Kapitel 25

D as Wohnzimmer war nur durch den schwachen Schein der Troddellampe erleuchtet. Ole, bereits im Schlafanzug, ein Modell mit blassblauen Streifen, saß in seinem Ohrensessel, Gesa auf der Kante des Sofas. Sie hockte dermaßen knapp auf der Kante, dass sie fürchtete, jeden Augenblick herunterzufallen. Sie versuchte zu vermeiden, Ole anzustarren, doch weder die Holztruhe mit dem bestickten Deckchen noch die Anbauschrankwand mit den Sammeltassen, den Kerzen, den Fotos und dem Mini-Eiffelturm konnten es mit der Anziehungskraft des Buchhändlers aufnehmen. Oles Augen leuchteten im herrlichsten Turmalin.

Es war seltsam, dem Buchhändler wieder gegenüberzusitzen, aber zugleich wurde Gesa bewusst, wie sehr sie ihn vermisst hatte.

«Es kommt zurück, Gesa, es kommt zurück. Mein Buchwissen kommt zurück. Gestern ging es los, ausgerechnet mit Shakespeare. Mir fiel Hamlets berühmter Monolog wieder ein. Dann habe ich mich plötzlich daran erinnert, wie ich früher mit der Regionalbahn nach Kiel gefahren bin, um mir Literaturvorlesungen anzuhören.» Er hielt eine linierte Kladde hoch, die auf seinem Schoß gelegen hatte. «Ich habe in meinen damaligen Aufzeichnungen gestöbert. Noch beschränkt sich mein Literaturwissen auf das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert, doch ich bin zuversichtlich, dass sich der Rest auch bald finden wird. Es ist alles nur verschüttet, ich muss richtiggehend danach graben.»

Gesa rutschte auf der Sofakante hin und her. Einerseits war sie froh, Ole zu sehen, bei ihm zu sein. Es tat gut, ihm zuzuhören, seine bassig warme Stimme löste in Gesa wie immer das Gefühl von Geborgenheit aus. Andererseits wollte sie sich dieser Wohligkeit nicht hingeben. Ihre Gefühle wurden nicht erwidert, sie musste sich von der Vorstellung, dass sie beide ein Paar sein könnten, ein für alle Mal verabschieden.

«Der Pessimist ist jemand, der vorzeitig die Wahrheit erzählt. Cyrano de Bergerac. Geduld ist mit der Hoffnung blutsverwandt. Lope de Vega. Die Dinge haben nur den Wert, den man ihnen verleiht. Molière. Wie du siehst, werde ich langsam wieder zum wandelnden Zitate-Lexikon.» Ole stand auf, um ein Buch vom Schreibtisch unter dem Fenster zu nehmen. Es war ein dicker Wälzer mit dem Titel Big ideas. Das Literatur-Buch. Wichtige Werke einfach erklärt. Ole setzte sich neben Gesa auf das Sofa. Durch die plötzliche Nähe fühlte sie sich eingeschüchtert, geradezu verklemmt wie ein Teenager.

Spontan musste sie an Jan Nummer eins, den Bassisten, und die Bundesjugendspiele im Jahr 1976 denken.

Gesa gab sich Mühe, souverän zu wirken. Das war schwierig. «Guten Abend, wie geht es dir?» , war der einzige Satz, den sie bisher vorgebracht hatte. Und schweigend souverän zu wirken, das funktionierte allein über die Körperhaltung. Gesa richtete sich auf.

«Das Buch habe ich aus der Bibliothek. Aus der, in der Ophelia früher …» Ole legte eine Pause ein. Er wischte sich über die Augen, bevor er fortfuhr. «Ein unsagbarer Schatz. Vom Gilgamesch-Epos über Dante Alighieri, Charlotte Brontë bis zu Jonathan Safran Foer. Alles drin. Wenn mir das Lesen zu viel wird, schaue ich diese YouTube-Videos, die Mattis mir empfohlen hat.»

Bevor Gesa ihr bereits eine Viertelstunde anhaltendes Schweigen allzu peinlich wurde, nahm sie all ihren Mut zusammen. «Hast du deine Buchhandlung aufgegeben? Als ich vorbeiging, habe ich bemerkt, dass der Laden geschlossen ist. Ist das dauerhaft?»

Bei dieser Frage sank Ole zusammen und setzte sich wieder. «Ich weiß es nicht, leider. Das Wasser hat großen Schaden angerichtet. Vieles ist unbrauchbar geworden.»

«Das ist alles meine Schuld. Es tut mir so wahnsinnig leid. Hätte ich die Vorzeichen des Hochwassers erkannt, hätte ich vorgesorgt. Außerdem, wenn wir nicht diese Rabattaktion ins Leben gerufen hätten, wären dir auch die Bücher nicht auf den Kopf gefallen.»

Ole griff nach Gesas Hand. Als sie zurückzuckte, stand er auf und lief im Wohnzimmer umher. Schließlich trat er ans Fenster. Er blickte auf die Marlesgrube herunter. «Es war nicht deine Schuld. Das ist einfach der Lauf des Lebens.» Ole öffnete das Fenster. «Wenn die Seele bereit ist, sind es die Dinge auch. Shakespeare.»

Obwohl sich Gesa freute, dass Oles Buchwissen sich aus seinem Unterbewusstsein langsam wieder an die Oberfläche kämpfte, waren ihr die ganzen Zitate gerade zu viel. Welche Seele meinte Ole? Seine? Ihre? Und warum hatte er sich nicht mit einem Wort erkundigt, wie es ihr in den letzten Tagen ergangen war? Er hatte doch mitbekommen, dass sie das Gebäude der Lübeck-Safe-AG fluchtartig verlassen hatte. Offenbar hatte er in dem angeregten Gespräch mit der fremden Frau den Karton in Gesas Händen mit den Habseligkeiten aus ihrem Büro nicht bemerkt. Ein klares Zeichen, dass er nur Augen für die andere gehabt hatte.

Gesa erhob sich.

«Warum hast du dich seit unserem letzten Treffen nicht mehr bei mir gemeldet?», fragte sie.

«In den letzten drei Tagen ist viel passiert. Entschuldige. Aber du bist so überstürzt aufgebrochen nach deinem Besuch bei der Versicherung. Ich hatte den Eindruck, du wolltest in Ruhe gelassen werden.»

Gesa hätte am liebsten genickt und zugleich den Kopf geschüttelt. Stattdessen presste sie «Etwas vielleicht» hervor. «Und was hatte es mit dieser Frau auf sich? Du sahst so glücklich aus.»

«Das stimmt.» Ole strahlte über das ganze Gesicht. «Überglücklich sogar. Doch das soll jetzt nicht das Thema sein. Wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?»

«Nein», antwortete Gesa und senkte den Kopf. «Penningbüttel hat mich rausgeworfen.»

Oles Augen weiteten sich. «Und das sagst du erst jetzt? Das ist ja schrecklich. Du Ärmste. Warum hast du mich nicht angerufen? Was ist passiert?»

In Kurzversion erzählte Gesa von ihren Schwindeleien.

«Lügen sind zu verurteilen. Doch du hattest deine Gründe. Wir finden eine Lösung. In Sachen Buchhandlung möchte ich es auf einen letzten Versuch ankommen lassen, einen Rettungsversuch. Mattis und die Pudelfreunde, wir haben in den letzten Tagen Pläne geschmiedet. Die Damen plagt ein schlechtes Gewissen, weil auch sie denken, sie seien schuld an meinem Unfall. Ich weiß nicht, ob unser Konzept aufgeht. Falls ja, kannst du bei mir einsteigen.»

Darüber musste Gesa nachdenken. Zeit hatte sie ja nun zur Genüge. Aus wirtschaftlicher Sicht war das keine schlechte Idee, schließlich brauchte sie eine neue Stelle, allerdings in Bezug auf ihre Gefühle …

«In zwei Tagen mache ich die Buchhandlung wieder auf. Gesa, es tut mir leid, ich muss ins Bett, es ist kurz vor Mitternacht, morgen ist noch viel zu erledigen.»

«Selbstverständlich.»

Im Flur standen Gesa und Ole eine Weile wortlos vor den Bücherregalen mit den Netzen.

«Weißt du noch, warum diese Netze da sind?», fragte Gesa in die Stille hinein.

Ole nickte.

«Weißt du noch, woher ich diesen Pullover habe?» Gesa tippte mit dem Zeigefinger auf den Aufdruck Travemünder Küstenkind.

Ole nickte erneut. «Es wäre toll, wenn du mich dabei unterstützt, meine Buchhandlung zu retten. Du sollst dich natürlich nicht verpflichtet fühlen, doch ich würde mich freuen, wenn du dabei bist. Kommst du morgen Vormittag?»

Gesa war hin- und hergerissen. Einerseits fühlte sie sich verpflichtet, Ole unter die Arme zu greifen, schließlich empfand sie immer noch Verantwortung dafür, dass er überhaupt in diesen Schwierigkeiten steckte. Andererseits verspürte sie keine große Lust, womöglich der eleganten Frau zu begegnen. Ole hatte sie mit keinem Wort erwähnt.

Gesa holte tief Luft. Sie mochte Ole sehr, und wenn aus ihnen auch kein Paar werden konnte, dann wollte sie wenigstens versuchen, mit ihm befreundet zu bleiben. «Ich werde da sein», sagte sie schließlich. Die Liebe, überlegte Gesa, die Liebe hatte wieder einmal links angetäuscht und war rechts vorbeigedribbelt. Manche Dinge änderten sich nie. «Schlaf gut.»

«Du auch», erwiderte Ole. «Freundschaft heißt vergessen, was man gab, und erinnern, was man empfing. Leider weiß ich nicht, wer das gesagt hat.»

Freunde, dachte Gesa. Nicht weniger und nicht mehr, das waren sie jetzt.

(neue Szene)

Am nächsten Tag stand Gesa wie verabredet vor dem Buchladen. Von innen drang Stimmengewirr heraus. Gesa zögerte. Auf unerklärliche Weise hatte sie den Eindruck, erneut vor einem unsichtbaren Weidezaun zu stehen. Wie bei ihrem ersten Besuch. Doch noch ehe sie allzu lange darüber nachdenken konnte, trat Mattis aus dem Laden.

Er strahlte Gesa über das ganze Gesicht an. «Frau Grambek, habe schon gehört, dass Sie kommen, um zu helfen. Können Sie mir sagen, wo der Bautrockner hinmuss?»

«Guten Morgen. Der muss zurück in den Perlmuttbirnenweg, zu Lars Becker. Er soll dir auch die Rechnung mitgeben. Aber dazu brauchst du ein Auto. Darfst du überhaupt schon fahren?»

«Darum kümmern wir uns gemeinsam. Mattis hilft nur beim Tragen, das Fahren übernehme ich», sagte ein freundlich wirkender Mann, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war.

Gesa überlegte, woher sie ihn kannte.

«Gestatten, Thomas Egge, Thomas reicht. Wir sind uns schon einmal begegnet. Während des Hochwassers, wissen Sie noch? Ich musste King Kong tragen, den kleinen Angsthasen.»

«Dunkel kann ich mich erinnern.» Ehe Gesa fragen konnte, ob der Pudel wieder wohlbehalten zu Hause angekommen war, waren Thomas Egge und Mattis bereits in der Buchhandlung verschwunden.

Nun musste sie sich wieder mit dem unsichtbaren Weidezaun auseinandersetzen. Symbol für ihre Ängste. Die Furcht vor Büchern hatte sich erledigt. Eine neue hatte ihren Platz eingenommen. Eine, die Gesa jedoch nicht klar benennen konnte, weil sie aus vielen verschiedenen Ängsten bestand, darunter die Angst, die Buchhandlung könnte nicht vor dem Bankrott gerettet werden. Die Angst davor, dass sie selbst die Jahre bis zur Rente finanziell nicht über die Runden kommen würde. Die Angst davor, dass ihre Gefühle für Ole vielleicht doch bereits viel zu tief waren, um sie einfach zu ignorieren oder auf Freundschaft umzuprogrammieren.

Schließlich straffte Gesa die Schultern. All diese Ängste konnte sie nicht von heute auf morgen verschwinden lassen, aber sie war hierhergekommen, um Ole dabei zu helfen, seinen Laden zu retten. Und dazu musste sie ihn jetzt betreten.

 

In der Buchhandlung hatte sich viel verändert. Kaum zu glauben, was Ole und seine Helfer in den letzten Tagen auf die Beine gestellt hatten. Nur eine Handvoll der alten Regale stand noch am angestammten Platz. Andere waren hinzugekommen, schnörkelig, antik, teilweise mit Schubladen oder Glaseinfassungen. Neben dem Durchgang zum Hinterzimmer entdeckte Gesa einen etwa einen Meter langen Holzkahn, in dem zu einer Pyramide gestapelte Reclam-Hefte lagen.

Die beiden Nähmaschinentische und die Registrierkasse hatten den Wasserschaden unbeschadet überstanden. Links neben der Eingangstür befand sich jetzt eine schulterhohe Vitrine, die mit dunkelgrünem Samt ausgeschlagen war. Auf dem Möbelstück lagen einige Netze. Überall auf dem Fußboden türmten sich Bücherstapel. Auf einem bemerkte Gesa die hölzernen Genreplaketten. Neben dem Fenster war ein Regal aufgebaut worden, dessen Funktion sich ihr nicht erschloss. Es war moderner als die anderen. An das obere Brett hatte jemand einen Zettel geklebt, auf dem Ausleihstation zu lesen war.

«Guten Morgen.» Ole lächelte warm. Er war aus dem kleinen Hinterzimmer gekommen und machte sich daran, eine Wäscheleine aufzuwickeln. «Sieh mal.» Grinsend zeigte er zur geöffneten Tür, wo Mattis sich sein Handy vor das Gesicht hielt und enthusiastisch in die Kamera sprach.

«Was macht er da?»

«Ein Reel für Insta», entgegnete Ole.

«Ein was?»

«Nun, ich hatte ja erwähnt, dass der Junge bei Instagram, du weißt schon, dieser Plattform im Internet, einen Account, ein Benutzerkonto für meine Buchhandlung eingerichtet hat: oevermannbuch_luebeck. Nach zwei Tagen hatten wir bereits fünfhundert Follower. Das sind Personen, die genau schauen, was wir hier machen. Und die hält er mit Videos und Fotos vom Wiederaufbau auf dem Laufenden. Die Buch-Blogger sind begeistert.»

«Es ist wirklich beeindruckend, was ihr alles geschafft habt. Woher kommen denn die neuen Möbel?» Gesa rückte ein Stück von Ole ab. Zu dicht bei ihm zu stehen, fiel ihr schwer.

«Die sind geliehen von den Egges, von Isa und ihrem Mann Thomas. Sie hatten nach einer Erbschaft etliche Möbel eingelagert. Wahre Schmuckstücke. Sogar die anderen Damen der Pudelfreunde helfen mit. Der Sessel aus meinem Wohnzimmer kommt auch noch runter. Er hat mir schon einmal Glück gebracht.»

«Dann kehrt er an seinen Ursprungsort zurück. Wie geht es jetzt weiter?»

«Mattis hat ein bisschen für mich recherchiert. Kennst du zufällig die Buchhandlung Acqua Alta in Venedig?»

«Nie gehört.»

Ole zog ein Handy aus der Hosentasche.

«Ist das deins?»

«Ja, hat Mattis mir organisiert. Ich muss mich ja an alles Neue hier anpassen. Sind echt praktisch, die Dinger.» Ole wischte auf dem Display herum, tippte etwas ein und hielt Gesa das Gerät hin. In diesem Augenblick fiel Gesa auf, dass sie heute Morgen vergessen hatte, ihre Brille aufzusetzen. Erstaunlicherweise funktionierten ihre Augen jedoch auch ohne Sehhilfe tadellos.

Gesa betrachtete die Bilder einer vollgestellten, aber gemütlich wirkenden venezianischen Buchhandlung, die sich dem Thema Wasser verschrieben hatte. Bis unter die Decke waren Bücher, Zeitschriften und Landkarten gestapelt. Die Druckerzeugnisse lagen auf Gondeln, Kanus, in Badewannen und wasserdichten Containern. Auf vielen der Fotos war eine Katze zu sehen. Sie musste zum Inventar gehören.

«Die Buchhandlung in der Lagunenstadt ist mehrfach dem Hochwasser zum Opfer gefallen. Wie bei uns.»

Gesa horchte auf. Hatte Ole gerade uns gesagt?

«Bücher mit Wasserschäden wurden zu Wänden und Stufen umfunktioniert, sogar eine Wasserrutsche hat man aus ihnen errichtet. Das Ganze wirkt vielleicht ein wenig chaotisch, zeugt aber von Humor. Einige Mitarbeiter tragen sogar Gummistiefel und wasserfeste Kleidung.»

«Und davon habt ihr euch inspirieren lassen?»

«Ja. Humor ist der Schwimmgürtel auf dem Strome des Lebens.» Ole hielt inne. «Es ist erstaunlich, das Zitat ist von Wilhelm Raabe. Meine Literaturerinnerungen sind im neunzehnten Jahrhundert angelangt.»

Aus einem Impuls heraus fiel Gesa Ole um den Hals, um gleich darauf zurückzuweichen. Mit hochrotem Kopf drehte sie sich um und ging zur Registrierkasse. Sie wünschte, sie könnte an der Kurbel drehen und ihre Gefühle für Ole für immer in einer der vier Schubladen einschließen. Konnte man bei Gefühlen innerlich auf die Bremse treten? Vielleicht durch Hypnose? Gesa erinnerte sich daran, dass Jost es vor zwei Jahren geschafft hatte, mit dieser Methode das Rauchen aufzugeben. Jost. Den hatte sie total vergessen. Sein enttäuschtes Gesicht am Tag ihrer Kündigung fiel ihr wieder ein. Seitdem hatte sie nichts mehr von ihrem Kollegen gehört. Schnell zog Gesa ihr Handy aus der Tasche und tippte eine SMS .

Jost, du hast ja mitbekommen, was passiert ist. Hast du diese Woche Zeit für ein Marzipan-Croissant? Bitte lass uns reden. LG , Gesa

Ole rieb seine Hände gegeneinander. «Na, jedenfalls haben mir die Egges einen Minikredit gegeben, um neue Bücher zu kaufen. Ist das nicht großartig? Hoffentlich kann ich ihnen das Geld schnell zurückzahlen. Hilfst du mir, die Regale einzuräumen, Gesa? Die Plaketten mit den Genres müssten auch noch befestigt werden, und ich wollte an der Decke noch Netze aufhängen zur Dekoration.»

Gesa bückte sich, um die Krimis und Thriller einzusortieren. Ole legte unterdessen die Netze auf den Boden, um sie zu entwirren.

Als Gesa nach einer halben Stunde fertig war und sich im Laden umsah, fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, die literarische Wundertüte für den Busfahrer zusammenzustellen. Achtzig Euro. Thema: Schriftsteller werden. Sie erinnerte sich an die Bücher, die sie bereits für ihn herausgesucht hatte. Über das Schreiben von Sol Stein. Wie man einen verdammt guten Roman schreibt von James N. Frey. Romane schreiben und veröffentlichen für Dummies von Axel Hollmann und Marcus Johanus. Auf ihrem Handy suchte sie die Bücher und ihre Preise heraus.

«Paktierst du mit dem Feind?» Ole war hinter Gesa getreten und schaute ihr über die Schulter.

Gesa wusste, was Ole meinte. Sie hatte einmal einen Bericht gesehen, in dem erklärt wurde, wie ein großer Onlinehändler zur Bedrohung für den stationären Buchhandel wurde. Beschämt ließ Gesa das Handy sinken und erzählte von ihrer Idee mit der literarischen Wundertüte für den Busfahrer.

Ole nickte. «Herr Pilz, den kenne ich gut. Ein fabelhafter Einfall, das machen wir. Bücher bestellen wir beim Barsortiment, eine Art Zwischen- beziehungsweise Großhändler. Ich organisiere die Exemplare.»

Isa Egge betrat den Laden.

«Frau Grambek, wie schön, Sie zu treffen. Wie geht es Ihnen?»

«Gut so weit. Tausend Dank für Ihr Engagement für die Buchhandlung.»

«Das ist doch selbstverständlich. Ohne uns wäre Herr Oevermann schließlich nicht verunfallt.»

Gesa wollte Einspruch erheben, aber ihr Protest wurde durch einen heranjagenden Pudel vereitelt. King Kong sprang an Gesa hoch, sie hatte Mühe, das Gleichgewicht zu halten.

«Nanu», wunderte sich Isa Egge, «eigentlich ist er eher zurückhaltend bei Menschen, die er kaum kennt.»

Der Hund schaute Gesa kurz in die Augen, und sie vermeinte, das Tier hätte ihr zugezwinkert, bevor es aus dem Laden zurück auf die Marlesgrube trottete. Fast so, als wären King Kong und sie Komplizen, die ein Geheimnis teilten. Dann war Gesa also nicht nur eine Kuukkeli-, sondern auch eine Pudelflüsterin. Eine arbeitslose, unglücklich verliebte Kuukkeli- und Pudelflüsterin. Gesa war froh, dass es hier so viel zu tun gab, froh, dass sie kaum dazu kam, über ihre vertrackte Situation nachzudenken.

«Die Flyer habe ich verteilt, Thomas organisiert auf dem Rückweg Apfelsaft und holt mit Mattis den Sessel von oben. Herr Oevermann, was gibt es für morgen noch zu tun?»

«Hier ist alles fertig», erwiderte Ole.

«Gut, dann werfe ich jetzt meine private Backstube an. Das soll eine Überraschung werden.» Isa Egge verabschiedete sich. Sie war schon durch die Tür, als sie sich umdrehte. «Was ist eigentlich mit den Exemplaren, die bei Immobilien unter Tage liegen?», erkundigte sie sich.

Das stimmte. Dort standen noch die Umzugskartons mit den Büchern, die Gesa gerettet hatte. Sie erzählte Ole davon, und die beiden machten sich auf den Weg zum Bestattungsinstitut.

Gero hatte sich auf ihren Anruf bisher nicht zurückgemeldet. Wie auf ein Zeichen hin vermeldete Gesas Telefon den Eingang einer Nachricht. Sie war jedoch nicht von ihrem Bruder, sondern von Jost.

Grambekerin, sorry, dass ich mich nicht eher gemeldet habe. Was genau ist passiert? Penningbüttel rückt nicht raus mit der Sprache. Marzipan-Date steht. Übermorgen? Kisses

Gesa lächelte. Jost war ihr offensichtlich nicht böse. Sie schob ihr Handy zurück in ihre Tasche und betrat Immobilien unter Tage .

«Einige Bücher in den Kartons waren leider noch feucht», sagte Ole. «Am besten legen wir die beiseite und verkaufen sie als Mängelexemplare.» Er stellte zwei Kartons aufeinander und wollte sie hochheben, als er innehielt.

Er sah Gesa mit einem Blick an, den sie nicht zu deuten wusste. Ein Mosaik aus Hoffnung, Traurigkeit und Wehmut. «An dem Tag, an dem alles anfing, weißt du noch …»

«Ja.» Gesa hatte ihre Stimme nicht mehr im Griff.

«Du bist vor der Buchhandlung hingefallen. Erinnerst du dich daran, was ich zu dir gesagt habe?»

«Wer Großes versucht, ist bewundernswert, auch wenn er fällt. Seneca.»

Ole tat einen hörbaren Atemzug und wollte offenbar gerade etwas erwidern, als Gesas Telefon klingelte.

«Liebes, ich habe versucht, deinen Bruder auf seiner Bestatterfortbildung am Ende der Welt zu erreichen. Ein fremder Mann ist ans Handy gegangen. Du weißt ja, wie es um mein Englisch bestellt ist, doch ich habe genau verstanden, was er gesagt hat. Gero ist nicht mehr dort, er ist verschwunden.»