2003
«H err Oevermann, heute ist unser letztes Treffen.» Auf Dr. Scheves Schoß lag ein Schreibblock. Sie lächelte. «Wie fühlen Sie sich?»
Ole versuchte, seine Worte mit Bedacht zu wählen. «Leider schlafe ich immer noch sehr schlecht. Ich kann den Tod meiner Frau jedoch langsam akzeptieren, wache nicht mehr jede Nacht auf. Ich glaube nicht mehr jede Nacht, sie wird zurückkommen. Wenn ich mit ihr spreche, geht es mir besser.»
Die Therapeutin nickte. «Phase eins: Nicht-Wahrhaben-Wollen. Phase zwei: aufbrechende Emotionen. Phase drei: suchen und sich trennen. Sie sind auf einem guten Weg. Erstaunlich. Ich hatte bisher keinen Patienten, der das alles in achtzehn Monaten bewältigt hat.»
Ole konnte sich noch gut erinnern, wie er sich gefühlt hatte, als er in den frühen Morgenstunden nach Ophelias Unfall nach Hause gekommen war. Sein Körper hatte so heftig geschmerzt, als hätte ihn das Auto erwischt und nicht seine Frau, als hätte das Ereignis in seinem Inneren einen Kurzschluss ausgelöst und Ole nicht die Kraft, dem einen Widerstand entgegenzusetzen. Doch wie soll man dem Satz: Es tut mir leid, Herr Oevermann, aber sie hat es nicht geschafft auch etwas entgegensetzen? Ein Satz wie ein Peitschenhieb. Er würde ihn nie vergessen.
«Sie sind jetzt achtundvierzig. Ein recht hohes Alter für einen beruflichen Neuanfang», fuhr die Therapeutin fort.
«Da haben Sie recht, allerdings führt kein Weg daran vorbei. Als Elektriker kann ich nicht mehr arbeiten. Mein Vater wird im nächsten Jahr die Firma verkaufen.»
Als Ole fünf Monate nach Ophelias Tod endlich die Kraft gefunden hatte, wieder zu arbeiten, hatte er mehrfach Unheil angerichtet. Zunächst fielen seine Ungeschicklichkeiten nicht weiter auf. Der erste Fehler war privater Natur. Als sein Fernseher den Geist aufgab, untersuchte Ole ihn aufs Gründlichste, fand allerdings keinen technischen Defekt. Da er jedoch auf seine Lieblingssendungen Alfredissimo, Großstadtrevier und die NDR -Talkshow nicht verzichten wollte, kaufte er sich einen neuen Apparat. Am selben Abend stellte sich heraus, dass lediglich die Batterien der Fernbedienung des vermeintlich defekten Geräts leer gewesen waren.
Der zweite Fauxpas geschah in aller Öffentlichkeit. Ole und Bernt Oevermann waren mit der Aufgabe betraut worden, in den Museumsräumen des Holstentors neue Steckdosen zu installieren. Ole verwechselte die Phase mit dem Neutralleiter und bekam einen Schlag, zwar nur einen leichten, der jedoch beruflich, in Bezug auf das Ansehen der Firma, schwer wog.
Der letzte Fehler, den Ole als Elektriker beging, war an lebensgefährlicher Schwere nicht zu überbieten. Ende November 2002 sollten die Oevermanns auf dem Gelände des Lübecker Universitätsklinikums einer stattlichen Nordmanntanne ein funkelndes Weihnachtskleid aus Lichterketten anlegen. Ole reichte das nicht. Er wollte es besonders gut machen. Er legte sich richtig ins Zeug und organisierte zusätzliche Lichter. Der Krankenhausweihnachtsbaum sollte strahlen wie kein zweiter in der ganzen Stadt, er sollte sogar den Rathausweihnachtsbaum in den Schatten stellen. Leider war Vater Bernt am Tag der Installation erkrankt. Ole musste sich allein um den Auftrag kümmern. Wie sich herausstellte, hatte er sich verkalkuliert. Auch im Nachhinein konnte sich Ole nicht erklären, wie das passieren konnte. Offensichtlich hatte er der Steckdose eine zu hohe Wattzahl zugemutet. Eine viel zu hohe. Als Ole den Schalter für die Baumbeleuchtung umlegte, waren für einen Augenblick auf dem gesamten Klinikgelände die Lichter erloschen. Glücklicherweise sprangen die Generatoren an, sodass die Patienten auf der Intensivstation nicht in Gefahr gerieten.
Dennoch war der Vorfall für Ole der Schlusspunkt. Nach über zwanzig Jahren Erfahrung als Elektriker kam er sich vor wie ein Lehrling. Ein Witz aus der Berufsschule ging ihm nicht aus dem Kopf.
Zittert Ihr Lehrling immer so?
Nein, das ist nur eine Phase.
Früher hatte Ole darüber lachen können, nach seinem dritten Fauxpas trieb ihm der Witz die Tränen in die Augen. Er übergab Vater Bernt symbolisch seinen Montagekoffer, die frisch gewaschene blaue Arbeitskleidung legte er beschämt daneben.
«Bereuen Sie es, nicht mehr als Elektriker arbeiten zu können?», erkundigte sich die Therapeutin.
Ole schüttelte den Kopf. «Nein. Aber ich brauche eine neue Aufgabe. Ich muss etwas tun. Leider habe ich nicht die geringste Idee, was das sein könnte.»
Als Ole auf die Königstraße vor dem Therapiezentrum trat, erstarb sein Lächeln. Obwohl es sonst nicht seine Art war, hatte er Dr. Scheve angelogen. Ihm war klar geworden, dass er nach Ophelias Tod nie wieder auf die Beine kommen würde. Auch nicht nach eineinhalb Jahren Therapie. In der Wohnung hatte er nichts verändert, nichts weggeräumt, was seiner Frau gehörte. Wenn Ole sein Bett frisch bezog, bezog er auch ihres neu. Wechselte er seine Handtücher, wechselte er ihre. Beim Einkaufen achtete er darauf, dass immer wenigstens eine Lieblingsspeise von Ophelia im Einkaufskorb lag. Das war sein Umgang mit der Situation, damit kam er zurecht. Doch dass er nicht mehr als Elektriker arbeiten konnte, nahm ihm jede Tagesstruktur, jede Perspektive, den Rest an Lebensmut. Wie sollte es nur weitergehen? Vielleicht gar nicht? Ole hatte nichts mehr, was ihn am Leben hielt.
Regen setzte ein. Ole beschleunigte seine Schritte. Als er in den Kohlmarkt einbog, fiel sein Blick auf die Schlagzeile einer Zeitung auf dem Aussteller vor einem Lottoladen.
Peter Alexander beerdigt seine Hilde.
Er weint so bitterlich am Grab.
Auch Ole begann zu weinen, und er war froh, dass seine Tränen durch den Regen den entgegenkommenden Passanten nicht auffielen.
Der Unterschied zwischen Theorie und Praxis hätte größer nicht sein können. Ole wusste das, konnte sich jedoch nicht dazu aufraffen, diesen Widerspruch aufzulösen. Er schämte sich. Eine Scham, die nicht so sehr daher rührte, seiner Therapeutin etwas zu positiv von den Fortschritten seiner Trauerbewältigung berichtet zu haben. Nein. Die Scham, die Ole spürte, war eine andere. Es war die sichere Erkenntnis, seine eigenen Gefühle nicht kontrollieren zu können, auch nicht nach Monaten der Therapie.
Ich hatte bisher noch keinen Patienten, der das alles in achtzehn Monaten bewältigt hat.
Jede Silbe dieses Satzes hatte Ole noch im Ohr. Ob Dr. Scheve ahnte, wie sehr er die Wahrheit beschönigt hatte?
Schwermütig stand Ole vom Sofa auf und ging in die Küche, um seinem knurrenden Magen ein Friedensangebot zu unterbreiten. Ole warf einen Blick in die Speisekammer. Dosen mit Mehl, Zucker, Reis, Nudeln. Gläser mit Marmelade, Pflaumenmus und Honig. All diese Dinge hatte Ophelia gekauft, Ole hatte nichts davon angerührt. Keine einzige Nudel, kein Körnchen Reis, keinen Löffel Zucker oder Honig. Es war gut möglich, dass bei einigen der Lebensmittel das Haltbarkeitsdatum längst überschritten war.
Die Speisekammer war ein Versuch, die Zeit einzufrieren. In den letzten achtzehn Monaten hatte sich Ole weitestgehend von Brot, Dosenfisch und 5-Minuten-Terrinen ernährt. Diese Ernährungsweise hatte zu einem starken Gewichtsverlust geführt. Ole war hager, sein Gesicht eingefallen.
Außerdem gab es noch eine Sache, bei der Ole die Zeit eingefroren hatte. Die Bücher. Ophelias Bücher lagen im Wohnzimmer auf dem Tisch, sie lagen im Flur auf dem Fußboden, im Bad auf der Waschmaschine, im Schlafzimmer auf dem Nachttisch. Er hätte sie längst zurück in die Regale räumen sollen. Doch er hatte kein einziges Exemplar angerührt, keines zugeklappt, keine Seite umgeblättert. Er hatte sogar die Wohnung stets so gelüftet, dass der zuweilen kräftige Lübecker Wind nichts am Status quo von Ophelias letzten Bücherspuren veränderte.
Noch immer stand Ole ratlos vor der Speisekammer. Erneut knurrte sein Magen, wie um ihm zu sagen: Jetzt ist es auch mal gut. Trauern muss sein, aber nichts spricht gegen eine Portion Nudeln . Gerade als Ole nach den Spaghetti greifen wollte, schlug etwas dumpf gegen die Wohnungstür. Ole fuhr herum.
«Ja, bitte?», sagte er zu der Frau, die vor der Tür im Hausflur stand, Eimer und Feudel in der Hand.
«Entschuldigen Sie bitte, ich bin beim Wischen an die Tür gekommen», beeilte sich die Frau zu entgegnen.
«Kein Problem.»
In diesem Moment bahnte sich ein Windstoß vom geöffneten Fenster im Hausflur hinein in Oles Wohnung. Ole verabschiedete sich von der Putzfrau und schloss schnell die Tür.
Es war zu spät. Er erkannte es sofort. Seit achtzehn Monaten wachten die Romane wie stumme Zeugen einer glücklichen Vergangenheit auf ihren Plätzen. Doch nun lag das Buch zu seinen Füßen nicht mehr auf der Seite aufgeschlagen, auf der Ophelia aufgehört hatte zu lesen.
Ole sank vor einem Band auf die Knie.
Der alte Mann war dünn und hager und hatte tiefe Furchen im Nacken.
Verdutzt rieb sich Ole über die Augen. War er gemeint? Neugierig las er weiter.
… an seinen Händen hatte das Hantieren mit schweren Fischen an der Leine tiefe Spuren hinterlassen. Aber keine dieser Narben war frisch. Sie waren so alt wie Erosionen in einer fischlosen Wüste.
Als draußen die Morgendämmerung hereinbrach, hatte Ole das Buch ausgelesen. Seine Knie schmerzten, seine Augen tränten. Der alte Mann und das Meer von Ernest Hemingway. Die Suche nach dem Sinn des Lebens. Die Kraft der Natur. Menschliche Größe trotz Niederlage. In Würde verlieren. In einem Winkel seines Herzens spürte Ole, dass er gerade etwas gewonnen hatte: den Hauch einer leisen Zuversicht, die, so meinte er, mehr für ihn tat als alle therapeutischen Sitzungen.
Etwa eine Woche später kramte Ole vor seiner Tür vergeblich nach dem Hausschlüssel. Er hatte sich endlich dazu durchgerungen, die Speisekammer aus ihrem eingefrorenen Zustand zu befreien, und kam gerade von einem Großeinkauf zurück. Hatte er in der Eile den Schlüssel vergessen? Das war ihm noch nie passiert. Vielleicht lag es daran, dass es ihm nachts noch immer nicht gelang, in den Schlaf zu finden. Er fluchte leise und war gerade dabei, den Schlüsseldienst anzurufen, als Traute Tjarks, Inhaberin der Buchhandlung unter seiner Wohnung, auf die Straße trat. «Herr Oevermann, kann ich helfen?»
Oles Nervenkostüm war nach wie vor eine äußerst fragile Angelegenheit. Er war müde, er wollte allein sein. Er wollte sich zurückziehen und sich ins Bett verkriechen. «Schlüssel vergessen», presste er hervor.
«Kein Problem, ich habe Ersatz.»
Ole verstand nicht, was die Buchhändlerin meinte. Aber schließlich erinnerte er sich, dass Ophelia, für den Fall der Fälle, einen Zweitschlüssel im Laden hinterlegt hatte.
Lächelnd wandte sich Ole an Traute Tjarks. «Das wäre mehr als freundlich. Ich stehe in Ihrer Schuld.»
«Würden Sie Ihre Schuld sofort begleichen, indem Sie mit mir einen Tee trinken?»
Ole nickte.
An das, was im Laden passierte, hatte Ole im Nachhinein nur diffuse Erinnerungen. Seit er letzte Woche die Bekanntschaft mit Hemingways altem Fischer Santiago gemacht hatte, war ihm ein weiteres Buch des Autors aus Ophelias Fundus in die Hände gefallen. Wem die Stunde schlägt. Hemingway konnte schreiben, daran bestand kein Zweifel. Aber für ein Werk von sechshundert Seiten war Ole noch zu ungeübt als Leser.
Der intensive Lavendelduft, der in der Buchhandlung hing, verstärkte seine Müdigkeit. Ole saß auf einem kakaobraunen Ohrensessel, eine Tasse Tee vor sich auf dem Tischchen. Traute Tjarks erzählte, dass sie keinen Nachfolger für ihre Buchhandlung fand, die sie aus Altersgründen nicht mehr lange würde weiterführen können. Frau Tjarks erzählte von Ophelia, die einmal pro Woche hierhergekommen war, um sich über Neuerscheinungen und Klassiker zu unterhalten. Irgendwann kam das Gespräch auf Shakespeares Hamlet , irgendwie gelangte das Buch auf Oles Schoß. Die Teetasse war leer, Ole wurde immer müder, überlegte kurz, ob die Buchhändlerin ihm etwas in den Tee gemischt hatte. Oder lag es am Lavendel? Um nicht einzuschlafen, schlug er wahllos den Hamlet auf.
Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage:
Ob’s edler im Gemüt, die Pfeil’ und Schleudern
Des wütenden Geschicks erdulden, oder,
Sich waffnend gegen eine See von Plagen,
Durch Widerstand sie enden. Sterben – schlafen –
Nichts weiter! – und zu wissen, daß ein Schlaf
Das Herzweh und die tausend Stöße endet …
… und dann war Ole eingeschlafen, mitten in der Buchhandlung war er eingeschlafen und wachte erst am nächsten Tag wieder auf. Shakespeare und Hemingway hatten es geschafft. Menschliche Größe trotz Niederlage. Sein oder Nichtsein. Ole hatte sich endgültig für Ersteres entschieden.