Kapitel 1
Im Morgengrauen braute sich vor der Küste ein Sturm zusammen. Ich sah ihn in den dicht über dem Horizont hängenden dunklen Wolkenbergen kommen. Fühlte ihn im Wind, der aus Norden blies, kälter als die Abendluft. In der Wettervorhersage hatte ich nichts gehört, aber bei einer Sommernacht in Littleport hatte das nichts zu bedeuten.
Ich trat vom Steilufer zurück, stellte mir wie so oft vor, Sadie stünde hier. Ihr blaues Kleid flatternd im Wind, das blonde Haar über ihr Gesicht geweht, den Blick starr in die Ferne gerichtet. Die Zehen um die Kante gekrallt, eine leichte Gewichtsverlagerung. Dieser Moment – der Angelpunkt, an dem ihr Leben die Balance verlor.
Was hätte sie mir wohl gesagt, da am Abgrund? Es gibt Dinge, die sogar du nicht weißt.
Ich kann das nicht mehr.
Behalte mich in Erinnerung.
Aber eigentlich war die Stille auf perfekte und tragische Weise typisch für Sadie Loman, sie ließ alle mit dem Wunsch nach mehr zurück.
Das weitläufige Anwesen der Lomans hatte sich einmal wie ein Zuhause angefühlt, warm und tröstlich – das Steinfundament, die blaugraue Schindelverkleidung, Türen und Fensterrahmen
weiß gestrichen und an Sommerabenden jedes Fenster erleuchtet, als wäre das Haus lebendig. Jetzt reduziert auf eine dunkle und leere Hülle.
Im Winter war es leichter gewesen, sich etwas vorzumachen: sich um die Instandhaltung der Grundstücke im Ort kümmern, die zukünftigen Buchungen verwalten, den Neubau überwachen. Die Stille der Nebensaison war ich gewohnt, die schwelende Ruhe. Aber in der Sommerhektik, mit den Besuchern, wenn ich immer auf Abruf stand, ein Lächeln im Gesicht, die Stimme zuvorkommend – dann bot das Haus einen krassen Kontrast. Eine Abwesenheit, die spürbar war, wie ein Geist.
Wenn ich nun abends auf dem Weg zum Gästehaus daran vorbeiging, ließ irgendetwas mich immer zweimal hinschauen – eine verschwommene Bewegung. Für einen schrecklichen, schönen Moment dachte ich: Sadie. Aber das Einzige, was ich je in den dunklen Fenstern erblickte, war mein verzerrtes Spiegelbild, das mich ansah. Mein ganz persönlicher Spuk.
In den Tagen nach Sadies Tod blieb ich hier draußen am Ortsrand und kam nur, wenn ich aufgefordert wurde, sprach nur, wenn ich angesprochen wurde. Alles spielte eine Rolle, und nichts.
Ich machte bei den beiden Männern, die am nächsten Morgen an meine Tür klopften, meine gestelzte Aussage über jene Nacht. Der zuständige Detective war der gleiche Mann, der mich in der Nacht zuvor bei den Klippen entdeckt hatte. Sein Name war Detective Collins, und jede gezielte Frage kam von ihm. Er wollte wissen, wann ich Sadie zuletzt gesehen hatte (hier im Gästehaus, um Mittag herum), ob sie mir ihre Pläne für den Abend mitgeteilt hatte (hatte sie nicht), wie sie sich an dem Tag verhalten hatte (wie Sadie)
.
Aber meine Antworten hinkten unnatürlich hinterher, als wäre eine Verbindung beschädigt. Ich hörte mich selbst wie von fern, während die Befragung stattfand.
Sie, Luciana und Parker sind alle getrennt auf der Party eingetroffen. Wie lief das noch mal ab?
Ich war zuerst da. Luciana kam als Nächste. Parker zuletzt.
Hier eine Pause. Und Connor Harlow? Wir haben gehört, er war auch auf der Party.
Ein Nicken. Eine Lücke. Connor war auch da.
Ich erzählte ihnen von der Nachricht, zeigte ihnen mein Handy, versicherte, dass sie mir geschrieben hatte, als wir alle schon zusammen auf der Party waren. Wie viel hatten Sie bis dahin schon getrunken?
, fragte Detective Collins. Und ich sagte zwei Drinks und meinte drei.
Er riss ein Blatt liniertes Papier aus seinem Notizblock, listete unsere Namen auf und bat mich, die Ankunftszeiten einzutragen, so gut ich konnte. Ich schätzte Luces Ankunftszeit danach, wann ich Sadie angerufen hatte, und Parkers danach, wann ich die Nachricht verschickt hatte, in der ich sie fragte, wo sie blieb.
Avery Greer – 18 Uhr 40
Luciana Suarez – 20 Uhr
Parker Loman – 20 Uhr 30
Connor Harlow –?
Ich hatte Connor nicht reinkommen sehen und runzelte die Stirn über dem Zettel. Connor war vor Parker da gewesen. Wann genau, weiß ich nicht,
sagte ich.
Detective Collins drehte den Zettel zu sich und überflog die Liste. Zwischen Ihnen und der nächsten Person ist eine große Lücke.
Ich erzählte ihm, dass ich alles vorbereitet hatte. Sagte ihm, die Neulinge kämen immer früh.
Die folgende Untersuchung verlief zügig und zielgerichtet,
was die Lomans zu schätzen gewusst haben mussten, in Anbetracht aller Tatsachen. Das Haus war dunkel geblieben, seit Grant und Bianca mitten in der Nacht mit der Nachricht von Sadies Tod zurückgerufen worden waren. Als die Reinigungsfirma und der Poolwartungswagen vor Memorial Day auftauchten – die Spinnweben entfernen, die Tresen polieren, den Pool öffnen –, sah ich von hinter den Vorhängen des Gästehauses aus zu und dachte, vielleicht kommen die Lomans zurück. Sie waren keine gefühlsbetonten Menschen, die sich in ihrem Unglück suhlten. Sie waren von der zuverlässigen Art, sie schätzten Fakten, egal in welche Richtung diese sich entwickelten.
Also, die Fakten: Es gab keine Anzeichen von Fremdeinwirkung. Weder Drogen noch Alkohol in ihrem Organismus. Keine Ungereimtheiten in den Befragungen. Es schien, als hätte weder jemand ein Motiv gehabt, Sadie Loman etwas anzutun, noch die Gelegenheit. Alle, die in Beziehung zu ihr standen, waren nachweislich auf der Plus-One-Party gewesen.
Es war schwer, gleichzeitig zu trauern und dein eigenes Alibi zu rekonstruieren. Jemand anderes zu beschuldigen, nur um dich selbst zu entlasten, war verführerisch. Es wäre so leicht gewesen. Aber niemand von uns hatte es getan, und ich fand, das sprach für Sadie selbst. Dass niemand sich vorstellen konnte, sich ihren Tod zu wünschen.
Die offizielle Todesursache war Ertrinken, aber auch den Sturz hätte man nicht überleben können – die Felsen und die Strömung, die Kälte.
Sie könnte ausgerutscht sein
, sagte ich den Detectives. Das wollte ich unbedingt glauben. Dass es nichts gab, was ich übersehen hatte. Kein Zeichen, das ich hätte erkennen, keinen Moment, in dem ich hätte einschreiten können. Doch zunächst waren es die Schuhe, die sie an etwas anderes denken ließen. Ein freiwilliger Akt. Die zurückgelassenen goldenen Sandalen.
Als hätte sie angehalten, um sie auszuziehen, auf dem Weg bis zur Kante. Ein Moment des Innehaltens, bevor sie weiterging.
Ich kämpfte sogar noch dagegen an, als ihre Familie es akzeptiert hatte. Sadie war mein Anker, meine Mitverschwörerin, die Kraft, die mein Leben für so viele Jahre geerdet hatte. Bei der Vorstellung, sie könnte gesprungen sein, geriet alles bedrohlich ins Wanken, genau wie in jener Nacht.
Aber später an dem Abend, nach den Verhören, fanden sie die Nachricht im Abfalleimer in der Küche. Wahrscheinlich entsorgt, im Zuge des Leerens der Speisekammer, aus der sämtlicher Kram auf allen Flächen ausgebreitet worden war – das Resultat von Luces Versuchen zu putzen, ein wenig Ordnung zu schaffen, bevor Grant und Bianca mitten in der Nacht ankamen. Aber wenn man Sadie kannte, war es eher ein Entwurf, gegen den sie sich entschieden hatte; ein Zugeständnis an die Tatsache, dass keine Worte reichen würden.
Ich hatte die Warnzeichen nicht gesehen. Den Grund und die Folge, die Sadie bis zu diesem Punkt geführt hatten. Aber ich wusste, wie schnell man in einer Spirale gefangen sein, wie weit weg das Licht von unten erscheinen konnte.
Ich wusste genau, wozu Littleport imstande war.
Jetzt war ich allein hier oben.
Lebte und arbeitete immer noch im Gästehaus.
Innen war das Ein-Zimmer-Appartement wie eine Puppenhausversion des Haupthauses eingerichtet, mit der gleichen Vertäfelung und dem dunklen Holzfußboden. Die Wände standen jedoch enger, die Decken waren niedriger, die Fenster dünn genug, dass der Wind nachts in ihren Winkeln rüttelte. Der Meerblick war durch die Bäume teilweise verborgen.
Ich saß am Tisch im Wohnzimmer und beendete den letzten
Papierkram, bevor ich ins Bett ging. Es hatte Anfang der Woche einen Schaden in einem der Ferienhäuser gegeben – ein kaputter Flachbildfernseher, die Oberfläche gesprungen, das ganze Dinge hing schief von der Wand; und eine zerbrochene Keramikvase darunter. Die Mieter schworen, dass sie es nicht waren, beschuldigten einen Einbrecher, der während ihrer Abwesenheit da gewesen sein sollte, auch wenn nichts fehlte und es keine Zeichen gewaltsamen Eindringens gab.
Ich war direkt hingefahren, nachdem sie in Panik angerufen hatten. Begutachtete die Szene, während sie mit zitternden Händen auf den Schaden zeigten. Ein schmales, verwittertes Haus am Rand des Ortszentrums, das wir Trail’s End nannten und dessen verblichene Verkleidung und der überwachsene Pfad zur Küste seinen Charme nur noch verstärkten. Nun zeigten die Mieter auf den unbeleuchteten Pfad und die Entfernung zu den Nachbarn, als wäre das ein Sicherheitsmanko, eine mögliche Gefahr.
Sie beteuerten, sie hätten abgeschlossen, bevor sie den Tag über unterwegs gewesen waren. Sie seien sich absolut sicher und unterstellten mir, dass ich irgendwie Schuld hatte. Die Art, wie sie diese Tatsache mehrfach wiederholten – Wir haben abgeschlossen, das tun wir immer
–, reichte mir, um ihnen nicht zu glauben. Oder um mich zu fragen, ob sie etwas Ernsteres vertuschen wollten: einen Streit, jemanden, der die Vase geworfen hatte, die sich dann überschlagen und den Fernseher getroffen hatte.
Wie auch immer, der Schaden war angerichtet. Er war nicht hoch genug, dass es sich für die Firma lohnte, ihn zu untersuchen, schon gar nicht bei einer Familie, die seit drei Jahren immer den ganzen August hier verbrachte, vollkommen egal, was zwischen diesen Wänden passierte.
Ich streckte mich auf der Couch aus und griff nach der Fernbedienung, bevor ich ins Schlafzimmer ging. Ich hatte mir
angewöhnt, bei laufendem Fernseher einzuschlafen. Das leise Gewirr von Stimmen aus dem Nachbarraum, neben dem Geräusch des sanft klappernden Fensterrahmens.
Ich wusste genug von Verlust, um zu akzeptieren, dass die Trauer mit der Zeit ihre Schärfe verliert, die Erinnerung sich aber nur noch verstärkt. Einzelne Momente wiederholten sich immer wieder.
In der Stille war alles, was ich hören konnte, Sadies Stimme, die meinen Namen rief, als sie das Haus betrat. Das letzte Mal, dass ich sie sah.
Manchmal bleibt sie in meiner Erinnerung dort stehen, im Eingang zu meinem Zimmer, als würde sie darauf warten, dass ich etwas bemerkte.
Ich erwachte, und es war still.
Es war immer noch dunkel, aber die Geräusche des Fernsehers waren verstummt. Nur das Fensterrütteln, als eine kräftige Böe von irgendwo vor der Küste heranwehte. Ich legte den Schalter der Nachttischlampe um, aber nichts geschah. Schon wieder kein Strom.
Das passierte immer öfter, immer nachts, immer dann, wenn ich erst eine Taschenlampe suchen musste, um die Sicherung im Kasten neben der Garage wieder einzuschalten. Es war ein Zugeständnis an das Leben in einem Ort wie diesem. Exklusiv, ja. Aber zu weit von der Stadt entfernt und zu anfällig für die Umgebung. Die Infrastruktur an der Küste war nicht an die Bedürfnisse angepasst worden, Geld hin oder her. Die meisten Häuser hatten Notgeneratoren für den Winter, nur für alle Fälle; ein ordentlicher Sturm konnte uns für eine Woche oder mehr aus dem Versorgungsnetz katapultieren. Sommerstromausfälle waren das andere Extrem – zu viele Leute, die
Bevölkerung verdreifachte sich. Alles wurde zu stark ausgereizt. Das Netz überlastet.
Aber soweit ich das beurteilen konnte, war das hier lokal – betraf nur mich. Ein Problem, das sich ein Elektriker anschauen sollte.
Das Geräusch des Windes draußen führte fast dazu, dass ich beschloss, bis zum Morgen zu warten, aber der Akku meines Telefons war so gut wie leer, und die Vorstellung, hier oben allein zu sein, ohne Strom und ohne Telefon, gefiel mir nicht.
Die Nacht war kälter als erwartet, als ich, die Taschenlampe in der Hand, den Pfad zur Garage entlanglief. Die Metalltür zum Sicherungskasten fühlte sich kühl an und stand ein Stück offen. Sie hatte ein Schloss, aber das hatte ich selbst Anfang des Monats aufgebrochen, als dies hier zum ersten Mal passierte.
Ich legte den Hauptschalter um und schlug die Metalltür wieder zu, wobei ich diesmal darauf achtete, dass sie einrastete.
Auf dem Rückweg blies eine weitere Windböe, und das Geräusch einer zuknallenden Tür, das durch die Nacht hallte, ließ mich erstarren. Es war vom Haupthaus gekommen, auf der anderen Seite der Garage.
Ich ging die Möglichkeiten durch: ein Poolliegestuhl, der vom Wind erfasst worden war, ein Stück Schutt, gegen die Hausverkleidung geweht. Oder etwas, was ich selbst vergessen hatte zu sichern – die Hintertür, die nicht richtig verschlossen war vielleicht.
Das Schließfach für den Ersatzschlüssel war unter dem Steinüberbau der Veranda versteckt, ich fummelte daran herum und brauchte im Dunkeln zwei Versuche für den Code, bis der Deckel aufsprang.
Noch eine Windböe, noch ein Geräusch, diesmal näher – die
Scharniere eines Tores hallten durch die Nacht, als ich die Stufen der vorderen Veranda hochlief.
Ich wusste, dass etwas nicht stimmte, sobald ich den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte – die Tür war bereits entriegelt. Sie öffnete sich knarrend, und ich strich mit der Hand über die Wand innen, bis ich den Lichtschalter für das Foyer gefunden hatte und der leere Raum von dem Kronleuchter über mir erleuchtet wurde.
Und da sah ich ihn. Durchs Foyer, hinter dem Flur, am anderen Ende des Hauses. Den Schatten eines Mannes, der vor den gläsernen Terrassentüren stand, seine Silhouette im Mondlicht.
»Oh«, sagte ich und trat einen Schritt zurück, als er näher kam.
Seine Gestalt hätte ich überall erkannt. Parker Loman.