Kapitel 28

G esa nahm eine Plastikdose aus dem Kühlschrank. Zwei Rouladen waren gestern übrig geblieben. Eine hatte Gero, eine Gesa bekommen. Inzwischen war Gero zurück in seiner Wohnung, um sich für sein Treffen mit Jost umzuziehen. Da ihr Zwillingsbruder keine Zeit verlieren wollte und nach dem Essen bei den Eltern direkt zu sich gefahren war, hatte er Gesa gebeten, seinen Koffer noch einen Tag länger zu beherbergen. Ihre eigene Verabredung mit Jost hatte Gesa auf nächste Woche verschoben.

Aus dem Schrank neben dem Herd holte Gesa einen Topf und kippte die Roulade hinein. Während der Herd seine Arbeit aufnahm, ging Gesa ins Wohnzimmer.

«Er hat eine Neue, ich hab’s doch gesagt.»

Der Kuukkeli hielt den Kopf gesenkt, fast so, als würde er sehr aufmerksam zuhören, als spürte er, dass ein solch wichtiges Thema wie die Liebe es erforderte, ganz genau aufzupassen.

«Gero hatte recht mit dem, was er gestern gesagt hat. Uns beiden ist die Liebe nicht wohlgesinnt. Dabei hatte alles so verheißungsvoll angefangen, als du und ich uns in den finnischen Kiefernwäldern zum ersten Mal begegnet sind.»

Hatte sich der kleine Kopf des Kuukkeli gerade wie zur Bestätigung bewegt? Ein unscheinbares Nicken?

Ein Zischen mischte sich in Gesas Versuch, die vermeintliche Körpersprache eines ausgestopften Vogels zu analysieren. Das Zischen kam aus der Küche. Von der Roulade, die schleunigst gewendet werden musste, damit sie nicht anbrannte.

Alles, was passiert, kann einmalig sein. Aber alles, was zweimal passiert, wird sicher ein drittes Mal passieren.

Sie wendete das Fleisch. Auch in ihrem Kopf wendeten sich die Gedanken. Bevor sie Ole kennengelernt hatte, war sie drei Mal verliebt gewesen.

 

  1. Jan, der Bassist, verliebt, Jungfräulichkeit verloren, Herz gebrochen

  2. Jan, der Zahnarzt, mit der Sprechstundenhilfe fremdgegangen, Herz gebrochen

  3. Onni, der Saunabauer und Schriftsteller, verlobt, gestorben, Herz gebrochen

 

Ole war Nummer vier. Sollte Coelho richtiggelegen haben, war eine Nummer vier in der Liebe nicht vorgesehen. Außerdem sagte man doch, dass aller guten Dinge drei seien.

Gesa wendete die Roulade erneut.

Wie war das eigentlich bei Ole? Sie hatte keine Ahnung, mit wie vielen Frauen er nach Ophelia zusammen gewesen war. War es nicht ungewöhnlich, dass ein solch attraktiver und charmanter Mann nie wieder jemanden gefunden hatte? Oder hatte er? Hatte er, und es Gesa gegenüber bloß nicht erwähnt?

Tränen traten Gesa in die Augen. Sie wischte sie beiseite und senkte den Blick. Da bemerkte sie, dass die Roulade, trotz des mehrfach darumgewickelten Fadens, auseinandergefallen war.

Im Wohnzimmer vermeldete ihr Handy den Eingang einer SMS .

Kannst du heute um 17 Uhr in die Buchhandlung kommen? Wir haben eine Überraschung.

LG , Ole

Gesa las die Zeilen fünf Mal hintereinander. Doch egal wie oft sie sie auch las, es würde nichts ändern. Das war nun wirklich mehr als eindeutig. Wir . Das konnte nichts anderes bedeuten als Fenja und ich . Doch das Wort Überraschung hatte ihre Neugierde geweckt. Zwar hatte sie keine große Lust, sich das Liebesglück der beiden anzuschauen, Oles Wunsch vorbeizukommen konnte Gesa allerdings nicht ausschlagen.

Sie legte ihr Handy auf den Tisch. Da traf ein ohrenbetäubender, schriller Pfeifton ihre Ohren. Die Roulade war jetzt nicht mehr nur zerfleddert, sondern angebrannt, und der Rauchmelder mahnte, dieses Malheur umgehend zu beseitigen. Geschwind nahm Gesa den Topf vom Herd. Sie stürmte in den Flur, wo der Besen neben der Garderobe stand.

Zurück in der Küche, erkannte Gesa, dass ihre Sprungfähigkeiten nicht ausreichten, um den Rauchmelder mithilfe des Besenstiels auszuschalten. Sie schob den Küchenstuhl unter das lärmende Gerät, kletterte auf die Sitzfläche und schlug mit dem Besenstiel mehrfach gegen den Rauchmelder. Schließlich verstummte er. Als Gesa erleichtert vom Stuhl steigen wollte, verhedderte sich der Besenstiel im Ärmel ihrer Bluse. Unsanft landete sie auf dem Küchenboden.

 

In der Marlesgrube traute Gesa ihren Augen nicht. Auf der Straße vor der Buchhandlung hatte sich eine lange Schlange gebildet. Sie reichte bis zur Höhe des Bestattungsinstitutes. Die Wartenden waren zumeist Frauen. Sie schätzte ihr Durchschnittsalter auf dreißig Jahre. Gesa hatte mit sich gerungen, ob sie nicht doch zu Hause bleiben und sich um ihren geschwollenen Knöchel kümmern sollte, doch ihre Neugier war stärker gewesen. Da ihre Schuhe nicht mehr passten, zumindest nicht der linke, hatte Gesa kurzerhand eine Pantolette mit kleinen Palmen in der Größe vierundvierzig aus Geros Koffer genommen, der immer noch im Flur stand. Nun trug sie links eine ihr viel zu große Männerpantolette und rechts einen Turnschuh in der Größe neununddreißig. Als Gesa an den Wartenden vorbeihumpelte, hörte sie Protest in ihrem Rücken.

Wieso drängelt die sich einfach vor?

Wo kommen wir hin, wenn das jeder machen würde?

Die simuliert doch nur, um einen Platz in der ersten Reihe zu bekommen.

Hast du ihre Schuhe gesehen? Ziemlich ungewöhnlich.

Kaum hatte Gesa die Eingangstür der Buchhandlung erreicht, erblickte sie Ole. In Anzug und Krawatte begrüßte er jeden Einzelnen mit Handschlag.

Das Turmalingrün seiner Augen funkelte warm, als er sie sah. «Gesa, schön, dass du da bist. Das Schicksal meint es gut mit mir.»

Gerade als Gesa etwas erwidern wollte, trat Fenja aus der Buchhandlung. Sie trug große goldene Kreolen, ein kobaltblaues Strickkleid und sah umwerfend aus.

«Gesa, Fenja. Fenja, Gesa», sagte Ole. «Ihr müsst euch selbst genauer miteinander bekannt machen. Ich kümmere mich um die Gäste.»

Die beiden Frauen traten beiseite. Fenja musterte Gesas Füße. «Interessante Schuhwahl.»

Gesa hatte von Fenja einen herablassenden Ton erwartet, doch die Frau lächelte gütig, was sie noch eine Stufe umwerfender machte. Sie war also nicht nur bildhübsch, sie war auch nett.

«Wenn Sie Hilfe brauchen, sagen Sie Bescheid. Wir haben Ihnen einen Platz in der ersten Reihe reserviert.»

«Danke, sehr liebenswürdig», presste Gesa hervor.

Eine sichtlich aufgeregte Frau tippte Fenja von hinten auf die Schulter. «Signieren Sie schon?»

«Das machen wir im Anschluss, da haben wir mehr Ruhe.»

«Danke, Frau Floriani. Es ist mir eine Ehre.»

Nachdem Fenja, die offenbar Fenja Floriani hieß, der aufgeregten Frau kurz die Hand gedrückt hatte, verschwand sie im Inneren der Buchhandlung.

Aus dem Augenwinkel beobachtete Gesa, wie Mattis, der ein wenig abseits stand, die Buchhandlung filmte und dabei in die Kamera sprach. Neugierig humpelte sie näher.

«… unglaublich. Flora Floriani. Danke, Bookies fürs Teilen, sonst wäre die Bestsellerautorin und Queen of Chick-Lit nie zu uns gekommen. Erst als Kinderbuchautorin und mit Chick-Lit bekannt, dann mit bewegenden Familiensagas berühmt geworden. Ole Oevermann ist überglücklich. Hatte wohl schon früh ein glückliches Händchen in der Liebe. Die Schlange vor der Tür ist lang, die Buchhandlung klein. Wer es heute nicht schafft, einen Platz zu ergattern, morgen gibt es einen Zusatztermin. Neunzehn Uhr, zwölf Euro Eintritt, ein Getränk und literarisches Gebäck inklusive.»

So langsam dämmerte Gesa, was hier vor sich ging. Die Namen allerdings verwirrten sie. Fenja. Flora. Floriani. Was denn nun? Und was zum Teufel war Chick-Lit? Hatte das vielleicht etwas mit Chicken Nuggets zu tun? Lit stand aller Wahrscheinlichkeit nach für Literatur. Aber was war Hähnchenliteratur? Ein Instagram-Phänomen? Gesa wollte gerade Mattis nach einer Erklärung fragen, der war jedoch schon wieder im Gedränge verschwunden.

Gesas Fuß schmerzte. Sie entschied, sich im Laden hinzusetzen. An der Tür begegnete sie erneut Ole. An ihm führte wohl kein Weg vorbei. Als Gesa auf seiner Höhe war, flatterte ihr Herz. «Glückwunsch.» Gesa vermied es, ihm direkt in die Augen zu schauen. Eine Schutzmaßnahme.

«Danke. Schön, dass du dich mit uns freust. Diese Frau ist ein Schatz, eine Perle, die zum zweiten Mal an mein Lebensufer gespült wurde. Man muss sein Herz an etwas hängen, was es lohnt. Hans Fallada. Gesa, es ist unglaublich. Meine Literaturerinnerung funktioniert wieder bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein.» Ole strahlte sie versonnen an, dann blickte er an Gesa herunter. «Was ist eigentlich mit deinem Fuß?»

«Rouladensturz.»

Ole wollte nach Gesas Hand greifen, aber sie entzog sich ihm. Gesa rechnete es Ole hoch an, dass er die Freundschaft zu ihr aufrechterhalten wollte, spürte allerdings, sie würde das nicht schaffen. Ihre Gefühle ließen sich nicht von Liebe auf Freundschaft umbuchen wie ein fälschlicherweise im Kleinkindabteil reservierter Sitzplatz bei einer Zugfahrt, die man im Ruheabteil hatte verbringen wollen.

«Rouladensturz. Das klingt lecker und dramatisch zugleich», erwiderte er jetzt. «Das musst du mir genauer erklären. Nimm schon mal Platz, ich bin gleich bei dir.»

Gesa nickte, zugleich verkrampfte sich ihr Magen. Ich wäre gern sehr viel näher bei dir, und das für immer, schrie alles in ihr, doch kein Wort davon kam über ihre Lippen.

 

In einer Ecke der überfüllten Buchhandlung stand Isa Egge. Sie verkaufte Fenjas Bücher aus Kartons heraus, vier unterschiedliche Romane, die zusammenzugehören schienen. Die Cover waren ähnlich gestaltet. Pastellfarben. Blumen. Schmetterlinge. Landschaften. Frauensilhouetten. Flora Floriani stand in geschwungenen Buchstaben auf den Umschlägen. Auch die Titel der Bücher wiesen Ähnlichkeiten auf.

Frühlingshoffnung.

Sommerliebe.

Herbstwünsche.

Winterglücksfall.

Ein Jahreszeiten-Ensemble. Isa Egge kam mit dem Verkauf kaum hinterher. Die Kundinnen rissen ihr die Exemplare förmlich aus den Händen. Gesa war Flora Floriani gänzlich unbekannt, doch augenscheinlich verfügte die Autorin über eine riesige Fangemeinde.

Neben Isa stand Thomas Egge und verteilte Gläser mit Apfelsaft oder Prosecco sowie Servietten mit Kuchenstücken. «Gesa, wie schön, dass Sie es einrichten konnten. Sockerkaka. Schwedische Zuckerkuchen. Aus dem Buch Die Kinder aus Bullerbü von Astrid Lindgren.»

Gesa nahm ein Stück des schwedischen Gebäcks und humpelte zu den beiden zusammengeschobenen Nähmaschinentischen, vor denen Stühle aufgestellt waren. Die Registrierkasse hatte man beiseite geräumt, den Ohrensessel vor das Fenster geschoben. Auf einem Tischchen befand sich ein Aufsteller mit dem Buch Herbstwünsche , daneben ein Sträußchen Lavendel, ein Stift, ein Brillenetui sowie eine Karaffe mit Zitronenwasser und ein Glas. Gesa nahm Platz. Neben ihr saß ein Mann mit einer Spiegelreflexkamera mit Teleobjektiv um den Hals. Er tippte ununterbrochen etwas in sein Handy.

Auf einmal berührte etwas Weiches, leicht Feuchtes Gesas Pantolettenfuß. Es war King Kong. Vorsichtig legte der Hund seinen lockigen Kopf auf Gesas lädierten Knöchel. Wärme durchströmte sie. Nicht nur Pudelwärme, sondern ein tiefes Gefühl von Geborgenheit. So schnell wie möglich, schwor sich Gesa, würde sie sich im Tierheim nach einem Hund erkundigen. Ein Hund würde sie niemals enttäuschen und immer an ihrer Seite sein. Gesa begann, King Kong zwischen den Ohren zu kraulen. Er hob den Kopf und zwinkerte Gesa zu.

 

«Meine Damen», Flora alias Fenja ließ den Blick über die Zuhörer schweifen, «und Herren, zumindest drei, wie ich sehe. Es freut mich sehr, heute hier zu sein. Der Mann, dem Sie diese Lesung zu verdanken haben, heißt Ole Oevermann.»

Applaus brandete auf. Ole erhob sich und deutete eine Verbeugung an.

«Herr Oevermann und ich kennen uns schon sehr lange, aus Schulzeiten. Wir haben uns damals in unterschiedliche Richtungen entwickelt, sind auseinandergegangen und haben uns nun wiedergefunden.»

Erneuter Applaus. Erneuter Krampf in Gesas Magen. Sie sah zu Ole, der neben ihr Platz genommen hatte. Er errötete.

«Ich möchte eine Lanze brechen für die sogenannten sozialen Medien», fuhr Fenja fort. «Sie werden ja immer verteufelt. Zeitfresser, zu anonym, Sie wissen, was ich meine. Aber ohne Instagram wäre ich heute nicht hier, ohne Instagram hätte ich Ole nicht wiedergefunden und hätte ihn nicht darin unterstützen können, seine Buchhandlung zu retten. Der gesamte Erlös des heutigen Abends kommt dem Wiederaufbau des Ladens zugute. Sie erleben hier gerade die Verknüpfung zwischen der analogen und der digitalen Welt, denn nur so können wir das Fortbestehen von Büchern perspektivisch sichern. Danke, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Danke an alle Buch-Blogger. Doch nun genug der Vorrede. Nun möchte ich Ihnen die Protagonistin meines neuesten Romans vorstellen.» Fenja setzte die Brille auf und goss sich Wasser ein.

In der Buchhandlung hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Gespannt sahen alle nach vorne. Gesa schielte zur Seite. Oles Gesicht war unverändert von einem zarten Rot überhaucht.

Fenja trank einen Schluck und räusperte sich.

Herbstwünsche. Gerlinde und die Liebe, das passte nicht zusammen. Das wusste sie, so wie man weiß, dass am 24. Dezember Heiligabend ist. So wie man weiß, dass man jedes Jahr am selben Tag Geburtstag hat. Einmal in ihrem Leben hatte Gerlinde die Liebe erlebt, doch das war so lange her, dass sie manchmal glaubte, die Erinnerung an die Liebe wäre reine Fiktion, so als würde dieses Gefühl aus einem Roman stammen, den sie so oft gelesen hatte, dass er ihr in Fleisch und Blut übergegangen war. In ausgedachte Leben zu tauchen, war schon immer Gerlindes größte Leidenschaft gewesen, doch die Vorstellung, die Einsamkeit dadurch hinweglesen zu können, war trügerisch …