G egen siebzehn Uhr verließ Gesa Oles Wohnung und trat hinaus in den Spätherbstnachmittag. Grau, bewölkt und trüb. Die Wolken hingen tief. Die Marlesgrube war nach dem Hochwasser wieder freigegeben worden, doch die Spuren der über die Ufer getretenen Trave waren noch zu erkennen. Feuchte Pappkisten, ein alter Kühlschrank und bis zur Unkenntlichkeit durchweichte Holzteile standen am Straßenrand. Die Buchhandlung war nicht das einzige Gebäude, das dem Hochwasser zum Opfer gefallen war. Ein Müllwagen rumpelte heran. Am anderen Ende der Straße parkte ein Reporterteam des NDR und interviewte einen Mann, der starke Ähnlichkeit mit dem Bürgermeister der Stadt hatte. Vielleicht war er es sogar. Von ihrer Position aus konnte Gesa das nicht erkennen. Morgen, schwor sie sich, morgen würde sie sich um die Sache mit ihren Augen kümmern.
Gesa beschleunigte ihre Schritte. Die Anwohner, an denen sie vorbeikam, schraubten die Schotten vor ihren Geschäften und Hauseingängen ab und wuchteten die ausgedienten Sandsäcke auf einen bereitgestellten Laster des THW .
Während Gesa zur Bushaltestelle Lübeck-Schlüsselbuden lief, überlegte sie, was als Nächstes zu tun war. Ole hatte keine Versicherung. Aus irgendeinem Grund hatte er sie gekündigt. Waren die Policen zu teuer gewesen? Hatte er einen finanziellen Engpass gehabt? Davon abgesehen mussten die feuchten Bücher getrocknet werden. Aber wie? Ein einfacher Fön reichte dazu bestimmt nicht aus. Gab es überhaupt eine Möglichkeit, die Bücher zu retten und sie anschließend noch zu verkaufen, oder waren sie hoffnungslos verloren?
Gesa nahm sich vor, im Internet nach einer geeigneten Maßnahme zu recherchieren. Aber zuerst wollte sie nach Hause, um sich umzuziehen, und danach zu Ole ins Krankenhaus. In einen Koffer aus Oles Abstellkammer hatte sie ein paar Kleidungsstücke gepackt, die sie ihm vorbeibringen wollte. Wenn doch alles nur so leicht wäre, wie einen Koffer zu packen. Gesa seufzte beim Gedanken daran, Ole gegenüberzutreten. Die Vorstellung, ihn enttäuschen zu müssen, schnürte ihr die Kehle zu. Sie sah seine traurigen Augen schon vor sich. Wenn er Gesa denn überhaupt erkennen würde. Und was, wenn sich Ole nie wieder an sie erinnerte? Warum nur hatte sie einen Mann so nahe an sich herangelassen? Die Erfahrung hatte doch gezeigt, dass Gesa und die Liebe nicht zusammenpassten.
Die Zeit drängte. Gesa musste schleunigst duschen und brauchte frische Klamotten. In ihrem mehr als einen Tag alten Outfit wollte sie ihm nicht begegnen. Zudem grummelte ihr Magen, missgestimmt über das, was Gesa ihm zugemutet hatte.
Zu Hause angekommen, stellte Gesa eine große Schüssel mit Salat auf den Wohnzimmertisch. Der Kuukkeli blickte sie versonnen an, mehr Glücksbringer als Unglückshäher. Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass sie Dr. Bruno Penningbüttel eine optimistische E-Mail zur Kundenakquise geschrieben hatte. Wann war das gewesen? Vorgestern? Gestern? Durch die Ereignisse der letzten Tage war ihre innere Uhr komplett durcheinandergeraten.
«Na du. Du hast mir gefehlt», sagte sie zu dem Kuukkeli auf dem Sideboard. «Es fühlt sich beinahe so an, als wäre ich mehrere Tage unterwegs gewesen. Irgendwelche besonderen Vorkommnisse hier?»
Das ausgestopfte Tier hielt den Kopf gesenkt. Seltsamerweise blinkte das Lämpchen des Anrufbeantworters nicht. Es leuchtete nicht einmal. Gesa untersuchte das Gerät und stellte fest, es war kaputt. Ob das mit der jetzt aktivierten Handy-Mailbox zu tun hatte? Machte das den Anrufbeantworter arbeitslos, konnte er spüren, dass die Konkurrenz seine Aufgabe übernommen hatte? Jetzt werde ich verrückt. Was für ein seltsamer Gedanke. Reicht es nicht, einem ausgestopften Vogel menschliche Attribute anzudichten? Gesa verließ das Wohnzimmer, um zu duschen.
Während sie eine Kirschtomate aufspießte, wählte Gesa die Telefonnummer ihres Bruders. Sofort meldete sich eine Computerstimme, die erklärte, der Teilnehmer sei nicht erreichbar. Gesa überlegte. Wie viel Zeitverschiebung lag genau zwischen Deutschland und Tuvalu? Neun oder zehn Stunden? Auf jeden Fall war es dort später als in Lübeck. Am Ende der Welt musste es mitten in der Nacht sein. Kauend begann Gesa zu tippen.
Tut mir leid, dass ich mich erst jetzt melde. Hier ist so viel los, das kannst du dir nicht vorstellen. Immobilien unter Tage geht es gut. Ruf mich an, wenn es passt.
Deine Gesa
Nach der Dusche und dem anschließenden Salat konnte Gesa wieder klarer denken. Recherche oder Krankenhaus? Mittlerweile war es so spät geworden, dass Gesa sich beeilen musste, wenn sie es noch zur Besuchszeit ins Krankenhaus schaffen wollte. Ihr blieben eineinhalb Stunden Zeit. Das war nicht viel. Dennoch wollte sie versuchen, vorher noch schnell ein wenig zum Thema Büchertrocknen zu recherchieren. Wenn sie eine Idee hatte, wie sich der Schaden eindämmen ließe, würde sie beruhigter an Oles Bett treten können. Wie die Sanierung des Ladens finanziert werden sollte, konnte sie sich auf dem Weg überlegen.
Gesa nahm gerade ihr Handy vom Tisch, als Jost anrief.
«Grambekerin», sagte er zur Begrüßung. «Damn, wo verdammt noch mal steckst du? Penningbüttel ist kurz davor, eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufzugeben.»
«Was hast du ihm erzählt?», fragte Gesa zögerlich.
«Die Wahrheit natürlich. What else?»
«Welche?»
«Ich habe ihm erklärt, dass die Buchhandlung unter Wasser stand, aber Herr Oevermann versichert ist, du die Schadensmeldung einreichst und dich danach weiter um die Kundenakquise kümmerst.»
Gesa schwieg.
«Das stimmt doch alles, oder?»
Gesa schwieg.
«Hallo? Das stimmt doch?», hakte Jost nach.
«Nein.»
«Shit.»
«Jost, ich weiß nicht weiter. Ole hat keine Versicherungen für den Laden mehr, er muss sie irgendwann gekündigt haben. Außerdem hat er sein Gedächtnis verloren und weiß nicht einmal, dass er Buchhändler ist. Keine Ahnung, wie die Schadensbeseitigung bezahlt werden soll. Und Kunden kann ich in dem ramponierten Laden auch nicht empfangen, also dort auch keine Buchversicherung abschließen. Ich fürchte, das ist das Ende.»
«Gibt es nicht einen anderen Ort für den Verkauf der Buch-Elementar-Risiko-Versicherungen?»
«Ich kann ja schlecht im Bestattungsinstitut solche Policen abschließen und Bücher unter die Leute bringen», entfuhr es Gesa.
«Why not? Gero hätte bestimmt nichts dagegen. Apropos, hat er sich bei dir gemeldet?»
Das war nun bereits das dritte Mal, dass sich Jost nach Gero erkundigte. Hatten die beiden etwas miteinander? Gesa verdrängte die Vorstellung. «Leider nein.»
«Schade.»
Gerade als Gesa versuchte, ihre Gedanken zu Jost und ihrem Bruder in Worte zu kleiden, piepte es in der Leitung. «Grambekerin, ich bekomme einen Anruf rein. Halt die Ohren steif, ich melde mich bald wieder.»
Für die Recherche war es jetzt zu spät, sie musste sich sofort auf den Weg zum Krankenhaus machen. Kaum hatte Gesa im Flur den Mantel angezogen und Oles Koffer in die Hand genommen, fiel ihr Blick auf Oles kariertes Taschentuch. Ein Film begann sich vor ihrem inneren Auge abzuspulen.
Oles Besuch in ihrem Büro kurz vor Ablauf des Ultimatums.
Das gemeinsame Essen im Café Niederegger.
Das Tandemfahren in Travemünde.
Sein Auftritt unter ihrem Fenster.
Der Mann ohne Gedächtnis. Zumindest ohne Erinnerung an sie. Ob Ole ihre wundervolle gemeinsame Zeit wirklich für immer vergessen hatte? Gesa schlang den Mantel enger um ihren Oberkörper. Sie überlegte. War dieser Gedanke nicht egoistisch? Hauptsache, Ole kam schnell wieder auf die Beine. Er hatte sich beim Versuch, Gesas drohende Arbeitslosigkeit abzuwenden, mehr als aufopferungsvoll verhalten. Selbst wenn Ole sich nie wieder an sie erinnern würde, sie war ihm bereits jetzt zu ewiger Dankbarkeit verpflichtet.
Gesa hatte bereits die Hand auf die Klinke der Wohnungstür gelegt, als ihr Handy klingelte.
Es war Gero. «Raus mit der Sprache!»
Gesa nahm die Hand von der Klinke, stellte Oles Koffer ab und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wohnungstür.
Im Hintergrund, am anderen Ende der Welt, waren laute Musik und Lachen zu hören. Gero schien auf einer Party zu sein.
«Ich weiß einfach nicht weiter, Gero, ich bin am Ende.»
«Erzähl mir, was los ist, Schwesterherz.»
Gesa erzählte. Mehr noch, aus ihr sprudelten die Worte nur so heraus. Sie ließ kein Detail aus, nicht die winzigste Begebenheit der letzten Tage verschwieg sie. Mit jedem Wort, das ihren Mund verließ, fühlte sie sich leichter. Gesa hatte die kirchliche Beichte immer für Humbug gehalten, doch während sie im Flur stand und sich ihrem Zwillingsbruder anvertraute, war es, als würde eine Last von ihren Schultern genommen. Gesas Beichte wurde im Hintergrund von drei Partyliedern untermalt.
Like a Prayer von Madonna.
Toxic von Britney Spears.
Atemlos durch die Nacht von Helene Fischer.
Eine Viertelstunde hatte Gesa gesprochen, ohne von ihrem Bruder unterbrochen zu werden.
«Das ist wirklich starker Tobak. Dennoch. Du hast dir absolut nichts vorzuwerfen, Gesa», sagte Gero schließlich. «Du konntest nicht ahnen, dass das Hochwasser kommen würde. Bestimmt finden wir eine Lösung. Lass mich überlegen.»
Gesa ging ins Wohnzimmer. Neben dem Kuukkeli stand die Schale mit den Marzipankartoffeln.
«Ich weiß, ich weiß», flüsterte sie dem Vogel zu. «Jetzt guck nicht so vorwurfsvoll, das ist ein Notfall. Ein Notfall, der nach Zucker schreit.»
«Hast du Besuch?», fragte Gero. «Ich dachte, dein Buchhändler liegt im Krankenhaus.» In Geros Stimme lag Verunsicherung.
«Ich halte seit Neuestem Zwiesprache mit dem Kuukkeli.»
«Buchangst, Wasserschaden, Buchhändler mit Amnesie, drohende Arbeitslosigkeit, das alles ist schon schlimm genug. Kein Zweifel. Doch dass du dich mit ausgestopften finnischen Vögeln unterhältst, macht mir ernsthaft Sorgen.» Im Hintergrund liefen die ersten Takte von The Final Countdown.
Gesa war gerührt. Sie streichelte dem ausgestopften Tier über das Gefieder. «Wie soll es denn nun weitergehen?»
«Also, die klammen Bücher müssen schnellstens getrocknet werden. Das werden trotzdem nur noch Mängelexemplare sein. Du brauchst einen Luftentfeuchter. Die ganze Prozedur könnte vermutlich Wochen dauern.»
Aus der Schublade des Sideboards holte Gesa Stift und Papier und schrieb mit. Sie fürchtete, die Hinweise ihres Bruders sonst umgehend zu vergessen.
«Wie das mit dem feuchten Boden und den Möbeln am besten zu lösen ist, weiß ich nicht. Für die Sache mit dem Büchertrocknen habe ich allerdings eine Idee», fuhr Gero fort.
Gesa hielt beim Schreiben inne. An das zerstörte Mobiliar hatte sie noch gar nicht gedacht.
«Im Perlmuttbirnenweg gibt es einen Laden, der Bautrockner vermietet. Frag nach Lars Becker, sag, du bist meine Schwester, dann kriegst du einen fairen Preis.»
Gesa dämmerte, was es mit diesem Lars auf sich hatte. Da fiel ihr Jost ein. Sollte sie Gero auf ihn ansprechen?
«Die Bücher, die keinen Schaden aufweisen, bringst du zur Zwischenlagerung ins Bestattungsinstitut und versuchst, dort deine Versicherungen zu verkaufen. Das passt doch sogar ganz gut. Immerhin erhalten die Leute durch das Vorteilspaket einen Rabattgutschein auf meine Urnen.»
Während sie Gero zuhörte, kehrte in Gesa die Hoffnung zurück, wie eine entfernte Bekannte, die man lange nicht mehr gesehen hatte und über deren Besuch man sich zur eigenen Verwunderung unglaublich freute.
«Wenn du das geschafft hast, rufst du Penningbüttel an und lädst ihn ein vorbeizukommen. Wenn er feststellt, dass du die Lage im Griff hast, wird er dir bestimmt noch etwas mehr Zeit geben.»
«Gero, dich schickt der Himmel. Wie schaffst du es bloß, so schnell einen Schlachtplan auszuhecken?»
«Distanz. Aktuell geografisch und …»
Es knackte in der Leitung. Es ruschelte. Es rauschte. Geros Stimme klang verzerrt.
«… geografisch und emotional», dröhnte es blechern aus der Leitung.
«Hallo? Bist du noch dran?»
Aber Gero antwortete nicht mehr, nur die Musik war noch zu hören.
We’re leavin’ together
But still it’s farewell
Die Zeilen klangen, als würden sie von unter Wasser gesungen. Schließlich erstarb die Verbindung. Gesa ärgerte sich, dass sie Gero weder auf Jost angesprochen noch gefragt hatte, wie es mit dem attraktiven australischen Trauerredner lief, wegen dem ihr Bruder überhaupt erst ans Ende der Welt gereist war. Gesa blickte auf die Uhr. Neunzehn Uhr. Nun war es endgültig zu spät, um noch ins Krankenhaus zu fahren. Das würde bis morgen warten müssen.