„Die Frau Dr. Taschner! Na, endlich!“

„Wir mussten grad einen rabiaten Nachbarn beruhigen. Hat aber nichts mit diesem Fall zu tun.“

„Das ist die Kuzmany, meine Assistentin.“

Beruhigen? Nichts mit diesem Fall zu tun? Kuzmany, spinnst du? Habt ihr ihn nicht erschossen oder wenigstens in Fesseln gelegt?

„Rabiater Nachbar?“

„Ach, da droben wohnt ein Gesangslehrer. Harmlos. Aber er, der Klinger, der Tote, hat ihm das Leben zur Hölle gemacht. Hat sich immer wieder beschwert über die Musik.“

„Verstehe.“

Was verstehen Sie, Frau Doktor Kurzrock? Jetzt krieg ich aber eine Mordswut. Mein Puls ist sicher auf 180. Ihr wollt mich als Hypochonder aus diesem Leben schicken? Als Querulanten? Und er, der Mördergeselle, bleibt ungeschoren? Dreht mir nicht mein Leben um! Bleibt bei der Wahrheit! Was hat er gesagt: „Ist nicht schad um den?“ Hat er gesagt: „Oh, I’m sorry“? Hat er bloß blöd gegrinst? Oder eine Flasche Prosecco aufgemacht?

Lässt du dir das „Fuck you, asshole“ einfach so gefallen, Kuzmany?

„Was macht die Mumie?“

„Spannende Geschichte. Sicher schon zwanzig Jahre tot. Hat jemand in einem Bachbett gefunden, halb skelettiert. Aber da ist noch viel dran am Gerippe!“

„Der da ist offensichtlich von den Büchern erschlagen worden, Frau Doktor. Genickbruch, hat der Notarzt gemeint.“ „Wieso liegt er dann am Rücken?“

„Die wollten ihn reanimieren.“

„Verstehe. Ja, ein Genickbruch, sicher. Der Kopf ist ja ganz verdreht. Obere Halswirbelsäule so gut wie ab, Kompression des Rückenmarks. Leichenflecken am ganzen Körper. Jetzt noch die Temperatur … “

Warum schieben Sie mir den Thermometer in den Arsch, Frau Doktor. Im Mund wär’s mir lieber. Egal.

„28 Grad. Todeszeit: schätzomative vor fünf oder sechs Stunden. Genaueres, wie immer, nach der Obduktion.“

Bitte keine Obduktion. Genickbruch genügt doch. Wollen Sie jetzt auch noch in meinen Magen schauen, was ich gegessen oder getrunken habe, letzte Nacht? Nicht nötig. Ich diktiere, also 

„Wir haben Pornocassetten gefunden, vielleicht hat er … “

„Penis geschrumpft. Moment … keinerlei Spermaspuren. Der hat schon längere Zeit keinen Sex gehabt. Auch nicht masturbiert. Wow, das finde ich spannend … “

„Und zwar, Frau Doktor?“

„Das Buch! ‚Körper ohne Leben – Begegnung und Umgang mit Toten’. Ist ein Standardwerk. Fast tausend Seiten. Das müssen meine Studenten lesen, noch vor dem ersten Proseminar. Da steht alles drinnen über die pathologisch-anatomische Sektion, über Totenkulte, Mumifizierungen. Ein wunderbares Buch, leicht zu lesen.“

„Wunderbares Buch, na, ich weiß nicht.“

„Der Tod ist was Normales, Kuzmany. Nimm dir das Buch mit nach Hause.“

„Warum hat er das gelesen? War er Mediziner?“

„Es gibt eine Menge solcher Bücher in diesem Zimmer, Frau Doktor. So viel ich weiß, also von der Putzfrau, hat er geschrieben.“

„Wie ist der Name?“

„Martin Klinger.“

„Klinger? Nie gehört.“

„, Die menschliche Leiche als Studienpräparat’. Soll ich das wirklich lesen, Chef?“

„Schaden kann es nicht.“

„Ah, Ekel! Schauen Sie: ‚die mumifizierte Mutter aus Psycho von Hitchcock’! Der pure Horror.“

„Schwache Nerven, Frau Assistentin?“

„Stell dich nicht so an, Kuzmany!“

Soll ich es noch einmal sagen: das ist nicht von mir. Das muss meinem Vorgänger gehört haben. Solche Bücher hab ich mir nicht zugelegt. Über Obduktionen hab ich nie was gelesen oder geschrieben. Ich hab mich mit der Trauer beschäftigt. Die Bücher über Trauer und Trösten sind von mir. Die anderen vom Vormieter. Warum hört mir keiner zu. Leichenflecken. So kann ich mich nicht mehr blicken lassen im Café!

„Fast zwei Kilo wiegt der Schinken, Chef, ich hab das Buch in der Küche abgewogen. Und das da – ‚Die letzte Reise – Sterben, Tod und Trauersitten in Oberbayern’: eineinhalb Kilo. Da müssen Tonnen auf ihn draufgeflogen sein!“

„Na, na, Tonnen. Aber für einen Genickbruch reicht das wohl, oder Frau Doktor?“

„Locker. Ach, wie hübsch. Die Liebesgedichte von Erich Fried. Die nehm ich mir mit.“

„Nehmen Sie mit, was Sie wollen.“

„War die Spurensicherung schon da?“

„Muss gleich kommen. Läuft uns ja nichts davon.“

„Da steht eine Widmung drin. ‚Meinem Schatz, auf ewig, Deine Dich liebende Betty.’ Kein Datum.“

„Sollen wir Ihnen die Leiche gleich in die Anatomie schicken, Frau Doktor?“

„Das hat Zeit. Ich muss mich um meine Mumie kümmern, und die Kollegen sind auch schwer beschäftigt. Die ‚Liebesgedichte’ hab ich meinem Mann geschenkt, zur Verlobung. Wir waren nur zwei Jahre verheiratet. Das Buch hat er mitgenommen. Naja, dann tschüss. Mehr kann ich hier nicht tun. Viel Erfolg, Herrschaften!“

„Eines noch. Die Bücherwand ist auf ihn draufgefallen. Könnte er die selbst so von hinten herausgerissen haben.“

„Unwahrscheinlich aber möglich.“

„Könnte jemand anderer … “

„Auch möglich.“

„Könnte ihn jemand mit einem Buch erschlagen und dann die Bücherwand auf ihn gekippt haben?

„Sehr unwahrscheinlich aber nicht ausgeschlossen. Adieu! Wir hören uns später.“

Betty? Moment. Betty? Verdammter Kopf? Ist das die Untertemperatur? Betty Wienoch? Berlin? Betty Berlin? Julchen Hoppe. Das ist fix. Fabian. Betty?

„Jetzt singt die schon wieder!“

„Klingt doch hübsch, Kuzmany!“

„Ich weiß nicht, ob ich das aushalten würde, Chef. Und das Klaviergedudel. Ziemlich laut.“

Danke, Kussmany. Handkuz. Aber das ist nicht die von vorhin, da singt schon die nächste. Die halten ja nicht einmal die Mittagsruhepause ein. Der ist schamlos, präpotent, gewalttätig. Dein Chef, Kuzmany, hat Schweinsohren. So laut finde ich es gar nicht. Riesenvorteil, wenn man tot ist.

Altbauscheißwohnungen, miserabel renoviert. Schalllöcher überall. Sowas dürfte man nur an Gehörlose vermieten. Oder an Menschen, die schon tot sind.

Ich würde jetzt rasend gern meine Leichenflecken sehen. Einen Spiegel bitte. Würde mir jemand … Schau ich schon aus wie die mumifizierte Mutter in „Psycho“? Warum guckst du mich so komisch an, Kuzmany? Was guckst du? Gefall ich dir nicht?

„Mord oder Selbstmord, Chef?“

„Ein Unfall, höchstwahrscheinlich.“

„Und worauf warten wir dann noch?“

„Worauf! Auf die Spurensicherung, Kuzmany. Und auf die Schwester. Auf die Dauer nervt das schon. Das Gedudel!“

Ich hab ihn einmal angezeigt. Und er hat Rache geschworen. Fuck you, asshole. Die Anzeige wurde wegen Nichtigkeit niedergeschlagen. Wer wurde niedergeschlagen? Ich oder die Anzeige? Beide. Und dann hat er mein Büro verwüstet. Das war doch er?! Jovanka, war er das?

Was kochst du Schönes für die Familie? Krautrouladenmazedonisches? Kochst du in BH und Höschen? Einmal hast du mir Krautrouladen-mazedonisches mitgebracht. Müssen essen, Herr Klinger, nicht immer arbeiten, arbeiten. Sonst fallt er mir vom Fleisch! Danke für die Krautrouladen-mazedonisches. Ich hab sie im Kühlschrank vergessen, drei Wochen lang, da waren Sie auf Urlaub in Mallorca, glaub ich. Ich hab sie ins Klo geschüttet. Lecker, lecker, hab ich gesagt, als Sie wieder gekommen sind, bissl Putzen und Stauben. Sehr lecker, Krautrouladen-mazedonisches!

Nicht bös sein, ich bin ziemlich konfuzius, meschugge, macht nix oder? Bissl konfuzius sind wir doch alle, stimmt’s, Jovanka? Einmal hab ich meine Schlaftablette statt dem Antidepressivum in der Früh geschluckt. Und bin am Schreibtisch eingeschlafen, Kopf auf dem Mousepad. Wie Katzerl auf Ofenbank, haben Sie gesagt. Waren wir nicht per Du seit heute früh? Hab einen wichtigen Termin verschlafen, damals. Bin nicht Dramaturg am Landestheater geworden. Verstehst Du, Jovanka? Macht nix, Herr Klinger. Ist Leben dramaturgisch genug! Bring ich Ihnen nächstes Mal Krautrouladen-mazedonisches mit. Ja, mach das, machen Sie das, liebe Frau Jovanka.

Danke.