E s hatte fünf Tage lang geschüttet. Die Meteorologen sprachen von einem selten da gewesenen Starkregen der Stufe drei. Der Fährverkehr zwischen Lübeck und der Halbinsel Priwall war eingestellt worden. Jeden Tag gab es Sondersendungen im Lokalfernsehen und im Radio. Stadtweit waren Regenschirme und Gummistiefel Mangelware. Wakenitz und Trave führten beängstigende Pegelstände über Normalhöhennull. Die Morastigkeit des Erdreiches unter dem Holstentor hatte sich erheblich intensiviert. Dabei war das Gebäude innerhalb einer Woche stärker abgesackt als im gesamten letzten Jahr. Die Konturen der Stadt waren unter der Feuchtigkeit verschwommen. Lübecks Bewohner spürten die klamme Witterung bis in die Knochen. Die gesamte Bevölkerung der Hansestadt war vereint in wehklagender Wetterfühligkeit. Gesas und Oles gemeinsame Pläne hingegen hatten sich vom Verschwommenen zum Konkreten gemausert. Ihnen hatte der Regen nichts anhaben können. Im Gegenteil. Sie waren näher zusammengerückt. Mit der Lübeck-Safe-AG war alles abgesprochen. Dr. Penningbüttel hatte Gesa, nachdem ihr Versuch mit der Kaltakquise so kläglich gescheitert war, einen weiteren Aufschub um eine Woche gewährt.
Am Samstag war es schließlich so weit. Am Samstag hatte sogar der Regen ein Einsehen und stellte seine Betriebsamkeit ein.
Ole hatte Wort gehalten. Vor seinem Geschäft hatten er und Gero einen wasserdichten Faltpavillon aufgebaut. Darunter stand ein Gartenmöbelensemble, ein Tisch, zwei Sessel und ein Zweisitzer mit wasserfesten Kissen. An der Rückseite des Pavillons war eine Plane angebracht, welche Gesa die Sicht auf das Schaufenster des Buchladens verstellte. An den beiden Flanken der Konstruktion hingen rote Luftballongirlanden. Dem verrosteten Messingschild mit der Silhouette eines aufgeschlagenen Buches hatte Ole mit zwei Tuben Dr. Best Zahnweiss zu altem Glanz verholfen. Darunter hing eine Tafel, die für das Kombinationsvorteilspaket warb, welches ab heute unter die Lübecker gebracht werden sollte.
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Bis zuletzt hatte zwischen Ole und Gesa Uneinigkeit darüber geherrscht, ob der Bestattungsrabatt zu makaber war, während Gero ein großer Fürsprecher der gemeinsamen Aktion war. Schließlich hatten sie sich darauf geeinigt, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Obgleich die Tafel bereits einwandfrei hing, nestelte Ole weiter daran herum.
«Nice to meet you.»
Ole fuhr herum. Jost Kleve stand vor ihm. Er trug knallgelbe Gummistiefel und hatte eine XXL -Tupperdose in den Händen.
Gesa, die gerade Werbekugelschreiber der Lübeck-Safe-AG in ein Glas stellte und die Faltblätter zu der Buchversicherung Kante auf Kante ausrichtete, lief auf die Männer zu. «Ole Oevermann, Jost Kleve. Jost Kleve, Ole Oevermann.»
Die beiden Männer schüttelten sich die Hand.
«Herr Kleve, ich habe schon viel von Ihnen gehört. Wir haben uns in der Versicherung auch bereits kurz in Augenschein nehmen können. Wie schön, dass Sie es einrichten konnten.» Ole musterte die Tupperdose.
Jost fing seinen Blick auf und öffnete den Deckel. In der Dose lagen Marzipan-Croissants. Es mussten mindestens zwanzig Stück sein.
«Ist das für unsere Kunden?», wollte Gesa wissen.
«Of course, mit Speck fängt man Mäuse.»
«Das ist eine gute Idee, danke dir. Bei der Menge bist du sehr großzügig gewesen.»
Ole klopfte Jost auf die Schulter. «Dankbarkeit und Liebe sind Geschwister. Christian Morgenstern.»
In diesem Moment schlenderte Gero Grambek heran. Er griff in den Jutebeutel, den er über der Schulter trug. «Ich möchte auch etwas beisteuern, um Kunden zu überzeugen.» Gero öffnete seine Hand. Darin lagen Mini-Holzsärge mit einem Schlüsselring und dem Schriftzug von Immobilien unter Tage .
Jost blickte Gero an. «Schon viel von dir gehört. Schön, dich endlich mal live und in Farbe zu sehen.»
«Freut mich auch.»
Jost und Gero gaben sich die Hand.
«Leider kann ich nicht bleiben. Meine Schwester hat Geburtstag», sagte Jost und wandte sich zum Gehen.
Die zehnfachen Glockenschläge der St. Petri Kirche untermalten die Aufregung der Anwesenden akustisch eindrucksvoll.
«Es geht los.» Gesa nahm unter der Plane ihres Außenbüros Platz. Erwartungsvoll blickte sie die Straße hoch und runter.
Eine sehr, sehr lange Weile passierte gar nichts. Endlich, dachte Gesa, als sie ein junges Pärchen heranschlendern sah. Endlich ging es los, endlich kamen die ersten Kunden.
Der Blick des Mannes fiel auf die Tupperdose. «Gibt es hier kostenlose Croissants?»
«Selbstverständlich, bedienen Sie sich», sagte Ole. «Außerdem möchte ich Sie herzlich in meine Buchhandlung einladen. Sehen Sie sich dort um, ich bin sicher, Sie finden etwas, das Ihnen Freude bereitet.»
Der junge Mann legte die Stirn in Falten. «Nee, lassen Sie mal, Bücher sind nicht so unser Ding. Wir sind eher auf Insta und TikTok unterwegs.» Er nahm zwei Croissants aus der Dose, reichte seiner Begleiterin eines davon, bedankte sich freundlich und lief weiter.
Auch als die Kirchenglocken den Anbruch der elften Stunde bekannt gaben, hatte sich noch kein einziger Kunde eingefunden. Gesa und Gero saßen unter dem Pavillon und spielten mit den Kugelschreibern. Ole hatte sich ins Innere seines Geschäfts zurückgezogen. Mit einem Staubwedel bewaffnet, war er seit einer halben Stunde dabei, ein sechzehnbändiges Brockhaus Konversationslexikon aus dem neunzehnten Jahrhundert abzustauben, und wirkte dabei außerordentlich unglücklich.
«Ich denke, wir haben uns da in etwas verrannt», sagte Gesa zu ihrem Bruder und hatte schon Luft geholt, um weiterzusprechen, als ein vielstimmiges Bellen sie stocken ließ.
Eine siebenköpfige Schar Pudel stürmte von der Trave her in ihre Richtung. Die Besitzerinnen hechelten hinterher und kamen erst vor der gigantischen Tupperdose zum Stehen. Offenbar hatten ihre Tiere die Croissants gewittert. Gero legte hastig den Deckel darüber und ging Richtung Bestattungsinstitut.
Eine Frau unschätzbaren Alters grüßte. Gesa erkannte in ihr jene Pudelbesitzerin, deren Hundeleine sie in der letzten Woche zu Fall gebracht hatte.
«Wie schön, dass Sie uns beehren.» Gesa erhob sich.
Ole beendete seine Abstaubarbeiten und stellte sich in den Türrahmen.
Die Frau starrte Gesa an. «Isa Egge mein Name, wir kennen uns, ich meine, wir sind uns schon mal begegnet. Ich möchte mich aufrichtig bei Ihnen entschuldigen für das, was mein King Kong Ihnen angetan hat. Den Sturz, meine ich.»
Der Beschuldigte, ein Königspudel mit Strasshalsband, legte sich zu Füßen seiner Besitzerin und winselte versöhnlich.
«Wir sind durch Zufall hier vorbeigekommen. Ich, das heißt wir, die Lübecker Pudel-Freunde. Was findet denn hier statt?»
Gesa erklärte, welche Bewandtnis es mit dem Kombinationsvorteilspaket im Allgemeinen und ihrer Buchversicherung im Speziellen hatte.
Isa Egge hörte aufmerksam zu, stutzte dann aber. «Eine Frage habe ich dazu. Buchunfälle? Passieren die wirklich? Ich lese ja für mein Leben gern, habe allerdings meine Zweifel, ob man eine solche Versicherung, also diese Zusatzklausel, überhaupt braucht.»
Der Einwand sorgte dafür, dass Gesa geradewegs in ihren Versicherungsmodus geriet. Sie strich ihre Bluse glatt und legte den Kopf ein wenig schief. Fortbildung Körpersprache. Der geneigte Kopf sollte Zugewandtheit und Verletzlichkeit signalisieren. Gesa war selbst erstaunt, wie leicht ihr das fiel. Lag es daran, dass neue Hoffnung in ihr erwacht war?
Es folgte ein versicherungstechnisches Heimspiel. Sicheres Terrain. Jahrelange Erfahrung. «Frau Egge, ich sehe, Sie sind eine Frau, die kritisch nachhakt, die nichts dem Zufall überlässt. Ich sehe das an Ihrer Kleidung, Ihrer Frisur und an der Wahl Ihres Haustiers.»
Die Pudelbesitzerin fuhr erst sich durch die Locken, dann ihrem Pudel.
«Aber das Leben», setzte Gesa nach, «das Leben lässt sich nicht planen. Und glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche. Wir von der Lübeck-Safe-AG können Ihnen diesbezüglich Unterstützung anbieten und den Unwägbarkeiten des Lebens zumindest finanziell ein …»
In diesem Augenblick kehrte Gero zurück. Er hielt sich ein Buch vor das Gesicht und tat, als sei er in die Lektüre vertieft. Als er auf Höhe der Besucher am Pavillon war, stolperte er. Gesa konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Obgleich das Ganze nicht abgesprochen war, ahnte sie, was ihr Bruder mit seinem Auftritt bezweckte. Sie staunte, dass er sich nicht nur für das Theater interessierte, sondern offensichtlich selbst schauspielerisches Talent besaß. Das hatte ihr Bruder bisher noch zu keiner Gelegenheit unter Beweis gestellt. Umständlich erhob er sich, wimmerte leise, rieb seinen Knöchel und humpelte zum Pavillon.
Isa Egge stand mit weit geöffnetem Mund da. «Unglaublich! Unfälle mit Büchern passieren anscheinend doch häufiger als vermutet. Greift die Versicherung der Lübeck-Safe-AG auch in diesem Fall?»
«Und ob.» Gesa nahm ein Formular vom Stapel. «Hier können Sie alles in Ruhe nachlesen. Und wenn Sie Fragen haben, fragen Sie.»
Isa Egge nickte. «Und eine Urne braucht man ja zweifelsfrei einmal im Leben beziehungsweise direkt danach. Ist der Rabatt von 30 % übertragbar auf andere Personen?»
Die sechs restlichen Damen der Lübecker Pudel-Freunde nebst ihren Hunden waren neugierig näher getreten.
«Selbstverständlich.» Gesa legte einen Prospekt mit unterschiedlichen Urnen sowie einen Schlüsselanhänger auf den Versicherungsvertrag.
Ole räusperte sich. «Bevor es hier bürokratisch wird, kommen wir zum wichtigsten Teil, meine Damen, der Literatur. Treten Sie ein, finden Sie Ihr Glück. Etwas über bellende Vierbeiner? Kleines Konversationslexikon für Haushunde von Juli Zeh? Frau mit Hund von Melanie Knies? Ein Hundeleben von Loriot? Timbuktu von Paul Auster?»
«So viele Bücher über Hunde gibt es?», staunte Isa Egge.
«Unendlich viele», erwiderte Ole. «Wie wäre es mit Der Gang vor die Hunde von Erich Kästner? Oder Der Ruf der Wildnis von Jack London? Der Hund der Baskervilles von Arthur Conan Doyle. Die Reise mit Charley von Nobelpreisträger John Steinbeck. In dem Roman geht es tatsächlich um einen Pudel.»
Die Damenrunde war in helle Aufregung geraten. Giggelnd drückten sie Gesa die Hundeleinen in die Hand und betraten mit geröteten Wangen den Buchladen.
Ole stellte sich neben Gesa. Ein vertrautes Gefühl, zusammen mit einem Hauch Wir-sind-am-Ziel-Euphorie, durchströmte sie. Ole gab Gesa einen Kuss auf die Wange, der nahe an ihren Mund geriet, und verschwand.
Gero grinste seine Schwester an. «Ich denke, du hast in deinem hohen Alter noch einmal den Jackpot abgeräumt. Gratuliere. Wenn ich mir eine Sache wünschen dürfte, wären es zwei. Erstens: Darf ich Brautjunge sein? Zweitens: Denkst du, dein Kollege Jost geht mal mit mir ins Theater?»
Gesa reagierte nicht auf die Fragen ihres Bruders. Er hatte recht. Ole war ein Jackpot. Er hatte eine Stelle in ihr berührt, die sie seit Jahren verschüttet, nein, zugemauert glaubte. Aber eine Frage trieb Gesa um. Eine Frage ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Stand wirklich mehr hinter Oles Zugewandtheit als hilfsbereiter Beistand in einer beruflichen Notsituation, oder bildete sie sich das nur ein?
«Jetzt sieh dir das an. Besser kann es nicht laufen.» Gero wies mit dem Finger zur Buchhandlung.
Da die Tür geschlossen und Gesa ausreichend weit entfernt war, spähte sie vorsichtig hinein. Jede der Damen hatte bereits einen enormen Stapel Bücher unter dem Arm. Sie wuselten durch die Regalreihen, sie schwärmten aus, lächelnd, schnatternd, zufrieden. Währenddessen unterhielt sich Isa Egge mit Ole. Der rieb sich das Ohrläppchen und schaute sich suchend um, bis sein Blick an einem Regalbrett unter der Decke, unmittelbar neben den Konversationslexika, hängen blieb. Routiniert griff er nach einem schwarzen Stockschirm, der neben der Tür lehnte. Mit dem c-förmigen Griff angelte Ole nach den gewünschten Büchern. Sie waren hartnäckig. Sie ließen sich nicht aus dem Regal ziehen. Ole angelte und angelte. Dabei schlug er den Öffnungsknopf am Stock unbeabsichtigt fest gegen das Holzbrett. Auf einmal öffnete sich der Schirm wie die Schwingen eines aufgeschreckten Schwarzmilans. Er hatte eine spektakuläre Spannweite, die alle Bücher des Regalbrettes erwischte. Der Schober mit dem sechzehnbändigen Lexikon kam ins Rutschen. Er taumelte, er tänzelte, er wankte. Alsdann glitt ein Klotz von sechzehn Lexika über die Regalklippe, direkt auf Oles Kopf. Schwankend ging der Buchhändler zu Boden und blieb regungslos liegen.
Gesa schrie auf und ließ vor Schreck die Leinen der sieben Hunde los. Gero stürmte in den Laden, wo sich die Pudel-Freundinnen bereits im Halbkreis um den Buchhändler versammelt hatten. Dass sich die sieben Vierbeiner schnurstracks zur Tupperdose begaben, um den Deckel beiseitezuschieben und die restlichen Marzipan-Croissants zu vertilgen, bemerkte Gesa nicht. Auch den neu einsetzenden Regen nicht. Sie bemerkte die zum Strich gepressten Lippen ihres Bruders sowie seine bebende Hand an Oles Halsschlagader. Schließlich schüttelte Gero den Kopf. In seinen außerordentlich blauen Augen standen zitternde Tränen.