würde! Hab ich eine, wie?, Erektion … seit ich mir die Jovanka in BH und Höschen vorgestellt habe? Die ist ja fast so alt wie ich! Jovanka, ich seh dich nicht! Verwischst du heimlich Spuren in der Wohnung? Welche Spuren? Meine? Oder bist du gegangen? Sehen wir uns erst zum Begräbnis wieder? Wer hat jetzt die 10.000 Euro? Und wo kommen die überhaupt her?

Die Pornocassetten sind definitiv nicht von mir. Ich schwöre! Gott ist mein Zeuge! Sag was, Gott, gegen die Kuzmany und ihren Chef bin ich machtlos. Die wollen ein Sexmonster aus mir machen, ein perverses Stück, eine Abnormität, eine Schlagzeile für den Boulevard. Und der Reporter wird ihnen dabei helfen. Stink ich schon? Hab ich Flecken im Gesicht? Wächst mein Bart noch immer? Langsamer oder schneller? Hab ich die Augen offen oder zu? Grinse ich? Die meisten Toten grinsen, das ist eine ganz einfache Muskelgeschichte. Aber die Angehörigen freuen sich. Diese friedliche Entspannung, diese faltenfreie, leicht grinsende Schlussposition, das ist ein physikalisches Ereignis. Ich hab mich wahrlich damit beschäftigt. Wenn ich nicht grinse, zieht mir bitte die Mundwinkel hoch. Ich möchte grinsen wie alle anderen. Seht ihr den Schmetterling an der Fensterscheibe? Ist das eine Fliege?

„Hast du die Zahnärztin erreicht, Kuzmany?“

„Nö. Immer noch der Anrufbeantworter.“

„Charly, verschwinde. Mehr als einen Toten unter einer eingestürzten Bücherwand gibt es hier nicht zu fotografieren.“

„Im Ernst, Kommissare, worauf tippen Sie? Mord, Selbstmord, Sexualunfall?“

Erdbeben. Sag bitte Erdbeben, Kommissare. Ach ja, und die Zahnärztin ist auf Urlaub, seit einer Woche. Hört ihr?

„Alles möglich, nichts gewiss. Und jetzt hau ab, Charly!“ „Ich bleib noch, ganz leise.“

Erdbeben. Es ist doch so simpel! Ein Mann hat in einem Mietshaus im Andräviertel, Salzburg also, im Bademantel die Zeitung aus dem Briefkasten, der sich im Eingangsbereich des Stiegenhauses befindet, geholt, sich an seinen Schreibtisch im Arbeitszimmer gesetzt und zu lesen begonnen. Und dann kam dieses Erdbeben, das stärkste seit Menschengedenken. Oder war das in Skopje im vorigen Jahrhundert stärker? Die Zeiten verrutschen. Ist das Hirnflackern? Ich tippe auf Erdbeben. Was anderes kann ich mir nicht vorstellen. Ich weiß nichts anderes. Ich war dabei, offensichtlich, aber ich weiß nichts anderes. Ich hatte nie Pornos im Haus. Gibt keinen Videorekorder. Das stimmt doch? Stinke ich? So schnell stinkt man nicht, und wenn, dann rieche ich nichts. Er war ein 

Was wirst du sagen, Wolf? Bitte sag was Schönes, keine Lobhudelei, keinen Schmus, eine Viertelstunde genügt, oder zehn Minuten, einfach was ganz, ganz Schönes über mich. Er war ein … wer war ich? Das fehlt mir noch! Nachdenken, wer ich war, was für einer ich war, warum ich der war, der ich war! In Berlin hab ich echt schöne Trauerreden gehalten, da hab ich wildfremde Menschen verabschiedet. Hab die nächsten Angehörigen gefragt: Wer war er, wer war sie, was für eine, was für einer sie, er gewesen seien. Ich hab zugehört, drei Stunden manchmal, und hab mir meine Reden zusammengepuzzelt. Kein Schmus, nichts Feierliches, keine Spur von Pathos, nichts Klerikales, das schon gar nicht. Keine Verurteilungen, kein Keulenschlag von wegen Hölle oder Fegefeuer. Das machen die Pfaffen, mit sowas hab ich nichts zu tun. „Sprecht von mir wie eh und je und nicht anders. Werdet nicht feierlich oder traurig“, Augustinus bzw. Charles Pierre Peguy, je nachdem, welche Variante man wählt. Erst die Lebensgeschichten, dann dieser Text. Oder umgekehrt. Und dann, so gut wie immer: „Time to Say Goodbye“. Ich hab immer Geschichten erzählt, zum Heulen, zum Lachen. Es geht ja nur darum, ganz am Schluss Geschichten zu erzählen, die einen zum Heulen und zum Lachen bringen. Verstehst du, Wolf? Die Menschen sollen weinen und lachen. Erzähl, dass ich einmal von einem Kamel gefallen bin.

„Die ist noch mit einer mumifizierten Leiche beschäftigt, die Taschner. Das kann dauern, Chef!“

„Hast du die Hausparteien durch?“

„Ist ja niemand daheim außer dem Pfarrer da drüben und der Auerbach von links oben. Aber die hat sich hingelegt. Ich soll später kommen.“

„Steck ihnen Zettel an die Tür. Sie sollen sich melden, und zwar unverzüglich!“

Sie ist also mit einer mumifizierten Leiche beschäftigt, die hübsche Frau Gerichtsmedizinerin. Eine mumifizierte Leiche hat Vorrang, dann komme ich, vielleicht. Der, den die Bücher erschlagen haben. Aber womöglich springt in der Zwischenzeit ein anderer Politiker vom Berg oder es wird eine weitere Prostituierte erdrosselt. Man muss sich an die Rangordnung halten. Ab wann beginne ich zu mumifizieren?

Wichtig ist … was ist wichtig? Dass mich niemand mehr küsst, scheint ziemlich wahrscheinlich. Das Ende des Küssens. Der Tod beginnt mit dem Ende des Küssens. Der letzte Kuss war der von einem Sanitäter. War ich da wirklich schon tot? Der erste Kuss, den ich von einem Mann bekommen habe. Der Fabian in Berlin hat es probiert, aber dem bin ich grad noch ausgewichen, zweimal. Dem Kuss des Sanitäters kannst du nicht entkommen. Das ist ja auch kein Kuss. Lippen auf Lippen gepresst. Und doch ist es kein Kuss. Der letzte echte Kuss, Gott, wann war das? Mein Hirn!!! Herz?

„Hallo Annemarie! Wie war’s im Urlaub?“

„Wahnsinnig toll. Zuerst 14 Tage Griechenland, dann eine Woche London.“

„Klingt gut! Die neue Frisur steht Ihnen prima!“

„Danke. Darf’s noch was sein?“

„Einen Prosecco für den Kreislauf.“

„Gern. Sonst noch was?“

„Haben Sie den Klinger heute schon gesehen?“

„Den Klinger?“

Wieso sagen Sie „den Klinger“? Ich sag ja auch „Frau Annemarie“ zu Ihnen, obwohl ich fast doppelt so alt bin. Und du, Wolf, hast du nichts zu tun? Sitzt noch immer da. Die haben bald Schichtwechsel! Ist deine Weißblonde aufs Klo verschwunden? Oder war das gar keine Weißblonde? Bin gespannt, wie ihr alle schaut, morgen, wenn das in der Zeitung steht! „Martin Klinger“ oder wahrscheinlich: „Martin K.“, sicher nicht der volle Name, solang man nichts Genaues weiß. „Martin K., 61 … “ Und dann die Erdbebengeschichte. Schlecht renoviertes Altstadthaus, Hunderte Bücher, Genickbruch. Von einem kuriosen Todesfall in der Stadt Salzburg ist zu berichten … der kurioseste Todesfall seit langem … Rätsel gibt der Polizei ein kurioser Todesfall auf … tot in seiner Wohnung gefunden wurde gestern früh … unter einem Berg von Büchern 

„Nein, den Herrn Klinger hab ich heute nicht gesehen.“

„Der ist so komisch geworden in letzter Zeit, finden Sie nicht, Annemarie? Noch stiller, oder?“

„Keine Ahnung. Viel gesprochen hat er nie. Darf ich fragen – was arbeitet der eigentlich?“

Der arbeitet viel! Der ist Künstler, Schriftsteller, Trauerredner oder war es zumindest. Drei Bücher! In Berlin. Und jetzt, naja … warum haben Sie mich das nie gefragt, verehrte Frau Annemarie? Ich war doch jeden Tag im Café. Und immer in Ihrem Revier.

„Er war ganz gut, früher, glaub ich. Hat lange in Berlin gelebt, soll sogar ein Buch geschrieben haben. Aber das ist lange her. Ich glaube, er lebt von den Resten einer Erbschaft. Ist auch egal. Was machen Sie heute Abend?“

Wolf, Arsch! Hast du den Kinnhaken gespürt? Mach mich nicht kaputt! Nicht vor der Frau Annemarie. Zähl ihr die Preise auf, die ich bekommen habe irgendwann. „Unter Strom“, das war kein schwaches Buch! Der Verleger in Berlin hat Pleite gemacht, aber da kann ich nichts dafür. Das Buch war echt gut. Und „Schirokko“ ist ein geiles Theaterstück, da hab ich passable Kritiken in meinem Ordner, unter den Büchern. Am Nachlass, ehrlich, könntest du dich dumm und dämlich verdienen, Wolf. Mach bitte nicht alles kaputt.

„Wo kommt jetzt auf einmal die Musik her?“

„Ich glaube, von der Wohnung oben, Chef!“

„Hast du nicht geklingelt, Kuzmany?“

„Schon, aber es hat niemand aufgemacht.“

Bingo! Von der Wohnung oben. Von diesem Mörderpianisten. Jetzt wird gleich eine völlig untalentierte Sängerin losbrüllen. Tonleiter, rauf und runter, rauf und runter. Und dann, nach einer geschlagenen Stunde, der Ansatz einer Arie, die Parodie eines Liedes. Die kann nicht anders. Die können alle nicht anders. Der da oben, das ist ein so genannter Gesangslehrer von der hiesigen Musikhochschule, angeblich. Musiktiefschule müsste das heißen. Und die Quietschenten sind seine sogenannten Schülerinnen.

Manchmal haut der in die Tasten, dass die Wände wackeln und man befürchtet, jetzt stürzt das ganze Haus ein. Direkt ober mir! Das geht schon in der Früh los. Dieser verfickte Jeremy Wasweißich, ein Amerikaner jedenfalls, klopft mich mit seinem Klavierspiel aus dem Schlaf. Okay, ich mag Musik, aber ich muss nicht diesen Scheiß hören. Ich hab mich bei der Hausverwaltung beschwert, aber die haben mich billig abgespeist. Haben einen Lautstärkeprüfer geschickt, mit aufwändigen Geräten, an einem Tag, an dem er nicht gespielt und an dem niemand gesungen hat. Na bitte, jetzt geht’s los. Die Tonleitern, eine Sopranistin. Macht euch auf das Ärgste gefasst!

„Klingt ziemlich heavy, Chef, oder? Und so laut, als würde die hier im Zimmer singen.“

„Geh rauf, Kuzmany, hol die runter.“

Geh nicht rauf, Kuzmany! Ich bin einmal raufgegangen, völlig entnervt von dem Stimmengemetzel. Der hat mich vor der Wohnungstüre zu Boden gestoßen. „Fuck you, asshole!“ und dann hat er mich so brutal weggeschubbst, dass ich auf den Rücken gefallen bin, mit dem Kopf haarscharf an der Lifttüre vorbei. Ich hätte mir das Genick brechen können! He, Kuzmany, da musst du zehnmal klopfen! Die Klingel hat er abgestellt, der Herr Gesangslehrer. Der hat nie gegrüßt, immer nur blöd gegrinst. Er hat mich fast umgebracht. Schieß einmal in die Luft, Kuzmany, sonst macht der nicht auf. Schrei, so laut du kannst: Polizei, Sie sind umzingelt! Verhafte ihn wie einen Terroristen, wirf ihn zu Boden, setz dich auf seinen Rücken, der Typ ist nicht größer als du, und kneble ihn. Oder noch besser: schieß ihm ein Loch in den Kopf, Kuzmany. Das ist Notwehr. Die Sängerin lass laufen, die kann nichts dafür. Die stirbt sowieso bald an ihrer Talentlosigkeit.

Klingt das jetzt hässlich oder schön? Wo ist der Unterschied? Bin ich überhaupt tot? Wo bleibt die Gerichtsmedizin? Wie mumifiziert muss einer sein, dass dieses Weib endlich anrückt? Den Tunnel hab ich nicht gesehen. Ich bin, soviel ich weiß, durch keinen Tunnel gekrochen, geflogen. Vielleicht hab ich den Tunnel verschnarcht. Ich hab einmal, in Berlin, weil das nötig war, weil alle so verzweifelt waren bei dieser Verabschiedung von dem jungen Mann, der sich im Haus seiner Großeltern erhängt hat, vom Tunnel erzählt und vom Licht jenseits des Tunnels, auch wenn ich persönlich diese Märchen nicht glaube. Aber es war notwendig, sonst wären sie mir zusammengebrochen.

Ich lüge nie, die Geschichte mit dem Tunnel ins Licht ist höchstens eine Notlüge. Vielleicht stimmt das ja auch. Ich weiß es nicht, ich hab den Tunnel ins Licht verpennt oder die ganze Geschichte steht mir noch bevor. Das Klavier da droben regt mich nicht mehr auf, der Gesang noch weniger. Welcher Engel macht sich an meinem Ohrwerk zu schaffen? Kitzelt das? Wie fühlt sich das an, gekitzelt zu werden? Oder haben die aufgehört, da droben, weil die Kuzmany beide gekillt hat, den Jeremy Sowieso und die Stimmakrobatin? Der hat sicher nicht die Tür aufgemacht. Die liegen unter dem Klavier und vögeln.

Heißt die Polizistin Kuzmany? Oder Küssmichnie? Oder Kotzmichan? Ist auch egal, hebt mir endlich die Bücher von den Beinen, aus existentiellen Gründen, was auch immer das bedeutet. Klingt Klavierspielen wie Kammblasen? Meine Frisur möchte ich sehen, ziemlich durcheinander wahrscheinlich. Fabian, nimm die Bürste und den Fön. Schade, dass du so jung gestorben bist. Beginnt das Mumifizieren bei den Haaren? In der Achselhöhle?

„Polizei! Öffnen!“

„Fuck you, asshole!“

Tritt ihm die Tür ein, Kuzmany, schieß endlich! Hilf ihr doch, Kommissare. Die fliegt gleich die Treppe runter!

Allein, wieder allein … vorüber rauscht die Jugendzeit … mein Herz ist schwer und trüb mein Sinn … hast du da droben vergessen auf mich … wieso hast du dir das gewünscht, Fabian? Alle haben geheult. Wer heult bei mir? Niemand. Heulverbot. Wir bitten von Geheule am offenen Grab Abstand zu nehmen. Im Muttergrab. Ich war einmal dabei, wie sie ein Grab ausgehoben haben, in Berlin, Waldfriedhof, und da sind richtige Knochenstückchen durch die Luft geflogen. Der Totengräber hat sie eingesammelt und in die Mülltonne geworfen. Ich muss noch schnell was aufschreiben: Bitte eine Erdbestattung, und Wolf soll die Rede halten. Kein Priester! Als Musik soll gespielt werden: dreimal „Heile, heile, Gänsje“! Das ist ein Befehl. Jede Abweichung von diesem letzten Willen wird gerichtlich verfolgt. Martin Klinger. Ich denk so lang diese Sätze durch, bis sie irgendwo auf einem Blatt Papier erscheinen.

„Ist da jemand?“

Nur ich. Die anderen sind droben und bringen gerade das größte Scheusal des Jahrhunderts um, den Tastentyrannen. Oder er hat sie umgebracht. Einerlei.

Das ist also die Taschner, Frau Dr. Taschner von der Gerichtsmedizin. Sie sollten keine so kurzen Röcke tragen. Oder schon? Blaue Augen, das hab ich nicht gewusst. Die Einweghandschuhe machen Ihre Hände bleich. Was kommt zuerst, der Kopf oder der Schwanz?