Nimm die 10.000 Euro, Jovanka, und kauf dir was Schönes. Schuhe. Du bist doch so auf Schuhe aus! Da kriegst du eine ganze Menge dafür. Oder schenk deiner Familie was, deinen Enkelkindern. Kommt die Große heuer in die Schule? Kannst du nicht Gedanken lesen? Gibt es jemanden, der die Gedanken eines Toten lesen kann? Sicher, aber nicht hier, nicht in dieser stocknüchternen Stadt. Der Letzte, vielleicht, wäre Paracelsus gewesen. Was einem alles durch den Kopf geht, wenn man tot ist! Nimm das Geld und geh einfach. Niemand kann dich zwingen hier zu bleiben. Niemand. Schon gar nicht ein Notfallsarzt, der sich nur mit Besoffenen auskennt, und ein Sanitätshilfsdiener mit Akne im Gesicht. Und so einer küsst mich auf die Lippen und drückt mir die Augen zu. Auch egal, ich hab’s überlebt. Nimm das Geld und geh! Nimm es, Jovanka, bevor es wer anderer nimmt. Draußen in der Schreibtischlade unter den Dokumenten. Nimm es dir, bevor die Polizei kommt. Und hau ab!
„Von den Büchern erschlagen. Irre.“
„Wer? Mit wem hast du telefoniert?“
„Martin. Martin Klinger. Telefoniert hab ich mit der Jovanka. Der ist tot, verstehst du, Jürgen?“
„Der gute alte Martin Klinger. Ich hab ihn ein einziges Mal gesehen, glaub ich, in der Secco-Bar. Das war doch Martin Klinger, oder?“
„Das war er. Und jetzt ist er tot.“
„Du hast gesagt, ich erinnere mich genau, ein alter Freund. Nein, ein guter alter Freund. Grad aus Berlin zurück. Und er hat dich angeschaut, dass ich ihm am liebsten eine geknallt hätte. Das ist meine Frau, verstehst du?!“
Hättest du probieren sollen, Schweinskopf. Das wär dir nicht gut bekommen. Warst du damals auch schon so fett. Und du, Sonja, was machst du mit so einem? Wieso lässt du den bei dir einziehen? Das ist ja deine Wohnung. Da hab ich gelebt damals. Die Möbel, hat er die angeschleppt? Wir haben auf Matratzen geschlafen und sind auf Polstern gesessen. Magst du diesen gelackten Schnickschnack? Komisch, das funktioniert auch. Ich liege unter einem Haufen Büchern, mit geschlossenen Augen, tot, und könnte dir durchs Haar fahren, fünf Kilometer entfernt. Ich fahr dir durchs Haar, Achtung, jetzt! Ach, Sonja!
„Wie lang seid ihr zusammengewesen, Martin und du?“
„Wie lang, ein paar Monate.“
Entschuldige bitte, Sonja. Eineinhalb Jahre waren das. Von September 71 bis März 73.
„Er war ein Spinner. Flausen im Kopf. Tausend Ideen. Wäre gern ein Popsänger geworden oder Nobelpreisträger.“ Sonja, Baby, mit 21 muss man Popsänger werden. Oder Nobelpreisträger. Sonst hat doch alles keinen Sinn. Weißt du noch, wie gut ich Cat Stevens gesungen habe? „Oh Baby, Baby, it’s a wild world … “ Du hast bei einer Bank gearbeitet, und ich wollte dich da rausholen, als Popsänger oder Nobelpreisträger. Oder als Dichter. Einfach raus. Raus aus dieser öden, schnöden Welt. Hinein in die wilde. Es gibt Millionen Möglichkeiten, seine Liebste aus der Bank zu befreien. So eine Art Bankraub. Ich als Bankräuber. Ich raube der Bank die Hübscheste aller Schalterbeamtinnen. Und dann hauen wir ab mit Nichts im Gepäck und bleiben erst stehen, wenn wir die mexikanische Grenze überschritten haben. Hast du das alles vergessen?
„War er gut im Bett?“
„Warum fragst du?“
„Weil es mich interessiert!“
„Ich glaube … ich versuche es mir vorzustellen. Seltsam … “
„War er ein Perverser?“
„Martin? Der doch nicht!“
„Oder so einer für drei Minuten? Und dann ein Glas Milch!“
„Hör auf, Jürgen, Martin ist grad gestorben.“
„Ist auch egal. Jetzt hast du ja mich.“
„Weißt du, das Verrückte ist, dass ich mich nicht erinnern kann. Ich kann mich an kein einziges Mal erinnern.“
„Ihr habt es nicht miteinander getrieben?“
„Doch, sicher. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, verstehst du? Ist ja auch schon so lange her.“
Du kannst dich nicht erinnern? Sagst du das jetzt, damit der Scheißjürgen nicht nachträglich eifersüchtig wird?
„Beim besten Willen, mir fällt nichts ein.“
Okay. Wie wär’s damit. 2. Adventsonntag 72. In dieser Wohnung, drüben auf der Matratze. Du warst so in Fahrt, dass du mit dem Fuß den Adventkranz vom Glastisch gestoßen hast, mitsamt den brennenden Kerzen. Und dann hat der Teppich geglüht. Wir haben zwei Flaschen Sekt auf die Flammen geschüttet, während wir weitergevögelt haben. Und weil das verdammte Feuer noch immer nicht aus gewesen ist, hast du deinen Lieblingsmorgenmantel draufgeworfen, den indischen, während wir weitergevögelt haben. Und du erinnerst dich an nichts?!
„Völlig weg, keine Bilder, keine Filme im Kopf. Es war mehr eine Freundschaft als eine Liebe, verstehst du?“
„Empfindest du noch Gefühle für ihn?“
„Ich hätte ihm einen schöneren Abgang gewünscht. Und mehr Erfolg im Leben.“
Ich hatte Erfolg im Leben. Davon weißt du natürlich auch nichts. In Berlin war ich gut im Geschäft. Hab dir einmal geschrieben, aber du hast nicht geantwortet. Und als ich zurückkam, vor fünf Jahren, hast du mir deine Putzfrau vermittelt. Das war alles. Nie Zeit für ein Gespräch. Immer abgeblockt und Ausreden erfunden. Egal, das geht mich nichts mehr an. Es regt mich nur auf. Ich hab dich wirklich gern gehabt. Bis zu meinem Tod.
„Gehst du zu seinem Begräbnis?“
„Keine Ahnung. Weiß ja nicht einmal, wann das ist.“
„Vielleicht kommt noch eine Parte in der Zeitung.“
„Vielleicht.“
Vielleicht. Keine Ahnung, da hab ich keinen Einfluss drauf. Was machst du mit der Kerze, Sonja? Ist ja nicht Advent, nicht einmal Ostern. Ein ganz gewöhnlicher Spätsommertag. Hat dich das aufgegeilt, hast du dich an 72 erinnert? Warum zündest du die Kerze an? Und lass dich jetzt bloß nicht von diesem Fettsack rübertragen ins Schlafzimmer, du! Heute nicht, verstehst du?
„Irgendwo müsste ich noch ein Foto haben.“
Die Kerze ist für mich? Danke. Danke vielmals. Wäre nicht nötig gewesen. Das Foto befindet sich in der grauen Schuhschachtel im Abstellraum, weißes Ikea-Regal, ganz oben. Wieso kenn ich mich so gut aus bei dir? Es ist das Foto, auf dem ich den Kopfstand mache und dabei die Beine verschränkt habe, wie ein Yogi. Und das alles auf den groben Ufersteinen an der Saalach. Erinnerst du dich? Ich hab einen flieder-farbenen Pollunder an und eine altrosa Schnürlsamthose. Obwohl das ein Schwarzweißfoto ist. Das war unsere indische Zeit. Sommer 72. Du suchst im falschen Zimmer, Sonja, Baby. Ist auch egal. Siehst du, wie die Kerze flackert? Ich puste, so fest ich kann!
„Jetzt hat er die Augen wieder offen!“
„Na bitte, Originalzustand.“
„Soll ich noch einmal die Polizei … “
„Wird gleich da sein.“
Der Kuno! Wer hat den reingelassen? Du hast hier nichts verloren, Kuno, hörst du? Geh rüber in deine Bude und lies in der Bibel, aber lass uns in Ruhe. Wir brauchen keinen spirituellen Beistand, wir haben alles im Griff, Jovanka, die Sanitäter und ich.
„Kann ich irgendwie helfen?“
„Wer sind Sie?“
„Kuno Zeller, ein Nachbar. Ich hab den Rettungswagen … mein Gott, ist er tot?“
„Er ist tot.“
„Darf ich ein Gebet sprechen?“
„Sind Sie Priester?“
„Herr, Schöpfer der Welt … “
Ich halt mir die Ohren zu, auch wenn ich mir die Ohren nicht wirklich zuhalten kann. Ich will das nicht hören, nicht jetzt, nicht von dem! Na bitte, funktioniert.
„In Ewigkeit, Amen.“
In Ewigkeit, Amen. Großer Auftritt, gratuliere! Wie damals vor drei Jahren, als du in diesen Wohnblock eingezogen bist. „Ich bin der Kuno“, hast du gesagt und jedem ein Heiligenbildchen in die Hand gedrückt. Keiner von den Hausbewohnern hat dich jemals zu einer Party eingeladen, nicht einmal auf eine Tasse Tee. Du bist uns auf den Keks gegangen, Kuno Zeller, von der ersten Minute an. Und als du im Treppenhaus neben dem Feuerlöscher einen Weihwasserkessel angebracht hast, war der Ofen endgültig aus. Das ist keine Kirche, das ist ein ganz gewöhnlicher Altbau. Neun Parteien, fünf davon ohne Bekenntnis, drei Taufscheinkatholiken und du, Kuno Zeller, wobei ich gar nicht weiß, für welche Glaubensgemeinschaft oder Sekte du dir den Arsch aufreißt. Du hast es uns erklären wollen, immer wieder, hast an unseren Türen geklingelt, uns im Flur abgepasst, aber es hat uns nicht interessiert.
Weihwasserkessel im Altbau! Die Hausverwaltung hat vierzehn Tage Bedenkzeit gebraucht und die Entscheidung der Hausgemeinschaft, also uns, überlassen. Acht zu Eins gegen den Weihwasserkessel. Nicht einmal die Taufscheinkatholiken haben dich unterstützt. Du hast es hingenommen, mit diesem grenzdebilen Erleuchteten-Grinsen, aber uns hast du wenigstens in Ruhe gelassen. Wir sind uns dann kaum mehr über den Weg gelaufen. Deine Gebetsmurmeleien haben mich genervt, wir haben ja Wand an Wand gewohnt. Mein Arbeitszimmer grenzt an dein … was weiß ich … Gebetszimmer, Schlafzimmer. Keine Ahnung. War ja keiner von uns jemals in deiner Wohnung.
Ich hab nichts verstanden, keinen Satz, kein Wort, hab nur dieses Geseiere gehört, durch die Wand, stundenlang, in deiner unangenehm verkratzten Fistelstimme. Man gewöhnt sich an alles, auch in einer so mangelhaft, ja fahrlässig renovierten Altbauwohnung. Meine Bücherregale haben mich geschützt, halbwegs zumindest. Die Bücher, mein Schutz und Schirm gegen deine Litaneien. Jedes Buch, das ich zu den Büchern gestellt habe, hat mich ein bisschen mehr geschützt. Egal, welches Buch, es hat geschützt und abgeschirmt. Man kann sich mit Büchern wehren, gegen Geräusche von außen, gegen Lärm jeder Art.
Nach ein paar Monaten hab ich dich gar nicht mehr wahrgenommen. Vielleicht hast du mit dem Beten aufgehört, vorübergehend. Oder du bist ausgezogen, klammheimlich, in ein Kloster übersiedelt, weiß der Himmel.
Und jetzt bist du zufällig aufgetaucht, weil du grad in der Gegend warst und einen Rettungswagen vor dem Haus stehen gesehen hast. Warum mach ich mir so viele Gedanken deinetwegen. Jovanka, nimm den Besen und jag ihn zum Teufel!