„Stimmt das, Wolf? Dass sich der Klinger umgebracht hat? Die Frau Annemarie hat das erzählt.“

„Stimmt, Professore. Ich komme grad aus seiner Bude. Ja, die Verzweiflung, wenn nichts mehr läuft. Übrigens – das ist Veronika Klinger, seine Schwester. Das ist der Professore. Er schreibt auch. Krimis. Und spielt prima Saxophon!“

„Freut mich, Herr Professore.“

„Professore genügt. Wie war er denn als Kind, der Martin?“

„Wie halt Brüder so sind. Ziemlich laut.“

„Komisch, ich kenne ihn nur still. Fast autistisch still. Stimmt’s, Annemarie?“

„Stimmt, Herr Wolf. Was darf ich bringen?“

Die Frau Annemarie, Martin Klingers Kellnerin seit ewigen fünf Jahren, brachte, was man in so einem Fall bringen muss: Strychnin, fein aufgelöst in Prosecco. Nach dem ersten Schluck verfärbte sich für den Professore und den Wolf die Welt. Bei der selbsternannten Lieblingsschwester V. half erst das zweite Glas. Wir rufen gemeinsam die Polizei, die gnädige Frau Annemarie, auch so ein Judas, und ich, der Tote aus der Neustadt. Bis dahin Ruhe bewahren.

„Gehst du zur Beerdigung, Wolf?“

„Kommt drauf an. Wir haben ja noch keinen Termin.“

„Wissen Sie, mein Bruder wird obduziert. Verstehe ich zwar nicht, aber es ist so.“

„Er hat sich erhängt?“

„Im Gegenteil. Er hat sich erschlagen.“

„Das musst du mir genauer erzählen, Wolf.“

„Oh, mein Handy! Pardon. Veronika Klinger? Ach, Herr Kommissar, was gibt’s? Wie bitte? Die Spurensicherung. Ja, ich komme so bald ich kann. Ist er … mein Bruder … aha, er ist noch da. Ja bis gleich.“

„Was ist passiert, Veronika?“

„Der Kommissar. Dass ein Testament aufgetaucht ist.“

„Was steht drin?“

„Hat er nicht gesagt. Ich muss zurück.“

„Zuerst noch ein Glas Prosecco. Drei mal wie gehabt. Und einen für Sie, Annemarie!“

Ja, das Testament, ja das Testament, das liegt mir so im Blut. Jetzt schaut ihr blöd. Welches Testament? Tragen Sie meinetwegen schwarze Unterwäsche, Fräulein?

„Tamara, du kriegst alles. Alles! Vielleicht war es Scheiße, was wir gemacht haben. Wahrscheinlich versteht mich keiner. Aber das ist egal. Du hast mir das Leben gerettet. Du warst der einzige Mensch an meiner Seite. Gegen Bezahlung, aber trotzdem. Es war keine Liebe, wir beide wissen das. Es war, wie es war. Danke!“

„Was heißt das, Wolf?“

„Keine Ahnung. Das Testament. Tamara kenne ich keine. Kennt sonst wer eine Tamara?“

„Die Spurensicherung hat uns das Schreiben geliefert. Lesen Sie weiter, Chef!“

„Okay, also weiter: … es war, wie es war. Du hast mir geholfen, den ganzen Mist meines Lebens zu ertragen. Du hast mir viel gegeben, Tamara, Herrin, du kriegst alles! Bitte sorge für eine standesgemäße Entsorgung, du weißt, wie ich das meine. Und am Schluss sollen sie spielen: ‚Ja, Freunde, ja, ich liebe diese Hure!’ Auch wenn die ganze Stadt errötet vor lauter Scham. Das ist mein letzter Wille.“

Bitte, bitte, bitte. Leben heißt: Geschichten erfinden. Tot sein, heißt: Hört endlich auf Geschichten zu erfinden! Es stimmt nichts. Nichts! Der einzige Satz, der stimmt: … ist tot. Aus, Amen! Alles andere ist erstunken und erlogen!

„Von einer Tamara hat er nie erzählt. Hure? Naja, alles möglich. Mit Frauen war er selten zusammen. Irgendeine Jugendliebe. Und dann was in Berlin. Aber sonst. Vielleicht ist er ins Puff gegangen.“

„Die Piss-Videos, Chef, das passt doch!“

„Da kannst du recht haben, Kuzmany. Rotlichtmilieu, Koks. Das sind deutliche Spuren. Unauffällige Menschen neigen zu solchen auffälligen Geschichten. Jetzt müssen wir nur diese Tamara finden!“

„Steht ein Nachname im Testament, Herr Kommissar, und eine Adresse?“

„Nicht einmal eine Unterschrift, leider.“

„Dann gilt das sowieso nicht, dieses so genannte Testament. Ein Muster ohne Wert, Herr Oberinspektor, oder?“

„Ist das überhaupt seine Handschrift?“

„Es ist gar keine Handschrift. Schreibmaschine, älteres Modell. Tippe auf Olivetti aus den siebziger Jahren.“

„Okay, dann können wir das ja vergessen.“

„Wie auch immer. Diese Tamara müssen wir finden. Vielleicht ist sie der Schlüssel zu allem!“

Ja, ja, die Tamara! Hab ich auch nie gekannt. Oder? Lest in meinen Büchern nach, um Jesu Christi willen. Wenn ihr eine Tamara findet, dann zahle ich euch zwei Biere. Ich möchte jetzt langsam alles hinter mich bringen. Frau Dr. Taschner, vergessen Sie die Mumie. Hier kommt ein Mensch, der will zu dir, du hast ein Haus, öffne die Tür, hier kommt ein Mensch … Peter Alexander, keine Diskussion. Einmal, bei einer Trauerfeier, war das in Berlin?, hat die Familie als Schlusslied „Wenn erst der Abend kommt“ von Peter Alexander bestellt. Traurig, tief melancholisch, so richtig was zum zärtlichen Geweine.

Hab ich das schon erzählt? Wenn ja, werft mir einfach ein paar Bücher ins Genick! Steht die Geschichte in „Ein Büchernarr“ oder in „Unter Strom“? Jedenfalls drückt der Bestattungsbeamte auf den CD-Player-Knopf. Und statt „Wenn erst der Abend kommt“ ertönt über alle Lautsprecher in der Trauerhalle – nein, das hab ich schon erzählt. Erzähle ich nie mehr wieder. Der Pfau prustet sich nur einmal! Naturgesetz. Der muss das nicht. Ich muss das auch nicht. Ich muss gar nichts. Wenn Sie mich aufsägen, später dann, Frau Doktor, muss ich dabei sein? Sicher nicht. Ich fahre inzwischen ans Grab und dann ins Café. Oder umgekehrt. Aber nicht mein Wille geschehe, sondern das übliche.

„Bitte, hab ich vergessen Hausschlapfen!“

„Ah, die Frau Putzfrau!“

„Eberherr Jovanka. Ist nix schwer, der Name, Herr Inspektor. War schon daheim bei mir. Schon gekocht, Gulasch mit Knödel. Und Gurkingersalat. Sehr gut. Auf einmal – jössusna, die Hausschlapfen! Vergessen bei Herrn Klinger seligerweise. Sind nicht teuer oder so, nein. Aber Schuh ist Schuh. Und werde ich immer denken an Herrn Klinger, wann ich schlupf in Patschen.“ „Trifft sich gut, dass Sie noch einmal gekommen sind!“

„Liegt ja immer noch herum wie Stieglitz, gefallen aus warmes Nestl. Armer toter Herr. Nimmt das gar kein Ende, christliches?“

„Frau Jovanka, sagt Ihnen der Name Tamara etwas?“

„Tamara? Aber ja, bitte, natürlich. Tamara. Kenn ich. War so ein Engel, Gott, ein Engel.“

„Ein Engel?!“

„Na bitte, Frau Kommissar, hat mich an Busen gedrückt, da bin ich noch Putzl in Skopje gewesen, wo Erdbeben war.“

„Der Herr Klinger, für den Sie geputzt haben, hat der eine Tamara gekannt? Hat er von einer Tamara erzählt?“

„Weiß ich nix. Möglich. Möglich nicht.“

„Diese Tamara war eine Prostituierte!“

„Pfui, Frau Kommissar, pfui tausendmal. Damit haben wir nix zu tun. Das ist eine Gemeinheit! Herr Klinger war kein so einer. Das war ein feiner Herr!“

„Schon gut, war nur eine Frage.“

„Blöde Frage, ganz blöde Frage, Frau Kommissar!“

„Die Kuzmany hat’s nicht bös gemeint, Frau Jovanka.“

„Prostituierte! Herr Klinger! Jössusmaria!“

„In Ewigkeit, Amen. Nehmen Sie Ihre Hausschlapfen und fahren Sie heim. Bevor Ihr Gulasch anbrennt.“

„Bei mir brennt nix an, Herrschaften. Ich bin gute Köchin. Aber da stinkt’s wie nach Zimmerbrand. Rauchen Herr Inspektor Virginia? Wie mein Mann seligerweise?“

„Nein, nein. War bloß ein kleiner Zwischenfall. Hat nichts mit der Tat zu tun.“

„Allerletztes Adieu, lieber Herr Klinger. Sehen wir uns bei Begräbnis. Sie sagen mir Termin, die Herren und Damen?“

„Natürlich, Frau Jovanka.“

„Dann tschüss.“

„Tschüss!“

Jovanka. So was Liebes wie dich gibt es ja gar nicht in dieser Welt. Bist du eine Außerirdische? Kannst du mich wiederbeleben, bis das Ärgste vorbei ist, dass das Ärgste nicht eintritt!? Dass die mich nicht, das ist das wahrlich Erschütternde, in einen anderen verwandeln. In ein Scheusal, ein debiles Monster, eine Randnotiz. Ein Nachthupferl!!!

Ein Busserl, gnädige Frau Jovanka Eberherr. Ein Busserl, mazedonisches, oder eine Tracht Prügel. Irgendwas. Oder nichts. Lass das Gulasch nicht anbrunzeln. Verpiss dich. Verpiss mich nicht. Ein Satz noch: Weißt du, Jovanka, wie mein linker Fuß heißt? Heißt der: Bürgermeister? Und der andere: Polizeipräsident? Oder war das umgekehrt? Haben wir das als Kinder gespielt? Achtung, gleich kommt mein linker Fuß. Und dann haben wir uns in die Eier getreten. Oder war das ganz was Liebes, Zärtliches. So am Sonntag-morgen unter der Bettdecke der Mutter. Guten Morgen, linker Fuß … Ich hab einmal einen Mann verabschiedet, in Berlin, Fabian, du warst das nicht. Der hatte auf seinem linken Fußrist eintätowiert: „Ich bin müde!“ und auf dem rechten Fußrist: „Ich auch!“

Ach, Goodbye, Jovanka. Ich bin ein bisschen müde. Letzter Gruß von meinem linken Fuß an deinen rechten Fuß, unbekannterweise.