A ls Gesa die Wohnungstür aufschloss, hatte ihr Knöchel beachtliche Ausmaße angenommen. Ein Arztbesuch war unausweichlich. Morgen würde sie als Erstes beim Orthopäden anrufen und einen Termin vereinbaren. Um die Zeit bis dahin zu überbrücken, hatte sie sich ein Kühlpack auf die geschwollene Stelle gelegt und es mit einem Küchentuch fixiert. Noch immer hing der Geruch der angebrannten Roulade in der Wohnung.
Nach dem Ende der Lesung hatte es frenetischen Applaus gegeben. Fenja hatte Ole zu sich gebeten, und die beiden hatten sich vor dem Publikum umarmt. Gesa hatte sich mit Hinweis auf den verstauchten Knöchel umgehend verschiedet.
Als es fast Mitternacht war und die zweite Tüte Marzipankartoffeln zur Neige ging, hatte Gesa das Gefühl, jeden verfügbaren Internetartikel über Flora Floriani gelesen zu haben.
Oles neue Freundin war 1956 in Lübeck geboren, hatte hier die Schule besucht und war danach nach Hamburg gezogen, wo sie zwei Kinder bekommen und sich schnell einen Namen als Kinderbuchautorin gemacht hatte. Ihre Reihe um Hasi Hops umfasste fünf Bände. Damals veröffentlichte sie noch unter ihrem richtigen Namen Fenja Fender. Das klang schon einmal deutlich weniger glamourös, was Gesa mit Genugtuung erfüllte.
Herauszufinden, dass Flora Floriani eigentlich Fenja Fender hieß, war nicht so einfach gewesen. Gesa musste weit in die Tiefen eines Fan-Forums hinabsteigen. Eine Leserin hatte den Namen hinter dem Pseudonym verraten und war dafür, soweit Gesa das beurteilen konnte, aus dem Forum gelöscht worden. Warum der entsprechende Beitrag noch sichtbar war, konnte sich Gesa nicht erklären.
Eine Sache ließ sich während der gesamten Recherche nicht von der Hand weisen: Fenja sah blendend aus. Die Männer mussten ihr reihenweise verfallen, und Ole gehörte nun auch dazu. Zum zweiten Mal in seinem Leben hatte er sich in diese Frau verliebt.
Wenn Gesa ehrlich zu sich war, passten die beiden wunderbar zusammen. Eine erfolgreiche Schriftstellerin und ein attraktiver Buchhändler, besser ging es nicht. Ein attraktiver Buchhändler und eine arbeitslose Versicherungskauffrau hingegen, das passte hinten und vorne nicht.
«Ich werfe hiermit offiziell die Flinte ins Korn», sagte Gesa zum Kuukkeli, nachdem sie vom Sofa aufgestanden war, um sich im Bad bettfertig zu machen.
Sie hatte gerade die Zahncremetube aufgeschraubt, als eine SMS ihres Bruders eintraf.
Noch wach?
Ehe Gesa antworten konnte, folgte ein Foto, ein Selfie von Gero und Jost. Wange an Wange grinsten ihre glücklichen Gesichter in die Kamera. Die beiden hatten den Arm umeinander gelegt, sodass man ihre Hände sehen konnte. Gesa stutzte. Trugen Gero und Jost Ringe? Und noch etwas irritierte Gesa. Im Hintergrund vermeinte sie, die Statue der Kleinen Meerjungfrau zu erkennen. Sie griff nach ihrer Brille, die sie bereits abgenommen hatte. Tatsächlich.
Danke, du Kupplerin. Richtig, wir sind in Kopenhagen, Fähre sei Dank. Ich bin der Liebe stets hinterhergereist, jetzt habe ich sie einfach auf meine Reisen mitgenommen. Übermorgen sind wir zurück.
Hugs and kisses, Gero und Jost
Gesa zog die Bettdecke bis zur Nase. Endlich konnte sie sich freuen. Wenigstens hatte sie Gero den letzten Anschubser zur Liebe gegeben. Es konnten nicht alle gewinnen. Aber sie waren Zwillinge. Sie hatten kooperativ in der Dunkelheit den Start ins Leben gefunden, waren sechzig Jahre stets füreinander da gewesen. Sie freute sich für ihren Bruder über seine Liebe, als wäre es ihre eigene.
Der Wind riss die letzten Blätter des Jahres von den Baumkronen, und sie hatte den Eindruck, der Himmel würde ihr auf den Kopf fallen. Gesa stand vor der Kapelle des Vorwerker-Friedhofes. Sie war lange nicht hier gewesen, viel zu lange. Dennoch fand sie zielsicher den Weg zu Onnis Grab. Während sie durch das parkähnliche Gelände humpelte, hatte sie ihre Hand in die Manteltasche geschoben, bemüht, das, was sich darin verbarg, keiner allzu großen Erschütterung auszusetzen. Sie lief durch den Findlingsgarten, bog in den Garten der Lichter und hielt schließlich auf die Pfade der Erinnerung zu.
Vor einem unscheinbaren Grab blieb Gesa stehen. Ein riesiger, einst sandsteinfarbener Findling, der seit nun dreiundzwanzig Jahren hier lag, wachte über Onni. Es war Gero gewesen, der damals die Beerdigung ausgerichtet hatte. Der Gesteinsblock, den er von einem Steinmetz aus Joensuuin, der größten Stadt des finnischen Nordkarelien, hatte anfertigen lassen, stand für Bodenständigkeit, Naturverbundenheit und Ruhe. Das passte wunderbar zu Onni.
Onni Hikipää
23.02.1957–15.03.1999
Erinnere Dich daran:
Wo auch immer Dein Herz ist,
wirst Du Deinen Schatz finden
(Paulo Coelho)
Die Jahre hatten dem Findling eine natürliche Patina verliehen. Trüb sah er aus. Verwittert. Aber trotzdem unerschütterlich.
Gesa setzte sich auf eine Bank, die in unmittelbarer Nähe des Grabsteins stand. Gut, dass sie heute Morgen zwei Strumpfhosen übereinander angezogen hatte. Der Wind zerrte nicht nur an den letzten Blättern der Baumkronen, sondern auch an Gesas Rock. Sie stellte ihre Tasche neben sich, um den gut behüteten Gegenstand aus ihrem Mantel zu holen. Es war der Kuukkeli.
«Damit du mal rauskommst. Immer nur auf dem Sideboard zu sitzen, das ist nicht gut für die Seele. Das hier sind zwar nicht die finnischen Wälder, aber Bäume sind schließlich Bäume», flüsterte sie dem ausgestopften Tier zu.
Vorsichtig blickte sich Gesa um, in der Angst, jemand könnte sie beobachten und für verrückt erklären. Nichts. Die Luft war rein.
«Schade, dass damals noch keine Baumbestattung angeboten wurde, die hätte Onni gut gefallen.»
Eine Amsel hüpfte skeptisch näher, so als würde sie den seltsamen Vogel, der ihrem Park einen Besuch abstattete, näher betrachten wollen. Einen finnischen Artgenossen bekam man schließlich nicht alle Tage zu Gesicht.
«Da liegt er, mein Onni. Seit so langer Zeit liegt er schon da. Und es ist, als wäre es gestern gewesen, dass wir …»
Sisu.
Hatte Onni das eben gesagt? Gesa hatte seine Stimme im Ohr. Der Wind, der in den Bäumen rauschte, glich Onnis Atem.
Sisu.
Finnisch. Unübersetzbar. Eine klaglose Beharrlichkeit, ein Durchhaltevermögen, eine Art Mut, die man als für die finnische Seele typisch bezeichnet. Viele Jahre hatte Gesa durchgehalten. Doch dann, dann hatte sie sich der Liebe angeboten, und was war geschehen? Es hatte ihr den Gnadenstoß versetzt. Nun war sie gefangen in einer nicht enden wollenden Kaamos, der finnischen Raunacht. In Rovaniemi, dem Ort, an dem Gesa und Onni sich 1995 kennengelernt hatten, wurde es rund um die Wintersonnenwende tagsüber nie richtig hell.
Nach ihrer bitteren Enttäuschung mit Ole hatte Gesa das Gefühl, auch in ihr würde es nie wieder richtig hell werden, ein Rest Dunkelheit würde ihr Leben lang zurückbleiben.
Das, was ihr blieb, waren die Erinnerungen. Ein Gutes jedoch hatte das alles: Ihre Angst vor Büchern war verschwunden, die Liebe zur Literatur war zurückgekehrt. Trotzdem war nicht die Zeit, untätig herumzusitzen. Gesa musste sich für ihre berufliche Zukunft etwas einfallen lassen und nahm sich vor, nächste Woche mit dem Schreiben von Bewerbungen zu beginnen.
«Ein Leben ohne Buchangst, das ist doch nicht schlecht, oder? Es ist zumindest ein Anfang», sagte Gesa zum Kuukkeli, woraufhin die Amsel wegflog.
Gesa zog ein Buch aus ihrer Tasche. Der Alchimist. Es war jene Ausgabe, die sie damals mit nach Finnland genommen hatte. Es war das einzige Buch, das sie nach Onnis Tod nicht entsorgt hatte. Sie begann zu lesen.
Selbst wenn ein Tag dem anderen gleicht, mit eintönigen Stunden, die sich zwischen Sonnenauf- und -untergang dahinschleppen, selbst wenn sie in ihrem kurzen Leben nie ein Buch lesen werden und die Sprache der Menschen nie verstehen …
Gesa fröstelte. Behutsam steckte sie den Kuukkeli wieder in ihre Manteltasche. Dann stand auf, um sich zum zweiten Abschnitt ihrer Abschiedstour von der Liebe zu begeben.
«Ich weiß, es klingt ungewöhnlich, doch es muss genau dieser Tisch sein.»
Die Bedienung des Café Niederegger starrte Gesa verständnislos an. Ihr Blick wanderte an Gesas Beinen herab, um an dem geschwollenen Knöchel zu verweilen. «Das kann leider dauern. Und den Fuß würde ich einem Arzt zeigen, sieht schlimm aus.»
«Ich habe morgen einen Termin. Und kein Problem, ich habe Zeit», erwiderte Gesa. Ich bin schließlich arbeitslos und habe auch sonst niemanden, der auf mich wartet, setzte sie im Stillen hinzu.
«Wenn Sie möchten, können Sie die Wartezeit in unserem Marzipanmuseum verbringen. Ich sage Bescheid, wenn Ihr Lieblingstisch frei wird.»
Erstaunlich. Von einem Marzipanmuseum im Café Niederegger hatte sie noch nie gehört. Gesa sah auf die Uhr. Sie hatte sich für dreizehn Uhr mit ihren Eltern hier zum Brunch verabredet, sie war viel zu früh dran.
«Zweite Etage. Schaffen Sie das?», erkundigte sich die Bedienung.
Gesa war die einzige Besucherin. Das Museum, dessen rotbraune Wände Behaglichkeit ausstrahlten, präsentierte eine Zeitreise des Marzipans von seinem orientalischen Ursprung bis heute. Auf zwei Info-Säulen gab es Wissenswertes über die Geschichte des Zuckers und der Mandeln zu lesen. Interessiert beugte sich Gesa über ein Originalrezept zur Herstellung von Marzipan aus dem Jahr 1806.
Unumstrittenes Highlight der Ausstellung waren jedoch die zwölf lebensgroßen Persönlichkeiten aus Marzipanmasse, von dem Bildhauer Johannes Kiefer modelliert. Für die Umsetzung dieses allzu köstlichen Projekts hatte man fünfhundert Kilogramm Marzipan verwendet. Zwischen Hans-Georg Niederegger und Wolfgang Joop saß Thomas Mann. Was für ein Ensemble. Eine Mischung aus Faszination für die Modellierfähigkeiten des Künstlers und Appetit auf Süßes kaperte Gesa. Auch wenn es ihr vollkommen unangemessen erschien, kaperte sie noch dazu eine unermessliche Lust, Thomas Mann die süße Nase abzubeißen.
Um sich von der Versuchung abzulenken, schob Gesa die Hand in ihre Manteltasche. Sie hatte den Kuukkeli fast vollständig aus dem Stoff herausgezogen, als Stimmen hinter ihr ertönten. Eilig schob sie das ausgestopfte Tier zurück.
«Hast du schon von der Entdeckung gehört, dieses Schriftstück aus dem kleinen Buchladen?»
«Nein.»
«Das ist unglaublich. Es handelt sich um einen Schulaufsatz, eines unserer Mitglieder sitzt gerade über der grafologischen Analyse. Noch ist es nicht hundertprozentig erwiesen, aber wenn du mich fragst, stammt der Text vom großen Meister selbst.»
Gesa bemühte sich, so diskret wie möglich einen Blick auf die beiden Männer hinter sich zu werfen.
«Wie seid ihr denn an diesen Schatz gekommen?», fragte einer der beiden.
«Herr Oevermann, der Buchhändler, und ein junger Mitarbeiter von ihm haben ihn entdeckt. Das Schriftstück lag in einer alten Kasse, versteckt hinter der Geldschublade.»
«Und wie geht es jetzt weiter?»
«Das wissen wir noch nicht. Sollte sich bestätigen, dass der Text von Thomas Mann stammt, wäre das eine Kostbarkeit, die sich nicht mit Geld aufwiegen ließe.»
«Das wäre eine Sensation.»
«Wie gesagt, die Thomas Mann-Gesellschaft prüft und würde dem Buchhändler ein großzügiges finanzielles Angebot unterbreiten. Da werden einige Interesse haben, das Buddenbrookhaus und auch das Thomas-Mann-Archiv in Zürich. Wir alle träumen seit Jahren von einem derartigen Fund.»
Gesa drehte sich ruckartig um. Sie umarmte erst den einen Herrn, war sich allerdings noch in der Umarmung unsicher, welcher der beiden von der Thomas Mann-Gesellschaft war. Sicherheitshalber umarmte sie zusätzlich den anderen Herrn und humpelte danach, so schnell es ihr möglich war, die Treppe herunter. Auf der Etage, auf der sich das Café befand, lief sie der Bedienung in die Arme.
«Sie kommen wie gerufen. Gerade ist Ihr Lieblingstisch frei geworden.»
Und da Gesa im Umarmungsmodus war, fiel sie kurzerhand der Bedienung um den Hals.