«I ch möchte ehrlich sein. Vielleicht ist es unangemessen, dass ein über Achtzigjähriger einer fast Sechzigjährigen so etwas sagt, aber du bist meine Tochter. Ich erlaube mir das jetzt.» Rotger Grambek blickte betreten zu Boden. «Du riechst unangenehm, und deine Wohnung auch.»
«Das kommt vom Käse, weil …», versuchte Gesa sich an einer Erklärung, brach ihren Satz jedoch ab und verschwand im Bad.
Kurz bevor sie sich unter die Dusche stellte, warf sie einen Blick auf ihr Handy. Niemand außer ihrer Mutter hatte versucht, sie anzurufen. Keine Nachricht. Jetzt hatte sie endgültige Gewissheit: Ole wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Gesa schaltete das Handy aus und stellte sich unter die Dusche. Das warme Wasser, das ihr über den Körper rann, kam ihr vor wie eine Kaskade aus Tränen. Tränen, die nie versiegen würden.
Als Gesa in einer ausgeleierten Jogginghose und dem rosafarbenen Kapuzenpullover, den Ole ihr in Travemünde gekauft hatte, in die Küche trat, drückte Rotger Grambek gerade den Kühlschrankstecker zurück in die Steckdose. Ein sanftes Brummen setzte ein. Es klang beruhigend. Gesa nahm ihre Brille ab, um sie zu putzen. Als sie die Kühlschranktür öffnete, konnte sie wieder klar und deutlich sehen. Das ist ja seltsam, dachte sie und erinnerte sich, wie sie vor ein paar Tagen darüber nachgegrübelt hatte, ob ihr schwindendes Sehvermögen Zeichen einer sich anbahnenden Krankheit war.
Grauer Star?
Eine Sehnerv-Entzündung?
Eine Netzhautablösung?
Ihr Körper schien ihr etwas sagen zu wollen. Aber was?
Vater Grambek hatte inzwischen das Wohnzimmer aufgeräumt. Auf dem Tisch lag das Buch, das er vorhin aus dem Briefkasten gezogen hatte. Daneben standen ein Blech mit Mandel-Butter-Kuchen und ein Teller mit Leberwurstbroten, garniert mit sauren Gürkchen. Mutter Astas legendäres SoKo-Versorgungspaket.
Vater und Tochter setzten sich. Gesa griff hungrig nach einem Brot. Sie überlegte, wie sie beginnen sollte. «Ich habe meinen Chef angelogen wegen der Policen, zweimal», sagte sie schließlich, «da hat er mich gefeuert.»
Gesa schluckte den letzten Rest des Leberwurstbrotes herunter, nahm sich ein Stück Kuchen vom Blech und begann, von den Details ihrer Kündigung zu erzählen. Die unbekannte Frau, mit der sich Ole so angeregt unterhalten hatte, ließ sie allerdings aus.
Vater Grambek runzelte die Augenbrauen.
«Du hast gehandelt aus, nun … wie soll ich sagen.»
«Aus Angst vor dem Jobverlust? Aus Liebe?», half Gesa ihrem Vater.
«Genau, also unter anderem, also beides, aber mehr aus Liebe. Ich bin nicht gut in diesen Dingen, also mit Gefühlen.»
«Ich offenbar auch nicht.»
Während ihres Gesprächs hatte Gesa sich die ganze Zeit an dem Versorgungspaket ihrer Mutter bedient. Ihr Magen war vollkommen überfordert mit dieser Zumutung. Ein Mandelplättchen bahnte sich den Weg in die Speiseröhre zurück. Gesa musste husten. Sie hustete und hustete und rannte schließlich ins Bad, wo sie sich in der Toilette erbrach.
«Ach, Kind», seufzte Vater Grambek und stellte eine dampfende Tasse Kamillentee vor Gesa auf den Tisch.
«Ich weiß einfach nicht weiter, Papa. Ich bin fast sechzig Jahre alt, wie soll ich eine neue Stelle finden? Und da du vorhin von der Liebe gesprochen hast: Ole Oevermann hat sich in der Zwischenzeit offenbar anderweitig orientiert.»
Zärtlich strich Rotger Grambek seiner Tochter über den Kopf.
«Sicher? Gibt es Indizien oder sogar Beweise?»
«Absolut. Ich habe ihn mit dieser anderen Frau sprechen sehen.»
«Das ist doch kein Grund, den Buchhändler gleich abzuschreiben. Vielleicht war das nur eine Bekannte? Ruf ihn an und frag nach.»
Gesa verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. «Nein, auf keinen Fall. Ich weiß, wie die Männer ticken. Und davon abgesehen: Wenn die Frau nur eine Bekannte ist, warum meldet er sich dann nicht bei mir?»
Rotger Grambek legte die Stirn in Falten. «Das lässt sich bestimmt aufklären.»
Entschieden schüttelte Gesa den Kopf.
Eine Weile schwiegen Tochter und Vater. Irgendwann fiel Gesas Blick auf das Buch, das ihr jemand in den Briefkasten gelegt hatte. Wer konnte das gewesen sein? Oder war das Buch vielleicht nur aus Versehen bei ihr gelandet und eigentlich für einen Nachbarn bestimmt?
Leben im Hier und Jetzt. Ein Achtsamkeitstagebuch für positives Denken im Alltag.
Verbittert betrachtete Gesa den türkisfarbenen Umschlag, auf dem Blumen und Schmetterlinge abgebildet waren.
Leben im Hier und Jetzt.
Als ob das ein erstrebenswerter Zustand wäre. Was für positive Momente sollte sie aus dem Hier und Jetzt notieren? Kraken, die ihr den Rücken heraufkrochen? Fausthiebe, die ihr in die Magengrube fuhren? Gesa warf einen Blick in das Buch.
Ich bin dankbar für
1)
2)
3)
Wem schenke ich Liebe?
1)
2)
3)
Meine Wahrnehmungen
Berührung:
Geruch:
Geschmack:
Gehör:
Sehen:
Gesa wurde derart wütend, dass sie das Achtsamkeitstagebuch am liebsten weit von sich geschmettert hätte. Nur mit Mühe konnte sie diesen Impuls unterdrücken. Immerhin war vorhin schon eine Brille durch das Wohnzimmer geflogen, glücklicherweise unter alleiniger Zeugenschaft des Kuukkeli.
«Hast du denn zufällig etwas von Herrn Oevermann gehört, also ich meine, von seinem Laden?», fragte Gesa ihren Vater.
«Leider nicht. Ich war vorhin kurz bei deinem Bruder im Bestattungsinstitut, um nach dem Rechten zu sehen. Da kam ich an der Buchhandlung vorbei. Die Fensterscheiben waren von innen mit Zeitung beklebt. An der Tür hing ein Zettel, auf dem Geschlossen stand.»
Der Krake drückte seine Saugnapfarme kräftiger um Gesas Oberkörper.
«Ich muss jetzt leider los. Deine Mutter wartet mit dem Essen. Vielleicht begleitest du mich zur Haustür? Der ganze Müll muss raus, allein schaffe ich das nicht.»
Unten angekommen, zögerte Gesa einen Augenblick, bevor sie den Briefkasten aufschloss. Wider alle Vernunft wünschte sie sich, dort eine Nachricht von Ole zu finden. Der Briefkasten war leer.
Vor der Haustür umarmte sie ihren Vater und versprach, sich am nächsten Tag zu melden. Gesa winkte Rotger Grambek nach, bis er um die Ecke verschwunden war.
Doch gerade als sie die Tür schließen wollte, kam etwas auf sie zugestürmt. Es war ein Hund, ein Pudel. Ein Königspudel mit Strasshalsband.
«King Kong, was machst du denn hier?» Gesa kraulte das gelockte Tier zwischen den Ohren. «Wo ist dein Frauchen?» Gesa sah sich um, in der Erwartung, Isa Egge würde auftauchen. Doch da war niemand.
«Bist du weggelaufen?»
Der Pudel bellte einmal kurz.
«Ich deute das als Bestätigung. Du kannst bei mir bleiben, komm, wir gehen nach oben, ich muss mich ausruhen. Danach bringe ich dich zurück nach Hause», setzte Gesa hinzu, obwohl sie nicht wusste, wo Isa Egge genau wohnte, vermutlich in der Nähe der Buchhandlung. Vielleicht würde der Pudel den Weg finden.
Umstandslos folgte King Kong Gesa in die dritte Etage. In der Wohnung trottete er ebenso umstandslos, als hätte er nie etwas anderes gemacht, zum Sideboard im Wohnzimmer, wo er dem Kuukkeli kurz über das Gefieder leckte, wie um einen alten Freund zu begrüßen. Und als Gesa sich auf das Sofa legte, legte sich King Kong umstandslos davor, als wäre es seit eh und je seine Aufgabe, Gesa beim Schlafen zu bewachen.
Mittlerweile war Gesas Tag-Nacht-Rhythmus vollkommen durcheinander. Als sie und King Kong sich auf den Weg machten, schliefen die meisten Lübecker tief und fest. Die Nacht war sternenklar. Ein Windstoß kletterte unter Gesas Mantel und ließ sie frösteln. Gesa war froh, den Pudel an ihrer Seite zu haben. Gestärkt durch die Reste der Wumbo-Pizza, lief King Kong zielstrebig voraus. Gesa hingegen genoss es, sich treiben zu lassen.
Lübeck bei Nacht war so bezaubernd. Der Anblick ließ für einen Moment alle Sorgen in den Hintergrund treten.
Die Königin der Hanse präsentierte ihre Postkartenmotive in hinreißender Beleuchtung. Das Holstentor glänzte safranfarben, das Rathaus kupfern. Die beiden Türme der Marienkirche schimmerten pistazienartig, der Turm der St.-Petri-Kirche wie Jade. Während Gesa mit King Kong durch die fast menschenleeren Straßen schlenderte, überlegte sie, wie der Pudel zu ihr gekommen sein könnte. War Isa Egge vielleicht in der Nähe von Gesas Wohnung spazieren gewesen, und King Kong hatte sich losgerissen? Woher wusste der Hund aber, wo Gesa wohnte? Oder war das alles ein großer Zufall?
Die Gesellschaft des Vierbeiners bereitete Gesa mehr und mehr Vergnügen. Zwar musste sie zugeben, dass ein Pudel nicht gerade ihrem ästhetischen Ideal eines Hundes entsprach, doch das freundliche Wesen des Tieres tat ihr gut. Wenn King Kong zu weit vorausgelaufen war, blieb er an jeder Ecke stehen, um sich umzuschauen und zu warten, bis Gesa zu ihm aufgeschlossen hatte. An roten Ampeln hielt das Tier. Bei grünen blickte er nach links, nach rechts und erneut nach links und überquerte erst im Anschluss die Fahrbahn. Konnten Pudel Farben unterscheiden? Gesa wusste nur, dass Kolibris mehr Farben erkennen konnten als Menschen. Wie gerne, ging es Gesa mit Verbitterung durch den Kopf, hätte sie Aussicht auf ein wenig bunte Farbe in ihrem Leben. Aktuell war ihr persönliches Farbspektrum ausnahmslos auf der Grauskala anzusiedeln.
Plötzlich stoppte King Kong. Sie hatten die Marlesgrube erreicht. Dann wohnte der Hund wohl tatsächlich hier in der Nähe. King Kong bellte zwei Mal, leckte Gesa über die Hand und verschwand.
Das mit Zeitungen verklebte Schaufenster der Buchhandlung mit eigenen Augen zu sehen, schmerzte Gesa noch mehr als bei der Erzählung ihres Vaters. Ole war doch so voller Tatendrang gewesen. War ihm in den letzten Tagen klar geworden, dass es für seine Buchhandlung keine Rettung mehr gab? Hatte er aufgegeben? Wie schwer das für ihn sein musste! Und auch Gesa versetzte die Vorstellung, dass Oevermanns Buchhandlung & Antiquariat nicht mehr existierte, einen Stich, ganz egal, was zwischen Ole und ihr war oder nicht war. Sie hatte sich gerade wieder an Bücher gewöhnt, sogar Gefallen an ihnen gefunden, und auch die Liebe, ja, auch an der hatte sie wieder Gefallen gefunden. Doch das Leben hatte offenbar andere Pläne.
Anfang und Ende. Hier vor dem Buchladen hatte es begonnen. Hier waren sich Gesa und Ole das erste Mal begegnet. Hier hörte ihre Geschichte auf. Der furchterregende Krake rief sich in Erinnerung. Er umklammerte Gesa und zog und zerrte an ihr. Alles begann sich zu drehen. Sie musste diesen Ort schleunigst verlassen.
Der Pudel war nirgends zu sehen. Hoffentlich war er inzwischen bei seinem Frauchen angekommen. Entschieden richtete sich Gesa auf. Einen letzten Blick. Einen allerletzten Blick nach oben würde sie wagen, sich stumm verabschieden. Gesa legte langsam den Kopf in den Nacken. So langsam, als hätte sie sich die Halswirbelsäule verklemmt und wäre nur eingeschränkt bewegungsfähig.
In Oles Wohnzimmer brannte Licht. Gesa hob schwach die Hand. Sie winkte der warmgelben Scheibe zu. Da näherte sich eine Silhouette. Sie bewegte sich immer weiter auf das Fenster zu und warf auf die Wand des gegenüberliegenden Hauses einen größer werdenden Schatten. Rasch drehte Gesa sich um und eilte davon. Sie hörte, wie ein Fenster geöffnet wurde, und war schon fast um die Ecke gebogen, als sie Oles Stimme in ihrem Rücken vernahm: «Sei dir selber treu! Und darauf folgt, so wie die Nacht dem Tage, du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen. Shakespeare. Kommst du rauf, Gesa?»