Kapitel 22

«N ichts?»

«Null Komma nichts. Totaler Blackout. Es ist, als wäre eine Sicherung in meinem Kopf durchgebrannt.» Ole stand in seiner Buchhandlung und schüttelte betrübt den Kopf. Seine grauen Locken hingen trostlos herab, als wären auch sie bekümmert darüber, dass ihr Besitzer sein Wissen über die Literatur verloren hatte.

«Wirklich nichts?»

«Die letzte Erinnerung, die ich an diesen Ort habe, ist, wie ich hier bei Traute Tjarks im Laden war. Ophelia war gerade gestorben, und ich …» Ole unterbrach sich für einige Augenblicke, «und ich fand keinen Sinn mehr im Leben. Irgendwann habe ich mich in den Ohrensessel gesetzt, der jetzt in meinem Wohnzimmer steht. Die alte Buchhändlerin hat mir ein Buch von Shakespeare in die Hand gedrückt, dann bin ich eingeschlafen.»

«Du hast eine ungewöhnliche Form von Amnesie. Alles, was mit Büchern zu tun hat, ist ausgelöscht.»

«Mein Logikvermögen allerdings funktioniert uneingeschränkt. Ich weiß, dass es die Firma meines Vaters nicht mehr gibt. Mir ist auch bewusst, dass mein Vater vor zehn Jahren gestorben ist. Doch beim besten Willen kann ich mich nicht entsinnen, was ich seitdem den ganzen Tag gemacht, wo ich gearbeitet habe.»

Gesa ging zu dem Bautrockner, der vor sich hin lärmte, und stellte ihn ab. Die plötzliche Ruhe tat gut.

«Wenn ich das richtig verstehe, muss ich mich schnell in die Welt der Literatur einarbeiten», seufzte Ole.

«Das ist kein leichtes Unterfangen, ich habe es auch versucht», sagte Gesa. «In jedem Jahr erscheinen Tausende neue Bücher. Sich da umfassend einzuarbeiten, ist unmöglich. Bei den alten Werken kann ich ja noch mithalten, doch das, was nach Onnis Tod erschienen ist, kenne ich nicht.»

Ole lief nachdenklich an den Regalen vorbei. Sein Blick fiel auf die Wäscheleinen. Die meisten Bücher, die darauf hingen, waren inzwischen getrocknet, die Seiten jedoch wellig, die Einbände fleckig.

«Danke, dass du dich um das alles hier gekümmert hast.» Ole legte seine Hand auf einige der getrockneten Ausgaben.

Gesa beschlich der Eindruck, er wollte versuchen, die Geschichten, die in den Büchern schlummerten, zum Leben zu erwecken, als könnten sie sich über seine Hand auf seinen Kopf übertragen.

«Im Auswendiglernen war ich seit jeher gut», erklärte Ole. «Ich werde mir die Bestsellerlisten der letzten Jahre organisieren und sie wie Vokabeln pauken. Natürlich mit den entsprechenden Klappentexten. Vielleicht können wir bei den Verlagshäusern nachfragen, ob sie uns Verzeichnisse ihrer Publikationen zukommen lassen.»

«Warte.» Gesa hastete in den hinteren Raum der Buchhandlung, um einen Stapel Verlagskataloge zu holen. «Das ist zumindest ein Anfang. Jeder Verlag veröffentlicht zwei Kataloge pro Jahr. Einen im Frühjahr, einen im Herbst. Wie viele Verlage in Deutschland existieren, weiß ich nicht, es sind wahrscheinlich mehr, als man denkt. Hinzu kommen die Texte, die im Eigenverlag veröffentlicht wurden.»

«Du klingst, als wärst du vom Fach.»

Da hatte er recht. Gesa war selbst überrascht, welches Wissen in ihr steckte. Vermutlich aus der gemeinsamen Zeit mit Onni. Wie lieb und teuer ihr Romane damals gewesen waren. Marianne Dashwood. Bridget Jones. Jane Marsh. Santiago und Fatima. Die Familie Buendía. Und die Briefe zwischen Franz Kafka und Felice Bauer. All die Figuren aus den Büchern, ob ausgedacht oder echt, hatten Gesa einst die Kraft gegeben, über ihre Liebesenttäuschungen hinwegzukommen. Und dann war all das auf einen Schlag vorbei gewesen. Wie sehr sich ihr Leben seitdem verändert hatte. Noch vor ein paar Wochen hätte sie sich nicht vorstellen können, ein Buch auch nur anzufassen, geschweige denn, eine Buchhandlung zu betreten.

Und nun stand sie hier in Oles Laden und sprach über Verlage und ihre Publikationsroutinen. Ohne Ole hätte sie ihre Angst vor Büchern nie überwunden, so viel stand fest. Doch auch wenn sie in den letzten Tagen der Literatur ein wenig nähergekommen war, in Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins und Das Kind in dir muss Heimat finden geschmökert hatte, war das nur ein Anfang. Für eine Karriere als Buchhändlerin reichte das lange nicht. Beim Stichwort Karriere fiel Gesa ein, dass sie sich längst bei Dr. Penningbüttel hätte melden sollen. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und tippte rasch eine SMS .

Die Sache mit den neuen Verträgen läuft gut. Ich habe fünf weitere Policen für die Lübeck-Safe-AG abschließen können. Mit freundlichen Grüßen, Gesa Grambek

Kurz nachdem Gesa auf Senden gedrückt hatte, lief sie rot an. Hatte sie nicht schon genug Probleme? Hatte sie ihrem Chef nicht gerade erst gestanden, bei der Anzahl der abgeschlossenen Policen geflunkert zu haben? Warum brachte sie sich immer wieder in neue Schwierigkeiten? Aber gesendet war gesendet. Vielleicht war ihr das Schicksal wohlgesinnt, und ihre dreiste Lüge würde sich in den nächsten Tagen wie von Zauberhand bewahrheiten. Sie musste es nun auf einen Versuch ankommen lassen.

Ole lief im Laden auf und ab. «Um die Lage zusammenzufassen: Ich brauche Geld für den Wiederaufbau der Buchhandlung. Da ich keine Versicherung habe, muss das Geld durch den Verkauf möglichst vieler Bücher eingespielt werden, wozu uns beiden allerdings das nötige Buchwissen fehlt. Und dann ist da noch die Sache mit deiner drohenden Kündigung und den Versicherungen, die wir mit meinen Büchern zusammen verkaufen wollen.» Ole sah plötzlich ganz müde aus, sein Gesicht wirkte grau. «Das klingt alles ziemlich kompliziert.»

«Mach dir keine Sorgen um mich, deine Buchhandlung steht an erster Stelle», sagte Gesa schnell.

«Wie du meinst. Wenn ich es richtig verstanden habe, lässt sich deine Versicherung nur über Buchverkäufe an den Mann und die Frau bringen. Sich in die gesamte Literatur einzuarbeiten, dauert Jahre, wenn nicht Jahrzehnte.»

«Mit YouTube geht es schneller. Sommers Weltliteratur to go und so.»

Gesa und Ole fuhren herum. In der Tür stand ein junger Mann, fast noch ein Teenager. Er mochte sechzehn Jahre alt sein, vielleicht siebzehn. Die Hose des Neuankömmlings hing so tief, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie nicht herunterrutschte. Dazu trug er ein weites T-Shirt, darüber ein kariertes Sakko. In seinem rechten Ohr steckte ein Bluetooth-Kopfhörer. Seine Haare glichen denen von Ole, allerdings in Schwarz.

«Können wir dir helfen? Oder soll ich lieber ‹Ihnen› sagen?» Ole machte einen Schritt auf die Tür zu.

«‹Du› geht klar, bin siebzehn. Denke, wir können uns gegenseitig helfen. Ich bin Mattis. Meine Ma schickt mich.»

Gesa blickte den Jungen neugierig an. Hatte sie ihn hier schon einmal gesehen? Wer war seine Mutter, und warum hatte sie ihn herbeordert? Er wirkte sympathisch, und nachdem sie ihn eingehender betrachtet hatte, meinte sie doch, ihm irgendwo schon einmal begegnet zu sein.

Mattis betrat den Laden. «Hier ist ja Land unter. Das hat meine Ma gar nicht erwähnt. Bin gekommen, weil der Buchhändler wohl im Koma liegt. Wie der Schriftsteller Stefan Heym, der lag auch im Koma, nach einer Blinddarm-OP , wenn ich mich richtig erinnere.»

«Wie es scheint, bist du nicht mehr auf dem neusten Stand, in Bezug auf das Koma, meine ich. Ich bin Ole Oevermann, ich bin hier wohl der Buchhändler. Das ist Gesa. Warum bist du gekommen?» Ole lächelte.

Mattis fuhr sich durch seine schwarzen Locken. Er nahm den Kopfhörer aus dem Ohr. «Meine Ma war neulich hier. Sie ist Deutschlehrerin und Fitzek-Fan-Girl. Der Typ ist nicht so meins. Die Therapie habe ich noch gerne gelesen, doch spätestens bei Passagier 23 war ich raus. Immer dasselbe Strickmuster, abwegige Wendungen, teilweise Redundanzen, Logikbrüche. Der Pappaufsteller von Fitzek steht bei uns im Flur. Leicht gruselig.»

In Gesa flackerte Hoffnung auf. Mattis war offenbar nicht nur literaturinteressiert, sondern trotz seines jungen Alters bereits ein wahrer Profi auf dem Gebiet. «Du bist also hier, um zu helfen», sagte sie vorsichtig, um der Hoffnung nicht zu viel Raum zu geben.

«Ma meinte, Sie, Frau Gesa, haben nicht so viel Ahnung von Literatur. Nicht böse gemeint. Sie fand, ich sollte hier aushelfen, wenigstens ein bisschen. Mit Ihnen, Herr Oevermann, kann ich es büchertechnisch natürlich nicht aufnehmen.»

Begeistert nahm Gesa den jungen Mann an die Hand. «Genau da liegt unser Problem. Herr Oevermann hat im Koma sein Bücherwissen verloren. Du kommst wie gerufen. Hast du Zeit?»

«Immer.» Mattis musterte die Wäscheleinen. «Spannend. Die sind ja nach Genres sortiert.»

«Musst du nicht in die Schule?», hakte Ole nach.

«Rausgeflogen, lange Geschichte.»

«Das klingt nicht so gut.»

«Und Sie?», wandte sich Mattis an Ole. «Müssten Sie nicht im Krankenhaus sein, so kurz nach dem Koma?»

«Abgehauen, lange Geschichte.»

Die beiden Männer grinsten sich an, eine Art Großvater-Enkel-Grinsen, das große Vertrautheit ausstrahlte.

«Wie stehst du zu Chicken Nuggets, Mattis?»

«Würde ich meine rechte Hand für geben.»

Das Eis war gebrochen. Nicht nur frisurentechnisch, auch kulinarisch lagen Ole und Mattis auf einer Wellenlänge. Wie perfekt wäre die Harmonie erst, wenn Oles verschüttetes Wissen über die Literatur hoffentlich wieder aus den Tiefen des Vergessens ans Tageslicht kommen würde?

Ole zwinkerte Gesa zu. «Ich lade den jungen Mann hier zum Essen ein und bespreche mich mit ihm. Mein Gefühl sagt mir, uns ist gerade ein Sechser im Lotto in den Buchladen geflattert.»

«Mit Zusatzzahl», ergänzte Gesa ausgelassen.

«Vor allem bin ich neugierig, was es mit Sommers Weltliteratur to go auf sich hat», meinte Ole und wandte sich an Gesa. «Ist es in Ordnung, dass ich dich kurz allein lasse?»

«Natürlich. Viel Spaß euch beiden. Ich mache noch ein bisschen Ordnung.»

«Danke, Gesa. Ich denke, in zwei Stunden bin ich spätestens zurück.»

 

Gesa blickte sich im Verkaufsraum der Buchhandlung um. Das Wasser hatte deutliche Spuren hinterlassen, noch immer war der Fußboden dreckig. Da Gesa keine Putzmittel finden konnte, lief sie zu einem Drogeriemarkt in der Nähe. Sie kaufte Eimer, Wischmopp und Essigreiniger. Die Schlickspuren erwiesen sich als hartnäckig. Drei Mal musste Gesa das Wischwasser wechseln, bis sie schließlich die gröbsten Verschmutzungen beseitigt hatte.

Als sie fertig war, nahm Gesa ihr Handy und setzte sich auf die Treppe vor der Buchhandlung. Beim Aufräumen war ihr die literarische Wundertüte wieder in den Sinn gekommen, die sie dem Busfahrer versprochen hatte. Als Gesa den Begriff Schreibratgeber im Internet recherchierte, erhielt sie eine schier unübersichtliche Auswahl an Sachbüchern. Über das Schreiben von Sol Stein. Wie man einen verdammt guten Roman schreibt von James N. Frey. Romane schreiben und veröffentlichen für Dummies von Axel Hollmann und Marcus Johanus.

Während Gesa rätselte, welcher der Ratgeber am besten geeignet war, vermeldete ihr Handy das Eintreffen einer SMS . Dr. Bruno Penningbüttel hatte auf ihre Nachricht geantwortet. Noch bevor Gesa das erste Wort gelesen hatte, spürte sie, dass sie richtig tief in Schwierigkeiten steckte.

Liebe Frau Grambek,

 

was für schöne Neuigkeiten. Am besten, wir übernehmen die fünf neuen Policen gleich in unser elektronisches System. Ich bin heute bis siebzehn Uhr im Büro.

Bis gleich,

Dr. Bruno Penningbüttel

Gesa war froh zu sitzen. Sie hatte das Gefühl, die Farbe würde aus ihrem Gesicht weichen, und noch ehe sie überlegen konnte, wie sie mit dem von ihrem Chef anberaumten Termin umgehen sollte, sah sie Ole auf die Buchhandlung zuschlendern. Seine gesamte Erscheinung ließ darauf schließen, dass das Chicken-Nuggets-Gespräch mit Mattis ein voller Erfolg gewesen war. Ole wirkte glücklich. Sein Gesicht hatte einen gesunden Ton, seine Augen strahlten, sogar seine grauen Locken schienen neue Sprungkraft gewonnen zu haben.

Ole umarmte Gesa zur Begrüßung und geriet sofort in einen begeisterten Redeschwall. Er erzählte ihr von Sommers Weltliteratur to go , einem YouTube-Kanal, auf dem bekannte literarische Werke mit Playmobil-Figuren nachgespielt wurden. Der Kanal war im Jahr 2018 sogar mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet worden. Ole erzählte von Buch-Bloggern auf Instagram, von Hörbüchern, von Literatur-Podcasts, Apps, die in fünfzehn Minuten Romane zusammenfassten. Ole erzählte von Büchern mit Titeln wie Und am Ende sind alle tot, Weltliteratur für Eilige und Brockhaus Literaturcomics.

Bei dem Wort Brockhaus zuckte Gesa zusammen. Immerhin war es eine sechzehnbändige Brockhaus-Enzyklopädie gewesen, die Ole auf den Kopf gefallen war. Doch seine Euphorie war so grenzenlos und ansteckend, sein Glaube, alles werde sich zum Guten wenden, wirkte so unerschütterlich, dass Gesa die Lüge ihrem Chef gegenüber für einen Moment weniger bedeutsam erschien. Doch als der viel zu kurze Moment vorbei war, wurde Gesa klar: Sie musste mit Penningbüttel reden.

«Zwar habe ich keine Ahnung, wie ich die Sanierung und die Anschaffung neuer Bücher finanzieren soll, ein Anfang jedoch ist gemacht. Mattis hat sogar eine Instagram-Seite für meine Buchhandlung eingerichtet.»

Gesa versuchte sich an einem Lächeln. «Ich freu mich so für dich. Das sind großartige Neuigkeiten. Übrigens, ich muss noch mal los, mein Chef will mich sprechen.»

«Da komme ich natürlich mit. Der wird sich sicherlich freuen, dass wir einen Weg aus der Misere gefunden haben.»

«Also, nein … wirklich nicht … ich …»

«Keine Widerrede. Das ist doch selbstverständlich nach dem, was du für mich und meine Buchhandlung getan hast.»

Ein wiederholter Protest würde nichts bringen, erkannte Gesa. Ole zog sie von den Stufen hoch und bot ihr seinen Arm zum Unterhaken.