„Kuzmany, ich bin dann mal dahin. Wir haben heute Tangokurs, meine Frau und ich. Du wartest, bis die Bestattung kommt und ihn abholt. Dann versiegelst du die Türe. Okay?“

„Passt schon, Chef.“

„Also bitte die Herrschaften. Herr Königshofer, Frau Klinger, wir verständigen Sie, wenn die Leiche freigegeben wird. Und halten Sie sich zu unserer Verfügung!“

„Heißt das, ich muss in Salzburg bleiben, Herr Kommissar?“

„So dringend ist die Geschichte auch wieder nicht. Setzen Sie sich mit der Bestattung in Verbindung. Und dann fahren Sie ruhig heim nach Wien.“

„Linz, Herr Kommissar.“

„Oder Linz.“

„Sie könnten auch hier bleiben, Veronika. Ich habe ein hübsches Gästezimmer in meinem Atelier.“

Daramdamdammmmm. Und schon wölben sich die Eierstöcke! Was seid ihr für ein Gesindel! Ich liege in meinem Leichenschweiß und ihr macht ein Date aus für die Nacht. Streut euch Asche aufs Haupt. Asche! Verarschen kann ich mich, kann ich mich nicht mehr … färbt euch die Fingernägel totenschwarz. Ein Mensch hat diesen Planeten verlassen. Ein Mensch! Schert euch zum Teufel, ihr Unmenschen. Du auch, Kuzmany. Ich brauch dich nicht. Mit den Leichenabholern werd ich alleine fertig. Wir sind ja schon per du, der Herr Tod und ich. Da gibt es keine Sentimentalitäten. Reine Geschäftsabwicklung. Rein in die Kiste, und tschüss. Nächste Szene: Prosektur. So einfach ist das Leben. Das, wenn man vorher gewusst hätte! Gehen wir einen zwitschern, Kuzmany. Hol den Weißwein aus dem Tabernakel. Solange wir unter uns sind.

„Kuzmany! … Hallo Schatz … wird noch dauern, leider. Ich warte auf die Bestattung … ja ein Selbstmord wahrscheinlich oder ein Unfall mit Sexualhintergrund … Klinger, Martin … du, der ist von seinen Büchern erschlagen worden … nein, der Chef ist schon weg … na ja, so zwei Stunden … ich muss ja auch ins Büro. Ja … ich dich auch. Kuss … he, Melissa, mach inzwischen den Wein auf. Ich bring auch was Schönes mit … nein, keine Rosen. Ein Buch. Lass dich überraschen! Also bis dann.“

Ich will nichts damit zu tun haben. Ich warte auf die Abholer. I’m waiting for the undertaker, verfluchtes Gesindel! Da pfeif ich auf jede lesbische Kurzgeschichte, so en passant, Kuzmany, verstehst du? Vorgestern, ja vielleicht. Oder im Jahre Schnee. Oder Berlin, New York, Rimini. Wurscht. Aber jetzt? Es muss doch Ruhe einkehren, kruzifix noch einmal! Ist in den ewigen Frieden eingegangen … ja, Schnecken! Geschichten, über den Rand der Verderbnis hinaus. Leichenflecken, aber Geschichten. Herzstillstand, aber Geschichten. Und so weiter und so weiter. Wir sind ja nicht im Nachtkino und nicht in einem dieser scheiß Kriminalromane vom Professore! Banalitäten! Der schreibt sowas, bei dem muss der Kommissar in den Tangokurs gehen und die Assistentin eine Frau lieben. Das kommt an, das liebt die Meute! Banalitäter, Attentäter, Aschenbecher. Da könnt ihr mir gleich meine Krümel in den Aschenbecher streuen, wenn es in dieser Tour weitergeht! Ich möchte 

wie war das? … die „Unbefleckte Empfängnis“ zum Tee empfangen, auf einen Plausch unter Freunden … und was passiert? Mir säuselt ein Traramädel in scheußlicher Polizistenuniform die Ohren voll. Ist das eine Polizistenuniform, oder ist das dein Hochzeitskleid, Kuzmany? Und quatsch nicht herum, als wär ich nicht da! Das gebietet der Handstand. Vielleicht bin ich gar nicht mehr da. Nur meine Hand. Ist das die Bürgermeisterhand? Und die andere die … wie war das? Wer spielt mit mir? Das sind die Fragen von Bedeutung! Ich setze mein Leben ein. Was suchst du, Kuzmany? Ein Mitbringsel für deine Liebste? „Unter Strom“ wird ihr gefallen. Oder „Ein Büchernarr“. Ach was, schenk ihr Rosen, die verwelken schneller als Bücher. „Bed of Roses“. Bon Jovi. Weiß ich alles. „I wanna lay you down in a bed of roses … for tonight I’ll sleep on a bed of nails.“

Nein! „Heile, heile, Gänsje!“ Endgültig. Vier mal!

„Hallo, Schatz, gibt’s noch was? Nein … müssen jeden Augenblick kommen. Wer da singt? Keine Ahnung, das kommt aus der Wohnung oben … was heißt das: du glaubst das nicht?! Ist aber so … da oben wohnt nämlich … ach, Melissa. Nein, sicher nicht! Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist! Ehrenwort, ich bin nicht bei der Dagmar. Außerdem singt die Dagmar gar nicht klassisch, die singt Chansons. Ja … das kommt von oben. Ich weiß, dass es so klingt, als würde neben mir jemand singen, aber es kommt von … ich bin völlig allein, mit einer Leiche. Leichen singen nicht! Melissa, hör zu … du bringst mich noch um mit deiner Eifersucht! … nein, oben! Im oberen Stockwerk … okay, wie du willst. Das war’s dann, oder? … Wenn du meinst.“

Grußlos geht die Welt in Fransen. Eine Tragödie, und ich bin der, der alles aufklären könnte. Aber Leichen singen nicht. Ich könnte aufrichtig erzählen, dass mich der Klaviermörder schon einmal vom Eiffelturm gestoßen hat. Fuck you, asshole. Melissa, glaub deiner Kuzmany. Die ist viel zu blöd, um Geschichten zu erfinden. Die sagt die Wahrheit aus purer Infantilität!

Das ist subversiv: warum belästigt mich mein Hirn mit so etwas? Sie wixen mir lauter Gemeinheiten in den Lebenslauf, sie verbreiten nur mehr Lügengeschichten. Und ich kann mich nicht wehren. Nicht einmal durch Gedankenattentate. Der Geist brennt vor Wut, aber das Fleisch modert. Statt dass einen die Fliegen liebkosen, in aller gebotenen, surrend-süßen Stille, wird man mit Furzgeschichten zugemüllt.

Definitiv: tot sein hab ich mir ernsthafter vorgestellt. Nicht: große Oper als Nachspiel! Den Bestattern werde ich was erzählen, meine Herren!!! Ich war einmal bei einer Bestattermesse, aus reiner Neugier. Das stimmt doch? Wahrscheinlich hat die Melissa recht: die Kuzmany hat was mit der Dagmar. Rekapituliere: der linke Fuß heißt Dagmar, der rechte Tamara. Tamara? Die vom Testament? Keine Ahnung. Vergiss es. Vergess ich. Wie soll man jemanden vergessen, den man wahrscheinlich nicht gekannt hat. Die geht dich nichts an! Die geht mich nichts an! Und der dritte Fuß heißt Betty … deine dich liebende Betty. Die Widmung in den „Liebesgedichten“. Geht dich auch nichts an. Geht mich auch nichts an. Frau Dr. Taschner, säbeln Sie mir endlich mit der Nagelfeile die Nervenstränge durch. Bitte vielmals! Und dann nähen Sie mir die Kabel nach Lust und Laune neu zusammen. Aber dalli!

„Na endlich!“

„Wir sind für die Unendlichkeit zuständig, Gnädigste!“

„Sehr witzig. Er liegt da drüben. Unter den Büchern.“

„Wahnsinn, so viele Bücher! Ob er die alle gelesen hat? Was meint du, Gerd?“

„Um das Geld hätte er jeden Sommer drei Wochen nach Umag fahren können, Camping de luxe!“

„Frau Chefin, können wir?“

„Ich heiße Kuzmany, Inspektor Kuzmany. Wir können.“

„Die Bücher? Ich meine, sollen wir die irgendwo aufstapeln oder können wir sie einfach in die Ecke werfen. Wir müssen ihn ja erst freischaufeln, den … wie hieß er?“

Ich heiße Klinger. Martin Klinger. Immer noch. Auch Leichen tragen Namen. Meistens. Manche heißen auch Anonymus, aber das sind die, die nach Jahren ans Flussufer geschwemmt werden. Anonymus. Oder „Unbek. männl. Leiche“. So einer bin ich nicht. Ich habe ein Namensschild an der Tür. Oder? Ihr habt wenigstens eine Krawatte umgebunden. Das ist schon viel in dieser rohen Welt, Burschen. Stapelt die Bücher nach dem Autoren-Alphabet. Also von Artaud bis Zweig … oder nach Fachgebieten: Belletristik, Salisburgensien, Musik, Kunst, die Bücher über das Sterben und den Tod. Die Bücher von meinem Vorgänger auf einen anderen Stapel. Meine eigenen Bücher legt ihr mir auf die Brust. Martin Klinger, „Unter Strom“ und „Der Büchernarr“. Das dritte fällt mir nicht ein. Danke, Männer.

„In die Ecke! Hauptsache die Leiche kommt endlich weg.“

„Klar, Chefin.“

„Könnten Sie das Radio ausschalten?“

„Das ist kein Radio. Das kommt von oben. Ein Gesangslehrer mit seiner Schülerin.“

„Ätzend!“

„Wartet noch einen Augenblick. Ich muss rasch … Melissa, pass auf … ja, noch immer von oben. Nein, ich bin nicht bei der Dagmar. Wie oft soll ich noch schwören … Drohst du schon wieder? Aha. Na, dann spring halt! Nein, Liebes, war nur … Moment … “

„Tschuldigung, Herr Gerd, könnten Sie der Dame erklären, dass der Gesang aus der Wohnung im oberen Stock kommt?“

„Ich? Warum?“

„Einfach so, bitte!“

„Hallo … ich bin von der Bestattung … wir holen grad die Leiche ab … nein … das Gewinsel kommt von oben. Mir geht das auch auf die Eier! Aber wir sind ja gleich weg … mein Kollege und ich und der Tote. Nein, sonst ist niemand da. Wollen Sie die Frau Inspektor … aufgelegt.“

„Danke. Sie haben vielleicht ein Leben gerettet.“

„Hier ist ja nichts mehr zu retten. Christoph, komm, wir packen’s an!“

„Gleich, nur noch die halbe Seite.“

„Ich glaub, du spinnst! Du kannst doch nicht einfach zu lesen anfangen. Es ist höchste Zeit!“

„Weißt du, was ein ‚Leberreim’ ist?“

„Komm, pack endlich an. Du die Arme, ich die Beine!“

„Ein ‚Leberreim’. Da steht: das ist ‚eine Art der Scherzgedichte, welche ehedem bey feyerlichen Mahlzeiten sehr üblich waren, und welche bey Gelegenheit der Hechtleber auf die jedesmahligen Umstände gemacht wurden … ’ - bey und feyerlich mit Ypsilon. Interessant, was? Das heißt also, wer beim Speisen die Hechtleber serviert bekam, musste einen Trinkspruch dichten. Und der musste immer so beginnen: ‚Die Leber ist von einem Hecht und nicht von einem … ’ dann musste man, steht da drinnen, ein anderes Thier nennen, Thier mit ‚th’, und einen Reim drauf finden. Zum Beispiel, ich probier’s einfach: ‚Die Leber ist von einem Hecht und nicht von einem Schwein … sonst wäre sie nicht echt und … würd’ viel fetter sein.’ Oder, warte …: die Leber ist von einem … “

„Das sag ich aber in der Firma!“

„Was?“

„Dass du verrückt geworden bist. Leg das Buch zurück! Und gehen wir an die Arbeit. Pietät, Herr Kollege!“

„’Kleines Lexikon untergegangener Wörter’. Witzig. Sowas hat der gesammelt. Finde ich cool. Ich nehm’s mit. Darf ich doch, Frau Inspektor, oder?“

„Mir egal. Vor allem nehmt den da endlich mit!“

Der da bin ich da; ich bin der Dichter. Ihr miesen Gesichter! Und jetzt kalinichta! Ich hab einmal was ganz Blödes über das Wort „kalinichta“ geschrieben. Das war blöd und gespenstisch gut zugleich. Preiswürdig? Oder war das „kalimera“? Spielt das eine Rolle? Das war irgendein Schabernack. Schabaduuu, schabadiiii. Doris Day. Oder ist das aus dem Verdi-Requiem? Blunzen! Die Leber ist von einem Hecht und nicht von einem Gott. Sonst wäre mir jetzt ziemlich schlecht – und just vor dem Kompott! Die Leber ist von einem Hecht und nicht von einem Eber. Und wenn ihr mir ins Herze stecht, erwischt ihr meine Leber. Die Leber ist von einem Hecht und nicht von einem Biber. Und wenn ihr das Genick mir brecht, hab ich euch noch viel lieber. Die Leber ist von einem Hecht und nicht von einem Engel. Und wer am Schluss die Zeche blecht, der ist … der wird 

„Weißt du was ein Afterkind ist?“

„Du die Arme, ich die Beine! Und zwar jetzt!!!“

„Hallo, darf man reinkommen?“

„Mein Gott, der liebe Herr Martin!“

„Wir haben den Leichenwagen gesehen.“

„Inspektor Kuzmany. Und wer sind Sie?“

„Ich heiße Gertraud Stroh. Und das ist der Herr Renner. Wir wohnen da drüben, in der Seniorenresidenz.“

„Er war ein sehr, sehr lieber Mensch. Er hat uns einmal das Leben gerettet.“

Ich? Weiß ich gar nicht. Wahrscheinlich eine Verwechslung. Ich brauche jetzt keine Lebensrettermedaille mehr. Die Dr. Taschner stopft sie mir bloß in die Gedärme, das ist eine neckische Randnotiz, sonst nichts. Ich kenn euch nicht, ihr alten Gespenster! Seid ihr Philemon und Baucis? Oder bist du der Liebe Gott und das ist deine Pfarrersköchin? Ich hab Ehrfurcht vor schneeweißen Haaren. Vor den Falten von Sorgen und Leid. Camillo Felgen. Warum entleert sich die Hirnröhre nicht andersrum: zuerst der Schrott von früher, dann die Diamanten von heute? Lieber Gott, ich hätte da einen kleinen Fragenkatalog.

„Das Leben gerettet? Er?!“

„Nicht persönlich. Durch ein Gedicht.“

„Ja, der liebe Herr Renner war so depressiv damals. Er wollte sich aus dem Fenster stürzen.“

„Ich bin schon ein paar Mal am Fenster gestanden. Am offenen Fenster.“

„Ich hab gesagt, gefleht: Herr Renner, tun Sie das nicht! Auch wenn Sie Leberkrebs haben. Ich hab auch ein Mammakarzinom. Aber wir leben noch. Und vielleicht nimmt alles eine glückliche Wendung.“

„Ich hab an nichts mehr geglaubt, verstehen Sie? Die Herren Bestatter sind ja noch zu jung für solche Gedanken. Aber ich wollte einfach nicht mehr. Ich wollte nicht in die Pflegestation und dann ins Gitterbett.“

„Und ich konnte ihm nicht helfen.“

„Sie hat sich sehr bemüht, die liebe Gertraud. Aber es half nichts. Ich wollte allem ein Ende bereiten.“

„Und ich war fast schon so weit, mit ihm zu gehen.“

„Wissen Sie, wir haben beide keine Familien mehr, zumindest nichts, was sich als Familie bezeichnen ließe. Kinder, ja, irgendwo. Ach, Schwamm drüber.“

„Dann las ich auf dem Schwarzen Brett im Foyer, dass am Nachmittag ein gewisser Herr Martin Klinger bei uns in der Seniorenresidenz lesen würde. ‚Allerlei – Gedichte und Geschichten quer durch die Zeiten.’ Ich hab den lieben Josef, den Herrn Renner, förmlich zwingen müssen, hinzugehen. Und wir sind hingegangen.“

„Gott sei Dank. Das hat uns das Leben gerettet.“

„Er hat uns zum Lachen gebracht. Verstehen Sie? Endlich wieder lachen! Nach diesen Monaten der Verzweiflung.“

„Wissen Sie, er hat so lustige Gedichte geschrieben … “

 … Sprachspielereien … zum Beispiel mit dem Wort ‚Souflaki’! Das war so witzig!“

„Wir sind in unsere Zimmer gegangen, damals hatten wir noch getrennte Zimmer, und haben weiter gelacht. Und waren gerettet. Er hat uns ins Leben zurückgeführt!“

„Ein paar Tage später haben wir ihn hier vor diesem Haus getroffen. Wir machten unseren Spaziergang, er kam gerade aus der Türe. Wir haben ihn gleich erkannt und uns bei ihm bedankt. Stimmt’s, Gertraud?“

„Stimmt, Josef. Wir haben ein bisschen geplaudert und ihn zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Für den Sonntagnachmittag, 15 Uhr.“

„Er ist auch wirklich gekommen, zu unserer Freude, und hat uns noch ein paar Gedichte vorgelesen. Nur uns beiden. Das war sehr beglückend.“

„Herzlichen Dank, lieber Herr Martin! Schön, dass es Sie gegeben hat. Sie waren unser Engel in der Finsternis. Wir werden Sie nie vergessen.“

Souflaki? Ein Wortspiel? Könnt ihr zwei mir das bitte aufsagen, jetzt, jetzt sofort, statt einem katholischen Schlussgewinsel … oder noch besser: bei meinem Begräbnis! Hört ihr? Das Souflaki-Gedicht. Das ist ein Befehl! Mir fällt’s nicht mehr ein. Camillo Felgen fällt mir ein. Aber mein Souflaki-Gedicht, mit dem ich zwei Menschen vom Selbstmord abgehalten habe, das nicht. Also: „Heile, heile, Gänsje.“ Dann spricht der Wolf, dann noch einmal „Heile, heile, Gänsje“. Dann spricht die Frau Annemarie oder die Jovanka. Gang zum Grab, natürlich zu „Heile, heile Gänsje“. Und dann am offenen Grab, bevor ich zur Mutter gebettet werde, mein „Souflaki“-Gedicht, gelesen, nein: vorgetragen von Philemon und Baucis aus der Seniorenresidenz. Runterlassen. Erde drauf. „Heile, heile, Gänsje“. Das war’s dann. Das Fressmahl in der „Hölle“ geht auf Kosten meiner mir so gut wie unbekannten Halbschwester Veronika Klinger.

„Er hat nie wieder gelesen in unserer Seniorenresidenz. Leider. Nur dieses eine Mal. Und an jenem Sonntagnachmittag für uns alleine. Wir sind uns das eine oder andere Mal auf der Straße begegnet. Aber gelesen hat er nicht mehr. Freundlich gegrüßt, aber nicht gelesen. Wahrscheinlich hat ihm die alte Hexe, ich meine: unsere Veranstaltungsdirektorin, zu wenig bezahlt!“

„Die anderen haben das nicht kapiert. Wissen Sie, junge Frau, es gibt solche Alte und es gibt solche. Wir gehören zur Minderheit.“

„Da hat er recht, der Josef. Die meisten sitzen ja schon zu Mittag vor der Glotze und schauen sich Kochsendungen und Gerichtsshows an. Krimis. Und bleiben sitzen bis in die Puppen! Null Interesse an den schönen Dingen.“

„Man kann das Gedicht nicht verstehen, wenn man nicht weiß, was Souflaki sind!“

„Obwohl es in dem Gedicht gar nicht um Souflaki geht sondern um das Wort Souflaki, verstehen Sie? Um den Klang. Souflaki. Es war zu köstlich!“

„Es wird Zeit, Gertraud, das Abendmahl.“

„Du hast recht, Josef. Adieu, lieber Herr Martin!“

„Und tausend, tausend Dank!“

„Wann ist die Beerdigung, werte Herren?“

„Keine Ahnung. Er wird erst einmal obduziert. Der Termin wird ja wohl demnächst in der Zeitung stehen. Oder rufen Sie einfach im Büro an, Städtische Bestattung.“

„Wissen Sie schon, wer ihn umgebracht hat? Und vor allem, warum?“

„Wieso umgebracht, Frau Gertraud?“

„Was denn sonst?“

„Das sieht ja ein Blinder. Dem hat jemand mit einem schweren Gegenstand ins Genick geschlagen. Und jetzt entschuldigen Sie uns.“

„Moment! Haben Sie einen Verdacht, Herr Renner? Wer könnte den Herrn Martin ermordet haben?“

„Da müssen sie schon die anderen Heimbewohner fragen. Die kennen sich aus mit Kriminalgeschichten. Das tägliche Glotzen. Auf Wiedersehen.“

„Das sollte man nie zur Bestattung sagen!“

„Ach, der Herr Neunmalklug! Wissen Sie überhaupt, was Souflaki sind?“

„Weiß ich, Herr Josef, ess ich jedesmal beim Griechen in der Riedenburg … wissen Sie, was ein Leberreim ist?“

„Wie geschmacklos, junger Mann! Schämen Sie sich!“

„Hab ich was falsch gemacht, Gerd?“

„Leberreim! Idiot! Der Mann hat Leberkrebs und du quasselst was von Leberreim!“

„Oh, das wollte ich nicht. Pardon … oder: Afterkind … sind schon weg.“

„Also: du die Arme, ich die Beine!“

Die Leber ist von einem Hecht und nicht vom Totengräber … sonst … und nicht vom Leiter der Städtischen Bestattung … und wenn ihr … Souflaki, Veronika Klinger. Nicht nach Belieben, sondern Souflaki, ausnahmslos. Wenn die in der „Hölle“ sowas nicht zubereiten können, dann geht ihr einfach zum Griechen in der Riedenburg. Souflaki. Aber ihr könnt ja auch hundsordinäre Frankfurter Würstel essen und behaupten, das sind Souflaki. Es geht ja nur um das Wort. Um den Wortklang. Souflaki. Ich, Engel, habe, Menschen das Leben gerettet. Mit einem einzigen Wort. Sprich nur ein Wort und meine Seele wird gesund. Souflaki. Das muss erst einmal einer zusammenbringen! Das rührt mich posthum sehr. Nur so eine Frage: Lieg ich jetzt schon in der Kiste? Ich hab nichts gespürt. Du denkst an das Wort Souflaki und dass du in Wirklichkeit ein Lebensretter warst – und schon liegst du in der Kiste. Möglicherweise. Was jetzt? Murmeln die Herren Bestatter so etwas wie ein Gebet?

Warum murmelst du nicht mit, Kuzmany? Bist du eine lesbische Freidenkerin? Mach doch, was du willst! Gebets-murmeln braucht es nicht. Ich bin nicht rasend katholisch, mir kommt kein Pfarrer an den Leichnam! Der Kuno, der Kuttenbrunzer von nebenan, hat mich genug genervt! Weihwasser statt Feuerlöscher! Wir sind doch keine Kathedrale, wir sind ein Haus für Beklopfte. Wir klopfen uns nicht an die Brust. Nur der Kuno. Der frisst ja schon zum Frühstück Heiligenbildchen!

Der Wolf und die Annemarie sind mir ums Arschlecken lieber als das schwarze Personal. Auch wenn sie Verräter sind, letztendlich. Und Philemon und Baucis. Schneien mir in mein Leben kurz nach meinem Tod! Bringen mich zum Lächeln. Sieht man das? Nein, das ist dieser elende Totengrinser. Er lächelt im Tod. Ja, Pustekuchen! Die Muskeln verziehen sich. Jeder ernst zu nehmende Mensch wird am Totenbett zu einer lächelnden, lächerlich lächelnden Juxfigur. Das ist die Wahrheit, finalmento!

Junger Mann, reden Sie gefälligst lauter! Ja, die alten Deppen! Stecken sich aus grotesker Eitelkeit ihren Hörapparat nicht in die Ohren und kommandieren nette Dichter, die aus reiner Höflichkeit im Altersheim „Allerlei, heiter und besinnlich“, lesen, wie kleine Hundsviecher herum! Erstens bin ich kein junger Mann! Und zweitens lass ich mir von euch nicht Knochen zwischen die Beine werfen! Und drittens: steckt euch gefälligst die Lautsprecher in die Muscheln! Und viertens: Souflaki!

Nie wieder, nie wieder! Wenigstens die Gertraud und der Josef! Die einen zischen einen aus und kriegen nichts in ihre toupierten Schädel. Gehen dumpf wie sie gekommen sind zurück zur Frau Fernsehrichterin und den Fernsehköchen, die Nichtigkeiten reden, Nichtigkeiten sieden und rösten, die diesen alten Jammergestalten sofort den Tod bescheren würden. Aber blöd reden: Junger Mann, lauter! Gefälligst! Diese bösartigen Rituale am Schluss. Das ist die Mehrheit.

Die Minderheit, also Philemon und Baucis, hört ein Gedicht, lacht und springt nicht aus dem Fenster. So weit ist Gottes Welt, so atemberaubend weit. Trallala. Im Frühtau zu Berge, im Spättau vertrocknen, fallera, bumms fallera, fidibumms fallera. Sprich nur ein Wörterl. Ein einziges Wörterl! Und im Ort ist Fleisch verdorben, aber das sind wir unter uns gewohnt. Basta. So sei es. Souflaki! Macht endlich den Deckel zu. Ich will es stockfinster haben, wenn das gleißende Licht über mich herfällt.

„Kuzmany? Melissa! Ja, jetzt tragen sie ihn endlich raus … ich freue mich auch. Muss nur noch die Wohnungstür versiegeln. Dann bin ich auch schon bei dir … hast du den Wein aufgemacht, Schatz? … Gut, bis gleich!“

„Sollen wir sonst was mitnehmen, Frau Inspektor? Anzug, Unterwäsche, irgendwelche Sargbeigaben?“

„Da soll sich die Schwester von ihm drum kümmern. Tragt ihn raus. Ich mach den Laden dicht.“

„Sie sind der Chef, Frau Chefin.“

„Kuzmany? … Ach das liebe Büro. Kollege, was gibt’s? Tut mir leid, der Chef ermittelt, undercover. Da hat er sicher sein Handy ausgeschaltet. … Ich? Ich sperre grad die Wohnung zu. Also, was gibt’s? … Neues vom Labor, wegen dem Kuvert? Schieß los. Kannst du mir das nicht am Telefon sagen? … Was ist jetzt im Kuvert? Kokain, oder? … Habt ihr was gegen mich? Ich will Feierabend machen! Da verbringt man den ganzen lieben Tag mit einer Leiche und dann … ist das jetzt Koks, ja oder nein? … Sturer Hund! Okay, okay, ist ja schon gut. Ja, bis gleich.“

Ooooh! Das wird jetzt eine doppelte Hitze … Hochzeit, Heimkehr? Jetzt spinnt das Hirn wieder. Ich hab schon geglaubt, ich hätte es überlistet. Doppelte was? Hetze? Herz? Hetz’? Wurscht. Was sagst du deiner Braut, Kuzmany? Die Wahrheit? Die glaubt sie dir sowieso nicht. Es wird nirgendwo soviel gelogen wie am Friedhof und … im Freibad? Bei Feiern, unter Freiern, Freizeit, Freiherrn? Die Leber ist von einem Hecht und nicht von einer Hechtin … was ist ein Afterkind? Blackout. Bestatter, sag mir die Lösung. Ich will nicht mit einem Rätselwort vor meinen Töpfer treten. Lehm zu Lehm, Bruchglas zu Bruchglas. Kuzmany, such dir eine neue Kumpanin. Die alte bricht dir noch das Herz.

Die zweite Hetz’: Wenn die im Büro der Kuzmany verkünden, was im K-Kuvert drin ist!!! Die wird sich in den Hintern beißen, die Kuzmany. So, jetzt geht’s dahin. He, Männer, die Einweghandschuhe passen nicht zu den Krawatten, pfui, schämt euch! Also, letzte Worte, posthum, zum Mitschreiben: Pfiat di, Zimmer! Das ist nicht von mir, Gott sei Dank. Souflaki!!! Lasst mich nicht fallen, sonst fall ich ins Uferlose und breche mir das Genick!

Lieg ich immer noch am Ort des Geschehens, während ich gleichzeitig in der Kiste treppab getragen werde? Spaßig wär’s jedenfalls!

„Professore, hast du gelesen?“

„Wolf, du schon wieder! Wo ist deine neue Braut?“

„Ist doch lieber heimgefahren. Vergiss sie. Lies!“

„Steht was drin über mein Buch … “

„Lies!“

„Okay. Ach so! ‚Ein kurioser Todesfall hat sich heute Früh im Andräviertel ereignet. Ein Mann, 61, wurde in seiner Wohnung von Dutzenden Büchern erschlagen, nachdem eine riesige Regalwand umgestürzt war. Todesursache: Genickbruch. Die Polizei schließt Fremdverschulden bzw. eine bizarre Form der Selbsttötung, möglicherweise in Verbindung mit sexuellen Handlungen nicht aus. In der Wohnung des Toten wurde ein Kuvert mit Heroin gefunden.’ Das Foto ist wirklich geil. Bücher, Bücher und die Haxen vom Martin, die dazwischen rausschauen. Dass die den Namen nicht erwähnt haben? – Herr Kurt, noch ein Glas Hauswein, bitte!“

„Für mich auch!“

„Gibt’s was Neues, Freunde?“

„Das da, Frank! Lies!“

„Bizarr. Mit 61 noch auf Drogen, da hat er schlechte Therapeuten gehabt. Weiß man, wer das ist?“

„Martin Klinger. Und im Kuvert war Koks!“

„Was, der Klinger? Von dem hätt ich mir das nicht gedacht! Der war doch viel zu harmlos für so etwas. Er hat mir einmal ein Buch geschenkt. Das war richtig lieb irgendwie. Nichts Bedeutendes. Ich hab es meiner Mutter gegeben, die hat sich gefreut. Er hat immer auf den Durchbruch gewartet. Genickbruch ist eine enttäuschende Alternative. Habt ihr das gewusst vom Koks und seiner abartigen Veranlagung?“

„Aber was! Natürlich nicht.“

„Harmloser und unauffälliger als der Martin kann man gar nicht sein. Ich hab mir eher gedacht, der wird einmal nach dem dritten Glas Wein da drüben an seinem Stammtisch friedlich einschlafen. Und aus.“

„Irgendwer hat mir erzählt, dass er auf eine Spenderleber gewartet hat.“

„Auch möglich. Trinken wir noch eines auf unseren Freund Martin Klinger?“

„Aber sicher! Herr Kurt, noch eine Runde!“

Erkenntnis: Man geht also in Fransen, man franst sich auf. Ich bin schon in dreifacher Ausfertigung unterwegs: in der Kiste, am Tatort, im Café. Switchen. Schwitzen. Wieso schwitzen die Träger? Ich habe mein Idealgewicht: 80 Kilo auf 1’80 Größe. Wobei man ca. 21 oder 22 Gramm für die Seele abziehen muss; die ist dem Leichnam ja bereits bei Eintritt des Todes entwi-chen. Ist das jetzt so eine Art schwerathletische Übung? Olympiareif? Stemmen, Drücken, Reißen, Sargtragen? Ich hab einmal von der Disziplin „Sargwerfen samt Inhalt“ gehört, bin mir aber nicht ganz sicher, ob das in einem schwarzen Witz vorgekommen ist oder im Kinderprogramm bei der Bestatter-messe in St. Pölten.

Vielleicht ist mir das auch grad eingefallen. Was fällt dir ein?! Was fällt einem alles ein, so allein in seinem Totenzimmer! Naja, ich hab schon mehr gelaicht, gelocht. Irgend sowas.

Ich könnte jetzt Bücher lesen, die nicht mir gehören. Wieso hab ich die Arme über Kreuz in der Kiste? Habt ihr das gemacht, Bestatterburschen? Bringt das was für später oder ist das einfach eine logistische Angelegenheit. Eine Platz sparende Maßnahme? Jetzt sind wir immer noch im Treppenhaus. Kriegt ihr Zeitlupenzuschuss? Ich lieg in der Kiste wie ein Fußball-spieler, der in einer Abwehrmauer stehend seine Eier schützt vor dem Freistoßball. Das Wort Kiste bringt nicht viel im Moment.

Das mit der Spenderleber ist die größte Gemeinheit, die ich je gehört habe. Die Spenderleber ist von einem Hecht und nicht für mich bestimmt. Ich hab weiß Gott gesüchtelt, night and day, solang ich denken und mich in den Arsch beißen kann. Aber das Bilirubin in meinem Blut kann ich jedem Waisenheim vererben. Und keiner wird daran sterben, so wahr mir Gott helfe. Diese Scheiße in der Zeitung! Zum Glück steht mein Name nicht dabei. Meine Beine gefallen mir selber. Deine Beine sind wie von einem Reh, hast du gesagt, Fabian. Aber ich hab dir nicht weiterhelfen können. Die Beine sind von einem Reh und nicht von einem Feuersalamander 

Sauft euch an, Kollegen, und verschüttet mir ja keine Tränen. Der Teufel soll euch holen! Kann ein Toter eine Entgegnung verlangen? Und wie stellt er das an? In welches Hirn und in welchen Schreibfinger muss man sich einklinken? Der hat sich nicht getötet, verstanden? Und schon gar nicht in Verbindung mit sexuellen Handlungen! Wolf, Wolf, Wolf, stell das bitte klar. Ich setz mich mit meinem Arsch in dein Gesicht und furz dir die Wahrheit in die Ganglien. Könnte ich nur mehr in der Kiste furzen oder auch astralleiblich? Schafskopf! Bitte, Wolf, rette meinen Ruf!!! Ich war vielleicht nicht das größte Ass auf Erden, nicht der größte Schriftsteller, nicht der tollste Liebhaber etc. pp. Aber ich hab nach keiner fremden Leber getrachtet, ich hab nicht gekokst, und abartige sexuelle Handlungen kenne ich nur aus den Büchern anderer.

Zur Seite, Herrschaften! Kein Auflauf auf dem Trottoir! Machen Sie Platz! Das bin nur ich, der ins Exil getragen wird. Habt ihr noch nie zwei schwitzende Totenträger und eine Transportkiste für Überreste gesehen? Weg da! Oder applaudiert wenigstens! Darf ein Leichenwagen im Halteverbot stehen?

Okay, jetzt verrate ich das K-Geheimnis. Ihr werdet enttäuscht sein. Hört mir überhaupt jemand zu? Mir doch egal, mich geht das alles nichts mehr an. Da soll sich die Kuzmany einen Zahn ausbeißen dran. Und diese Schnepfe Klinger, Vaters zweiter Wurf. Also: K heißt nie im Leben Koks. Das K auf dem Kuvert heißt … Aufpassen! Jetzt hätten mich die Idioten fast in den Gully gekippt! Ja seid ihr noch bei Trost? Das gibt eine Aufsichtsbeschwerde. Da schreib ich glatt einen Leserbrief. „So wird heutzutage mit unseren lieben Leichen umgegangen!“ Türe zu und Abfahrt!

„Ist das euer Ernst?“

„Unser voller Ernst, Frau Inspektor!“

„Kein Koks sondern … “

„Feiner weißer Sand, Kuzmany.“

„Und das K?“

„Keine Ahnung. Ist auch nicht wichtig.“

„Alles ist wichtig.“

„Das müsst ihr morgen richtigstellen, Frau Inspektor!“