Kapitel 19

A ls Gesa im Bett lag, kreisten ihre Gedanken nur um ein Thema: Wie konnte sie die Buchhandlung retten? Durch den Bautrockner war ein Anfang gemacht. Mehr aber nicht.

Dreh- und Angelpunkt waren die Buchverkäufe. Dass die Menschen immer weniger Bücher kauften, war eine Tatsache. Schon vor dem Hochwasser war Ole mehr schlecht als recht über die Runden gekommen, durch den entstandenen Wasserschaden und den Verlust des Bücherbestands war die Lage desolat geworden. Wie Gesa es auch drehte und wendete, während sie sich zeitgleich in ihrem Bett drehte und wendete, ohne Geld gerieten all ihre Pläne ins Stocken. Doch Gesa hatte kaum etwas auf die hohe Kante gelegt.

Im Internet stand, dass die Trocknung eines Wasserschadens mittlerer Größe etwa zweitausendfünfhundert Euro kosten würde.

Obendrauf kamen die Kosten für neue Regale und anderes Inventar, der Abtransport der alten Möbel und der Kauf neuer Bücher. Gesa warf sich erneut auf die andere Seite. Ihr sorgenangefüllter Kopf wollte einfach keine Ruhe geben, und dabei hatte er sich noch nicht mal mit ihrer drohenden Arbeitslosigkeit und der Unmöglichkeit beschäftigt, in so kurzer Zeit zwanzig neue Abschlüsse ihrer Buchversicherung zu erzielen. Gesa rechnete und rechnete. Sie kam, als sie alle anfallenden Ausgaben addierte, auf eine geschätzte Summe von zehntausend Euro. Zehntausend Euro waren nötig, um die Buchhandlung zu retten.

Diese Zahl trieb sie endgültig aus dem Bett. Gesa stand auf und setzte sich auf das Sofa im Wohnzimmer.

«Entschuldige, dass ich dich mitten in der Nacht störe, aber ich brauche jemanden, der mir zuhört.»

Der Kuukkeli hielt den Kopf demütig gesenkt.

«Manchmal möchte ich gerne mit dir tauschen. Den ganzen Tag auf dem Schrank hocken und nichts anderes tun als eine Schale Marzipankartoffeln und einen kaputten Anrufbeantworter bewachen.»

Lautes Rumpeln von draußen ließ Gesa aufhorchen. Unten auf der Straße stand ein Lkw. Er hatte die Warnblinkanlage eingeschaltet. Auf der Seitenplane stand Grünzeug-Oase. Obst & Gemüse wie frisch vom Markt . Ein Lächeln stahl sich auf Gesas Gesicht. Das war die Idee. Das war vielleicht nicht die Lösung, nicht die Rettung. Aber vielleicht ein Ansatz, ein Ansatz mittlerer Größe. Gesa drückte dem Kuukkeli einen Kuss auf den winzigen Kopf und setzte Kaffeewasser auf.

(neue Szene)

Bereits um sechs Uhr morgens war am Hasenweg im Stadtparkviertel eine Menge los. Mit mehr Koffein, als medizinisch vertretbar war, inspizierte Gesa das Treiben auf dem Marktplatz. Zahlreiche Händler bauten ihre Stände auf. Hier ein Wagen mit schlesischen Wurstspezialitäten, dort einer mit Korbwaren, ein Stück weiter Stände mit Strickerzeugnissen sowie Wolle, Blumen, Obst und Gemüse, Tische mit Kaffeespezialitäten, Feinkost, Oliven und ein Händler mit portugiesischem Gebäck.

Gesa hielt sich ein wenig abseits unter einer Kastanie. Links und rechts neben ihr standen zwei große Rollkoffer. Gefüllt mit Büchern. In dem einen die gut erhaltenen Bände, in dem anderen die weniger gut erhaltenen mit leichten Wasserschäden.

In aller Herrgottsfrühe war Gesa in der Marlesgrube gewesen, hatte die Bücherstapel im Laden und im Bestattungsinstitut durchgesehen und in die Koffer gepackt, was sich für den Verkauf noch eignete. Dann war sie mit einem Taxi zum Wochenmarkt am Hasenweg gefahren. Vielleicht war es eine Verzweiflungstat, vielleicht war sie einfach übernächtigt, doch hier Oles Bücher zu verkaufen, war immer noch besser, als nichts zu tun.

Eine innere Stimme mahnte Gesa, unverzüglich mit dem Aufbau zu beginnen. Eine andere innere Stimme mahnte zur Vorsicht und brachte das gewichtigste Argument gegen den sofortigen Aufbau hervor. Du hast keine Standgenehmigung. Das stimmte.

In diesem Augenblick fiel genau vor Gesa eine offenbar zurückgebliebene Kastanie zu Boden. Gesa hob den Blick. Wie auf ein Zeichen hin ging sie in die Hocke und klappte die beiden Koffer auf. Dabei ließ sie den Platz nicht aus den Augen, aus Angst, jemand könnte sich nach ihrer Verkaufsgenehmigung erkundigen.

 

Eine Stunde später hatte sich der Markt gefüllt. Immer mehr Menschen kamen, um zu schlendern, einzukaufen und sich mit den Händlern zu unterhalten.

Doch kein einziger Marktbesucher war vor dem Bücher-Koffer-Stand stehen geblieben. Da Gesa über keinerlei Erfahrungen als Marktverkäuferin verfügte, hatte sie versäumt, sich jahreszeitengemäß zu kleiden. Das Wetter kümmerte sich nicht um diesen Anfängerfehler. Zwar war der Himmel wolkenlos und sonnig, doch Anfang November schaffte es die Sonne unter Aufbietung ihrer ganzen Kraft nicht, Lübeck über fünf Grad zu erwärmen.

Die Kälte setzte Gesas Fingern und Füßen zu. Sie trat von einem Bein auf das andere und hauchte in ihre hohlen Hände. Viel half das nicht. Gesa schielte zum Stand mit den Strickwaren. Tatsächlich. Die ältere Dame, die auf einem Klappstuhl hinter dem Tapeziertisch saß, auf dem sie ihre Waren anbot, hatte fingerlose Handschuhe im Angebot. Konnte Gesa es wagen, ihre Bücher-Koffer für einen Augenblick unbeaufsichtigt zu lassen?

«Hast du Gregs Tagebuch

Gesa zuckte zusammen. Vor ihr stand ein Mädchen von ungefähr zehn Jahren.

«Gregs was?» Gesa versuchte, ihre Ahnungslosigkeit durch ein warmes Lächeln zu übertünchen.

«Tagebuch. Ich brauche Band vier. Ich war’s nicht .» Das Mädchen sah Gesa direkt in die Augen. Es schien keinerlei Verdacht ob Gesas Unwissenheit zu schöpfen.

«Wie heißt du?»

Das Mädchen verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. «Meine Omi hat gesagt, ich soll Fremden keine privaten Sachen verraten.»

Unwillkürlich musste Gesa grinsen. Ihr war ein Name für das Mädchen eingefallen. «Hör mal, Fräulein Privat. Du hast eine schlaue Oma. Ich mache dir einen Vorschlag. Du suchst in den Koffern nach deinem Greg und passt hier fünf Minuten auf. Ich gehe rüber und kaufe mir ein Paar Handschuhe. Als Dank darfst du dir ein Buch aussuchen.»

Nach einigem Zögern nickte das Mädchen und beugte sich neugierig über die beiden Koffer.

 

«Mein kleiner Sonnenschein», sagte die Dame und sah von ihrem Strickzeug auf. Gesa schätzte sie auf etwa Mitte sechzig.

Im ersten Augenblick dachte sie, die Frau hätte sie gemeint. Doch nun deutete die Verkäuferin der Strickwaren auf das Mädchen mit der Schwäche für Gregs Tagebuch .

«Meine Enkelin ist ein richtiger Bücherwurm. Das liegt bei uns in der Familie.»

«Ja, Bücher sind etwas Wertvolles», erwiderte Gesa. Sie kam nicht umhin festzustellen, dass sie diesen Satz ganz und gar aufrichtig meinte.

«Schon meine Eltern hatten eine große Leidenschaft für Romane. Überhaupt, die schönsten Bücher sind für mich die, die das Schicksal von Familien über Generationen hinweg erzählen.» Die Frau legte ihr Strickzeug beiseite. Sie griff unter den Tisch und zog ein Buch hervor. Die Sonnenschwester von Lucinda Riley.

Afrikanische Landschaft, Tiere, ein Segelflieger, Zweige mit roten Blüten. Das Buchcover strahlte Wärme und Ruhe aus. Gesa sah es zum ersten Mal. Um sich nicht erneut die Blöße zu geben und um eine potenzielle Kundin nicht zu vergraulen, versuchte es Gesa mit einer allgemeinen Aussage. «Liebe, Familie, Freude, Angst, Hoffnung, Romantik.»

«Ganz genau, Sie kennen das Buch?»

«In Auszügen.» Gesa sah zu ihrem Koffer-Stand. Noch immer kramte das Mädchen in den Beständen.

«Wissen Sie», die alte Dame senkte die Stimme, «nach dem Tod meiner Eltern habe ich erfahren, dass ich adoptiert wurde. Ein großer Schock. Ich war wütend, ich war enttäuscht, ich habe mich allein auf der Welt gefühlt. Doch die Saga um die sieben Schwestern hat mir geholfen, mich mit meinem Schicksal zu versöhnen.»

Gesa nickte. Die Worte der Frau rührten sie.

«Ich selbst konnte mich nie auf die Suche nach meinen Wurzeln machen.»

«Wie schrecklich, diese Hilflosigkeit. Warum haben Sie sich nie auf die Suche begeben?»

«Kommen Sie mal herum.»

Gesa schob sich an dem Tisch vorbei. Die Frau zog eine Decke von ihrem Schoß, sie saß im Rollstuhl.

«Ich kann nicht reisen, ich bin an dieses Ding hier gefesselt. Aber die Bücher geben mir Kraft, entführen mich überallhin, wo ich will. Ich war in mehr Ländern und auf mehr Kontinenten als Christoph Kolumbus, Vasco da Gama, Marco Polo und James Cook zusammen. Glauben Sie mir …»

«Omi, ich habe was.» Fräulein Privat war zurück. Freudestrahlend hielt sie ihrer Großmutter ein Buch entgegen. Oma Hertha und die Schmugglerbande. «Lesen wir das heute Abend gemeinsam?»

«Selbstverständlich.» Sanft streichelte die Frau über den Kopf ihrer Enkeltochter.

Die Zärtlichkeit dieser Szene versetzte Gesa einen Stich. Sie und Onni hatten sich immer Kinder gewünscht. Doch der richtige Zeitpunkt war nie gekommen. Sie hatten sich kennengelernt, als sie nicht mehr ganz jung waren, dann eine Fernbeziehung geführt. Und dann … Gesa schob die Erinnerung beiseite.

«Ich muss wieder. Ich hätte gerne noch diese hier.» Sie zeigte auf ein Paar grüne, fingerlose Handschuhe und holte das Portemonnaie aus ihrer Tasche.

Gerade als sie der Frau einen Zwanzigeuroschein in die Hand drückte, ertönte ein Tumult in ihrem Rücken. Es klang, als würde etwas Schweres ausgekippt werden. Und dieser Klang sollte Gesa nicht getäuscht haben. Als sie sich umdrehte, sah sie zwei hochgewachsene Männer vom Marktplatz wegrennen, jeder einen Koffer in der Hand. Ihre Koffer. Die Bücher hatten die Diebe einfach auf den Boden gekippt.

Es war Gesa unmöglich, sich auch nur einen Millimeter zu rühren. Einige Verkäufer kamen aus ihren Wagen oder hinter ihren Ständen hervor und auf die Kastanie zugeeilt, um ihre Hilfe anzubieten.

Sollen wir die Polizei rufen?

Ehrliche Leute haben es schwer heutzutage.

Die schönen Koffer, die waren bestimmt teuer.

Warum sind einige Bücher so feucht?

«Das ist sehr lieb von Ihnen», sagte Gesa matt. «Bitte rufen Sie nicht die Polizei, ich stand ohne Genehmigung hier. Vielleicht habe ich es nicht besser verdient.»

Die Verkäufer bildeten einen Halbkreis und beratschlagten. Schließlich trat der schlesische Wurstverkäufer einen Schritt nach vorne. «Lassen Sie es gut sein. Am besten, Sie verschwinden. Gleich kommt das Ordnungsamt und will die Standberechtigungen sehen. Wir halten dicht. Die Bücher sammel ich gleich mit meinem Transportwagen ein. Wo soll ich sie hinbringen? Heute Abend hätte ich Zeit.»

Gesa nannte Name und Adresse der Buchhandlung.

«Alles klar, und mit dem illegalen Stand – Schwamm drüber.»

«Danke. Sie sind der netteste Fleischer, den ich kenne. Und dabei ist Ihr Metier seit den letzten Jahren ja unheimlich umstritten.»

Gesa verabschiedete sich, der Wurstverkäufer zwinkerte ihr zu und raunte verschwörerisch: «Fleisch ist mein Gemüse.»

Enttäuscht darüber, dass ihr Plan, wenigstens ein bisschen Geld für die Renovierung der Buchhandlung zu verdienen, so gründlich schiefgegangen war, zog sie ihr Handy aus der Tasche. Ihre Mutter hatte vier Mal versucht, sie zu erreichen. Gesa wählte Astas Nummer.

«Liebes, gut, dass du zurückrufst. Es ist etwas Schreckliches passiert. Herr Oevermann ist aus dem Krankenhaus verschwunden.»