2001
L ange Zeit hatte sich Ole Oevermann geweigert, sich der Liebe vorbehaltlos in die Arme zu werfen. Er war eher der Typ für kurze bis mittelfristig lange Lieben. Schon in jungen Jahren hegte er eine gewisse Grundskepsis gegenüber dauerhaftem Glück. Vielleicht, so hatte er sich stets eingeredet, lag das am frühen Tod seiner Mutter, die 1958, drei Jahre nach Oles Geburt, an plötzlichem Herzstillstand gestorben war. Da Ole mit einem liebenswürdigen Naturell zur Welt gekommen war, gelang es ihm stets, seine Weigerung, sich in Liebesdingen festzulegen, charmant zum Ausdruck zu bringen.
Bereits im Kindergarten, mit fünf Jahren, hatte Ole eine kleine Freundin gehabt. Sie hieß Wiebke, hatte blonde Locken und eine niedliche Zahnlücke zwischen den oberen Schneidezähnen. Bei der knorrigen Kastanie neben dem Sandkasten versprach sie Ole, ihn zu heiraten, wenn sie groß sei. Nach der Einschulung zog Wiebkes Familie von Lübeck nach Berlin. Ole und Wiebke schrieben sich eine Zeit lang Briefe in krakeliger Handschrift, aber irgendwann verlor Ole das Interesse. Er malte ihr ein Bild mit einem bunten Blumenstrauß, dann meldete er sich nicht mehr, und so brach der Kontakt zwischen den beiden ab.
In seinen Teenagerjahren verfiel Ole Fenja, einem hochgewachsenen Mädchen aus der Parallelklasse. Nähergekommen waren sich die beiden, nachdem Ole, der nicht nur ein charmantes, sondern auch ein technikbegabtes Naturell besaß, Fenjas defektem Blaupunkt-Röhrenradio neues Leben eingehaucht hatte. Als Fenja, kurz vor dem Schulabschluss, ihre Zukunftsperspektive mit mindestens drei Kindern beschrieb, erklärte Ole, dass er sie sehr möge, jedoch nicht vorhabe, vor Mitte dreißig Vater zu werden. Fenja würde mit ihm nicht glücklich werden, denn so lange wolle sie bestimmt nicht warten. Die beiden weinten ein bisschen, aber trennten sich in freundschaftlicher Verbundenheit. Wenige Jahre später hatte Fenja nicht nur zwei Töchter bekommen, sondern war auch Kinderbuchautorin geworden. Hasi Hopsis Abenteuer hieß ihr erstes Buch, das auf Anhieb zum Verkaufsschlager wurde und in Reihe ging. Ole hingegen war froh, nicht mit seiner Jugendliebe zusammengeblieben zu sein, denn seine Gefühle der Literatur gegenüber ließen sich als neutral bis unterkühlt beschreiben.
Es war nicht so, dass Ole Oevermann Romane hasste, er mochte sie nur nicht sonderlich. Das einzige Gedruckte, was er gerne las, waren technische Fachbücher und Schaltpläne. Als Sohn eines Elektromeisters war er in seiner Kindheit und Pubertät kaum mit Literatur in Berührung gekommen. Sein Vater, Bernt Oevermann, der allabendlich erschöpft vor dem Fernseher einschlief, hatte seinem Sohn wenig vorgelesen. Sie fachsimpelten lieber über Beleuchtungssysteme, Telefonanlagen und die Stromversorgung von Gebäuden. Nie empfand Ole das Fehlen von Romanen in seinem Leben als Manko.
Er und sein Vater standen sich nah, so nah, wie es Vater und Sohn in den 60er- und 70er-Jahren nur konnten. Nicht nur die Begeisterung für Technik teilten sie, auch die Leidenschaft für Hähnchengerichte und für die Fernsehserie Columbo. Nach seinem Schulabschluss war Ole in die Fußstapfen seines Vaters getreten und in den gemeinsamen Betrieb, Oevermann Elektro- & Gebäudetechnik, eingestiegen. Oles Leben war seitdem in ruhigen Bahnen verlaufen, er war glücklich als Single, traf sich manchmal mit Freunden, ging gerne ins Kino, bis eines Tages die Bücher ein wenig näher an ihn herangerückt waren, und zwar in Gestalt von Ophelia.
Er war zwanzig Jahre alt gewesen, als er und sein Vater den Auftrag erhielten, in der Stadtbibliothek Lübeck neue Lampenkabel zu verlegen. Schon beim ersten Blick auf die junge Bibliothekarin, die ihnen Kaffee und Kekse anbot, war es um Ole geschehen. Ein Jahr später heiratete er Ophelia. Und weitere zwanzig Jahre später hatte Ole Oevermann, der langfristigen Lieben sein Leben lang aus dem Weg gegangen war, seine Ehe keinen Tag bereut.
«Hast du dich wieder weggeträumt?» Ophelia kam in einem roten Kleid ins Wohnzimmer und versuchte zu erkennen, welches Buch auf Oles Schoß lag.
Chronik der Elektrotechnik stand auf dem Einband. Darunter war ein Mann im Blaumann abgebildet, der gerade einen Sicherungskasten installierte.
«Lies doch mal was Richtiges. Wir haben gerade Die dunkle Seite des Mondes von Martin Suter reinbekommen. Vielleicht wäre das etwas für dich.» Ophelia gab Ole einen Kuss.
Er hatte es versucht damals, nach ihrem Kennenlernen, mit Büchern mit belletristisch-technischem Hintergrund. Ich, der Roboter von Isaac Asimov. Der letzte Tag der Schöpfung von Wolfgang Jeschke. Rendezvous mit Rama von Arthur C. Clarke. Doch vergeblich. Die Geschichten waren ihm zu deprimierend gewesen, zu viel Endzeit. Kurzum: Ole hatte keine Freude an der Lektüre gehabt. Den technischen Exkursen, in Prosa gegossen, konnte er nichts abgewinnen. Da war sein eigener Berufsalltag um einiges spannender. Aber er und Ophelia waren darin übereingekommen, dass ihre Liebe zueinander groß genug war, um diese literarische Diskrepanz ausgleichen zu können.
«Du müsstest dich langsam mal umziehen.»
«Entschuldige, meine Liebe. Gib mir zehn Minuten.»
Es schneite. Arm in Arm spazierten Ophelia und Ole über die Drehbrücke. Zarte Flocken segelten auf die Trave. Der Mond stand wie eine Scheibe am Himmel und ließ die Umgebung wie eine Filmkulisse wirken. Als Ole und Ophelia die Engelsgrube erreichten, konnten sie auf der rechten Seite bereits ihr Ziel ausmachen. Das Restaurant Schiffergesellschaft . Hierher hatte Ole Ophelia eine Woche nach ihrer ersten Begegnung in der Bibliothek zum Essen eingeladen. Ein Restaurant aus dem sechzehnten Jahrhundert, in dem sich einst die Lübecker Kaufleute trafen, um Handelsreisen zu organisieren. Lange, massive Holztische, Relikte der Vergangenheit und prachtvolle Wandgemälde zierten den Gastraum. Von der Decke hingen kleine Schiffsmodelle herab, Erinnerungsstücke von Seefahrern aus der ganzen Welt. Und obwohl es in der historischen Halle sehr laut gewesen war und es sehr viel zu bestaunen gab, hatte Ole nur Ophelia bestaunt.
In drei Stunden würde Ophelia einundvierzig werden, was die Oevermanns mit Labskaus, Pannfisch und einer Flasche Sekt feiern wollten. Ole hatte dafür einen Tisch im Kapitäns-Salon reserviert. Dort war es nicht so laut wie in der historischen Halle, was Ole ganz recht war, wollte er doch noch immer hauptsächlich seine Frau bestaunen, und das möglichst ablenkungsfrei.
Mittlerweile waren sie beinahe am Restaurant angekommen. Sie liefen an einem Geldautomaten vorbei.
«Das ist wahrscheinlich das letzte Mal, dass wir mit D-Mark bezahlen werden», sagte Ophelia und legte den Kopf in den Nacken, um Schneeflocken auf ihr Gesicht fallen zu lassen.
«Diese neue Währung, dieser Euro, ich weiß auch nicht, der erinnert mich an Monopoly. Ich finde es schade, dass jetzt in so vielen Ländern das gleiche Geld gibt.»
«Stimmt, wenn du mir in diesem Jahr die lange versprochene Reise nach Paris schenkst, müssen wir kein Geld wechseln.»
Lächelnd wiegte Ole den Kopf hin und her. «Du willst nach Paris? Davon wusste ich ja gar nichts.»
Ophelia lachte, breitete die Arme aus und begann zu tanzen. Sie wurde immer übermütiger.
In diesem Augenblick merkte Ole einmal mehr, wie wichtig seine Frau in seinem Leben war. Er fuhr mit der Hand in die Innentasche seines Sakkos. Seine Finger berührten den Umschlag mit den Flugtickets. Vier Übernachtungen im Marais in einem Hotel direkt an der Place des Vosges, unweit der Seine.
Ophelia lief nun rückwärts und begann zu singen.
Geh Deinen Weg, den man Dir wies
Wenn es Nacht wird, wenn es Nacht wird in Paris
Wenn es Nacht wird, wenn es Nacht wird in Paris
Dreh Dich nicht um nach fremden Schatten
Dreh Dich nicht …
Der Autofahrer war viel zu schnell. Als sich Ophelia umdrehte, war es zu spät und die Nacht für immer in ihr viel zu kurzes Leben gestürzt.