Kapitel 2
»Mein Gott«, sagte ich und tastete nach den restlichen Lichtschaltern. »Du hast mich zu Tode erschreckt. Was machst du hier?«
»Das ist mein Haus«, antwortete Parker. »Was machst du hier?«
Jetzt war alles hell. Das große Untergeschoss, die gewölbte Decke, der Flur, der die Entfernung zwischen mir und ihm umfasste.
»Ich hab etwas gehört.« Ich hielt die Taschenlampe wie zum Beweis hoch.
Er neigte den Kopf zur Seite, eine vertraute Geste, als würde er etwas gewähren. Sein Haar war länger geworden, oder er stylte es nun anders. Aber es machte die Kanten seines Gesichts weicher, rundete die Wangenknochen ab, und eine Sekunde lang, als er sich umdrehte, sah ich Sadie in ihm.
Dann änderte er seine Haltung, und sie war verschwunden. »Es wundert mich, dass du noch hier bist«, sagte er. Als wäre ihr lokales Unternehmen das letzte Jahr von allein weitergelaufen. Ich antwortete fast: Wo sollte ich sonst hingehen? Aber dann grinste er, und ich konnte mir vorstellen, dass ich ihm einen ganz schönen Schrecken eingejagt hatte, als ich so unangekündigt durch seine Tür spazierte.
In Wahrheit hatte ich schon viele Male daran gedacht zu gehen. Nicht nur weg von hier, sondern aus diesem Ort. Ich war zu der Auffassung gelangt, dass in seinem Kern etwas Giftiges versteckt war, das sonst niemand zu bemerken schien. Aber es gab mehr als das Geschäft, mehr als den Job, ich hatte mir selbst ein Leben hier aufgebaut. Ich war zu sehr an diesen Ort gebunden.
Und doch, manchmal hatte ich das Gefühl, dass zu bleiben nichts weiter war als ein Durchhaltetest, der an Masochismus grenzte. Ich war mir nicht mehr sicher, was ich beweisen wollte.
Ich spürte, wie mein Herzschlag sich verlangsamte. »Ich hab gar kein Auto gesehen«, sagte ich und blickte mich im Untergeschoss um, nahm die Veränderungen wahr: zwei Ledertaschen unten vor der breiten Treppe, ein Schlüsselring auf dem Tisch im Eingangsbereich; eine offene Flasche auf der Granitkücheninsel, daneben ein Glas; und Parker, die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt und der Kragen gelockert, als wäre er gerade von der Arbeit gekommen und es wäre nicht mitten in der Nacht.
»Es ist in der Garage. Ich bin erst heute Abend angekommen.«
Ich räusperte mich, nickte in Richtung der Taschen. »Ist Luce mit?« Ich hatte ihren Namen lange nicht mehr gehört, aber Grant beschränkte sich in unseren Gesprächen auf das Geschäft, und Sadie war nicht mehr da, um mich auf dem Laufenden zu halten, was das Privatleben der Lomans betraf. Es gab Gerüchte, aber das musste nichts zu bedeuten haben. Ich war selbst Objekt jeder Menge unbegründeter Gerüchte.
Parker blieb an der Kücheninsel stehen, viel Abstand zwischen uns, und nahm das Glas in die Hand, trank einen großen Schluck. »Nur ich. Wir nehmen eine Auszeit«, sagte er.
Eine Auszeit. Das war etwas, was Sadie sagen würde, inkonsequent und vage optimistisch. Aber sein Griff um das Glas, der Blick zur Seite sagten etwas anderes.
»Komm doch ein bisschen rein. Trink einen mit mir, Avery. «
»Ich muss morgen ziemlich früh auf einem Grundstück sein«, sagte ich. Aber meine Worte erstarben bei dem Blick, den er mir zuwarf. Er grinste, holte ein zweites Glas und schenkte ein.
Parkers Gesichtsausdruck sagte, dass er genau wusste, wer ich war und es keinen Sinn hatte, etwas vorzutäuschen. Ganz egal, ob ich gerade sämtlichen Besitz seiner Familie in Littleport betreute – sechs Sommer und man kennt die Angewohnheiten eines Menschen ganz gut.
Ich kannte ihn schon länger. So war das, wenn man hier aufgewachsen war: die Randolphs auf Hawks Ridge; die Shores, die einen alten Gasthof an einer Seite des Parks renoviert, dann jeweils eine Reihe von Affären hatten und ihr riesiges Grundstück nun teilten wie ein Scheidungskind, nie zur selben Zeit gesehen wurden; und die Lomans, die oben auf dem Steilufer wohnten, ganz Littleport überblickten und sich dann weiter ausgebreitet, ihre Fühler im ganzen Ort ausgestreckt hatten, bis ihr Name zu einem Synonym für Sommer geworden war. Die Ferienhäuser, die Familie, die Feste. Ein Versprechen.
Die Einheimischen bezeichneten die Loman-Residenz als Breakers, ein subtiler Stich, der den Rest von uns früher miteinander verbunden hatte. Teilweise hatte der Name mit der Nähe ihres Zuhauses zum Breaker Beach zu tun und teilweise war er ein Verweis auf das Vanderbilt-Anwesen in Newport – dieses Level an Reichtum konnten auch die Lomans nicht erhoffen. Immer im Spaß geflüstert, ein Witz, den alle außer ihnen kannten.
Parker schob mir den Drink zu, Flüssigkeit schwappte an der Seite über. So nachlässig war er nur, wenn er schon fast betrunken war. Ich drehte das Glas auf dem Tresen hin und her.
Er seufzte und schaute sich um, betrachtete das Wohnzimmer. »Mein Gott, dieses Haus«, sagte er und nahm dann den Drink in die Hand. Weil ich ihn elf Monate nicht gesehen hatte, weil ich wusste, was er meinte: dieses Haus. Jetzt. Ohne Sadie. Ihr vergrößertes Familienfoto von vor Jahren hing immer noch über dem Sofa. Alle vier lächelten, in beige und weiß gekleidet, die Dünen von Breaker Beach unscharf im Hintergrund. Ich konnte das Vorher und Nachher sehen, genau wie Parker.
Er hob sein Glas, stieß es mit genug Kraft gegen meines, dass deutlich wurde, es war nicht sein erster Drink – nur falls mir das entgangen sein sollte.
»Hört, hört«, sagte er stirnrunzelnd. Das hatte Sadie immer gesagt, wenn wir uns fertig machten, um auszugehen. Ein paar Gläser in einer Reihe füllen, unaufmerksames Einschenken – hört, hört . Sie stärkte sich, während es bei mir genau andersherum war. Den Alkohol hinunterkippen und dann das Brennen in meinem Hals, glühende Lippen.
Ich schloss die Augen beim ersten Schluck, fühlte die Entspannung, die Wärme. »Ruhig, ruhig«, antwortete ich leise, aus Gewohnheit.
»Also«, sagte Parker und schenkte sich selbst noch etwas mehr ein. »Da sind wir.«
Ich setzte mich auf den Barhocker neben ihm, umfasste meinen Drink. »Wie lange bleibst du?« Ich fragte mich, ob das mit Luce zu tun hatte, ob sie zusammenlebten und er nun einen Ort brauchte, an den er fliehen konnte.
»Nur bis zur Gedenkfeier.«
Ich nahm noch einen Schluck, größer als ich vorhatte. Die Ehrung von Sadie hatte ich gemieden. Das Denkmal würde eine Bronzeglocke sein, die nicht funktionierte und die am Eingang zum Breaker Beach stehen sollte. Mögen alle Seelen ihren Weg nach Hause finden , würde darauf stehen, die Worte handgraviert. Es war abgestimmt worden.
Littleport war voll von Denkmälern, und ich hatte schon lange meine ausreichende Dosis davon abbekommen. Von den Bänken, die die Fußwege säumten, zu den Statuen der Fischer vor dem Rathaus – wir wurden zu einem Ort, der nicht nur den Besuchern diente, sondern auch den Toten. Mein Vater hatte eine Klasse in der Grundschule. Meine Mutter eine Wand in der Galerie am Harbour Drive. Eine Goldplakette für deinen Verlust.
Ich rutschte auf dem Hocker herum. »Kommen deine Eltern?«
Er schüttelte den Kopf. »Dad ist beschäftigt. Sehr beschäftigt. Und Bee, naja, es würde ihr wahrscheinlich nicht so guttun.« Das hatte ich ganz vergessen, Parker und Sadie sprachen von Bianca als Bee – nannten sie aber nie in ihrer Anwesenheit so. Immer auf eine distanzierte Art, als wäre da eine große Entfernung zwischen ihnen. Ich hielt es für eine exzentrische Laune der Wohlhabenden. Gott weiß, ich habe viel an ihnen entdeckt über die Jahre.
»Wie geht’s dir, Parker?«
Er drehte sich auf seinem Stuhl um und sah mich an. Als wäre ihm gerade erst klar geworden, dass ich da war. Aufmerksam studierte er mein Gesicht.
»Nicht so toll«, sagte er und lehnte sich auf seinem Hocker zurück. Es war der Alkohol, der ihn so ehrlich machte, das wusste ich.
Sadie war meine beste Freundin gewesen, seit dem Sommer, in dem wir uns kennengelernt hatten. Ihre Eltern hatten mich praktisch bei sich aufgenommen – mir Kurse bezahlt, mir Arbeit versprochen, wenn ich mich als dafür wert erwies. Seit Jahren lebte ich in ihrem Gästehaus und arbeitete von dort aus, seit Grant Loman das Haus meiner Großmutter gekauft hatte. Und in all der Zeit, die wir am gleichen Ort existiert hatten, hatte Parker kaum je etwas Tiefsinniges von sich gegeben.
Er griff nach einer meiner Haarsträhnen und zog sanft daran, bevor er sie wieder fallen ließ. »Dein Haar ist anders. «
»Oh.« Ich fuhr mit der Handfläche darüber, strich es zurück. Es war weniger eine aktive Veränderung als der Weg des geringsten Widerstands. Ich hatte die Strähnen über die Jahre herauswachsen lassen, die Farbe war nun wieder ein dunkleres Braun, und dann hatte ich es bis zu den Schultern abgeschnitten, die Seiten aber lang gelassen. Das war eine der Konsequenzen, wenn man Leute nur im Sommer sah – Veränderungen waren nie schleichend. Wir wuchsen in Sprüngen. Wir verwandelten uns abrupt.
»Du siehst älter aus«, fügte er hinzu. Und dann: »Das ist aber nichts Schlechtes.«
Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden und neigte mein Glas, um es zu verstecken. Es war der Alkohol und die Sentimentalität und dieses Haus. Als wäre alles immer kurz davor zu bersten. Sommerspannung hatte Connor es immer genannt.
»Wir sind älter«, sagte ich, was Parker zum Lächeln brachte.
»Sollten wir uns dann ins Wohnzimmer begeben?«, fragte er, und ich konnte nicht sagen, ob er sich über sich selbst oder über mich lustig machte.
»Ich muss mal aufs Klo«, sagte ich. Ich brauchte Zeit. Parker hatte so eine Art einen anzusehen, als sei man das Einzige auf der Welt, das es sich zu kennen lohnte. Vor Luces Zeit hatte ich ihn diesen Blick ein Dutzend Mal an ein Dutzend verschiedener Mädchen anwenden sehen. Was nicht hieß, dass er auf mich keine Wirkung gehabt hätte.
Ich ging den Flur entlang, wo sich der Hauswirtschaftsraum und die Seitentür nach draußen befanden. Das Bad hier hatte ein Fenster über der Toilette, unverhüllt, mit Blick aufs Meer. Alle Fenster, die zum Wasser hinausgingen, waren wegen des Ausblicks ohne Vorhänge. Als könnte man je die Anwesenheit des Ozeans vergessen. Den Sand, der hier alles zu durchdringen schien, und das Salz, das sich auf der Straße ablagerte und die Autos rosten ließ und unablässig an den hölzernen Ladenfronten am Harbour Drive nagte. Wenn ich mit den Fingern durch mein Haar fuhr, konnte ich die salzige Luft riechen.
Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht, dachte, ich hätte einen vorbeigehenden Schatten unter der Tür gesehen. Ich drehte den Wasserhahn ab und starrte auf den Türknauf, hielt die Luft an, aber nichts passierte.
Nur ein Produkt meiner Fantasie. Die Hoffnung auf eine lang vergangene Erinnerung.
Es war eine Eigenart des Loman-Hauses, dass keine der Innentüren Schlösser hatte. Ich hatte nie herausgefunden, ob das ein Bruch im Design war – eine Antwort auf die glatten Knäufe im antiken Stil – oder ob es einen elitären Status kennzeichnen sollte. Dass man vor einer geschlossenen Tür immer stehen blieb, um zu klopfen. Ob es in den Menschen eine Art Zurückhaltung hervorrief.
Wie auch immer, das war der Grund, warum ich Sadie Loman kennenlernte. Hier, in genau diesem Zimmer.
Ich sah sie nicht zum ersten Mal. Es war der Sommer nach meinem Uniabschluss, fast sechs Monate nach dem Tod meiner Großmutter. Eine vereiste Stelle, eine Gehirnerschütterung gefolgt von einem Schlaganfall, der mich zur letzten Greer in Littleport machte.
Ich war durch den Winter geflippt, ungebunden und wild. Hatte meinen Abschluss mit mehr Glück als Verstand geschafft, hatte mich treiben lassen und war unzuverlässig geworden. Und doch gab es Leute wie Evelyn, die Nachbarin meiner Großmutter, die mich mit merkwürdigen Arbeiten beauftragten und versuchten dafür zu sorgen, dass ich klarkam .
Es bewirkte allerdings nur, dass ich noch mehr Dinge direkt vor der Nase hatte, die mir selbst fehlten.
Das war das Problem an einem Ort wie diesem: Alles lag ganz und gar öffentlich vor dir, einschließlich des Lebens, das du nie haben konntest.
Wenn du alles im Gleichgewicht, in Ordnung hieltest, dann konntest du einen Laden eröffnen und hausgemachte Seife verkaufen oder eine Catering-Firma von der Küche des Gasthofes aus leiten. Du konntest deinen Lebensunterhalt verdienen, mehr oder weniger, draußen am Wasser, wenn du es nur genug wolltest. Du konntest Eis oder Kaffee in einem Laden verkaufen, der vier Monate im Jahr so gut lief, dass er dich durch den Rest bringen würde. Du konntest einen Traum haben, solange du bereit warst, etwas dafür aufzugeben.
Solange du unsichtbar bliebst, wie es vorgesehen war.
Evelyn hatte mich für die Saisoneröffnungsparty der Lomans gebucht. Ich trug die Uniform – schwarze Hose, weißes Shirt, Haar zurückgebunden –, die dazu diente, nicht aufzufallen. Ich saß auf dem geschlossenen Toilettendeckel, hatte meine Hand mit Klopapier umwickelt, fluchte still vor mich hin und versuchte, die Blutung zu stoppen, als die Tür aufging und sich dann leise wieder schloss. Da stand Sadie Loman, von mir abgewandt, die Handflächen an die Tür gepresst, mit hängendem Kopf.
Wenn du einer Person allein in einem Badezimmer begegnest, die sich versteckt, weißt du sofort etwas über sie.
Abrupt stand ich auf und räusperte mich. »Tut mir leid, ich …« Ich versuchte, mich an ihr vorbeizudrängen, bewegte mich dicht an der Wand entlang, vermied es, sie anzusehen .
Sie musterte mich ungeniert. »Ich wusste nicht, dass jemand hier drin ist«, sagte sie. Keine Entschuldigung, denn Sadie Loman musste sich bei niemandem entschuldigen. Das war ihr Haus.
Die Röte stieg in ihrem Gesicht auf, so, wie ich es noch gut kennenlernen sollte. Als hätte ich sie erwischt statt umgekehrt. Der Fluch der Hellhäutigen, würde sie später erklären. Das und die schwachen Sommersprossen über ihrer Nase bewirkten, dass sie jünger aussah, als sie war, was sie auf andere Art wieder ausglich.
»Alles okay?«, fragte sie und betrachtete stirnrunzelnd das Blut, das durch das Toilettenpapier um meine Hand sickerte.
»Ja, ich hab mich nur gerade geschnitten.« Ich presste stärker, aber es half nicht. »Und du?«
»Ach, du weißt schon«, sagte sie und wedelte leicht mit ihrer Hand herum. Aber das tat ich nicht. Da noch nicht. Ich würde es bald besser verstehen, dieses leichte Handwedeln: All das hier , die Lomans.
Sie griff nach meiner Hand, bedeutete mir, näher zu kommen, und ich konnte nichts tun, als es zu dulden. Sie wickelte das Papier ab, beugte sich vor, presste dann ihre Lippen zusammen. »Ich hoffe, du bist gegen Tetanus geimpft«, sagte sie. »Das erste Anzeichen ist Kiefersperre.« Sie ließ ihre Zähne aufeinanderschlagen, ein Geräusch wie ein brechender Knochen. »Fieber. Kopfschmerzen. Muskelzuckungen. Bis du schließlich nicht mehr schlucken oder atmen kannst. Keine schöne Art zu sterben, wenn du mich fragst.« Sie sah mich mit ihren haselnussbraunen Augen an. Sie war so nah, dass ich den Rand ihres Make-ups darunter erkennen konnte, die leichte Unvollkommenheit, wo ihr Finger ausgerutscht war.
»Es war ein Messer«, sagte ich, »in der Küche.« Kein dreckiger Nagel. Ich nahm an, dass man eher von so etwas Tetanus bekam .
»Oh, na ja, trotzdem. Sei vorsichtig. Jede Infektion, die in deinen Blutkreislauf gelangt, kann zu einer Blutvergiftung führen. Auch kein guter Weg, um sich zu verabschieden, wenn wir schon dabei sind.«
Ich konnte nicht sagen, ob sie es ernst meinte. Aber ich lächelte, und sie tat es auch.
»Studierst du Medizin?«, fragte ich.
Sie lachte kurz auf. »Finanzen. Das ist zumindest der Plan. Faszinierend, oder? Der Pfad zum Tod ist nur persönliches Interesse.«
Das war, bevor sie von meinen Eltern wusste. Bevor sie wissen konnte, dass ich mich selbst oft fragte, wie schnell oder langsam sie gestorben waren, und so konnte ich ihr die Leichtfertigkeit, mit der sie über den Tod redete, verzeihen. Die Wahrheit war jedoch, dass es auch etwas fast Verführerisches hatte – diese Person, die mich nicht kannte und vor mir einen Witz über den Tod reißen konnte, ohne danach zusammenzuzucken.
»Ich mach nur Spaß«, sagte sie, als sie meine Hand im Waschbecken unter kaltes Wasser hielt, um den Schnitt zu betäuben. In meinem Magen regte sich eine Erinnerung, die ich nicht fassen konnte – ein plötzliches schmerzliches Verlangen. »Das hier ist mein liebster Platz auf der Welt. Nichts Schlimmes darf hier passieren. Das verbiete ich.« Dann wühlte sie im Unterschrank und zog einen Verband hervor. Unter dem Waschbecken war ein Sortiment von Salben, Verbänden, Näh-etuis und Pflegeprodukten.
»Wow, du bist hier ja auf alles vorbereitet«, sagte ich.
»Außer auf Voyeure.« Sie sah hoch zu dem unverdeckten Fenster und lächelte kurz. »Du hast Glück gehabt«, sagte sie und strich den Verband glatt. »Du hast knapp die Vene verfehlt.«
»Oh, da ist Blut auf deinem Pulli«, sagte ich, erschrocken darüber, dass ein Teil von mir sie befleckt hatte. Den perfekten Pulli über dem perfekten Kleid in dieser perfekten Sommernacht. Sie zog den Pulli aus, knüllte ihn zusammen und warf ihn in den Porzellanmülleimer. Etwas, was mehr kostete, als ich an diesem ganzen Tag verdienen würde, da war ich sicher.
Sie schlich sich so leise hinaus, wie sie hereingekommen war, ließ mich dort zurück. Eine Zufallsbegegnung nahm ich an.
Aber das war nur der Anfang. Das Abrutschen eines Messers hatte mir eine Welt eröffnet. Eine Welt unerreichbarer Dinge.
Nun, wo ich mich in eben jenem Spiegel sah, mir Wasser ins Gesicht spritzte, um meine Wangen abzukühlen, konnte ich fast ihr dunkles Lachen hören. Wie sie mich ansehen würde, wenn sie wüsste, dass ihr Bruder und ich allein in einem Haus waren und mitten in der Nacht einen zusammen tranken. Ich starrte mein Spiegelbild an, die Ringe unter meinen Augen, erinnerte mich. »Tu es nicht.« Ich flüsterte es laut, um mich meiner selbst zu vergewissern. Der Akt des Sprechens aktivierte meinen Verstand, verschloss etwas anderes in mir.
Manchmal half es, mir vorzustellen, dass Sadie es sagte. Wie eine Glocke, die in meiner Brust schlug, mich zurückgeleitete.
Parker lag ausgestreckt auf der Couch unter dem alten Familienporträt, starrte durch die vorhanglosen Fenster in die Dunkelheit, der Blick leer. Ich war nicht sicher, ob es so eine gute Idee war, ihn allein zu lassen. Ich war jetzt vorsichtiger. Suchte nach dem, was unter der Oberfläche eines Worts oder einer Geste versteckt war.
»Du willst gehen, oder«, sagte er, immer noch aus dem Fenster starrend .
Ein Regentropfen schlug gegen die Scheibe, dann noch einer – ein gegabelter Blitz in der Ferne, vor der Küste. »Ich sollte zurück sein, bevor der Sturm hier ist«, sagte ich, aber er winkte ab.
»Ich kann nicht fassen, dass sie diese Party wieder machen«, sagte er, als wäre es ihm gerade eingefallen. »Eine Gedenkfeier und dann die Plus-One.« Er trank einen Schluck. »Sieht diesem Ort hier ähnlich.« Drehte sich zu mir. »Gehst du hin?«
»Nein«, sagte ich, als wäre das meine eigene Entscheidung. Ich konnte ihm nicht sagen, dass ich nichts von einer Plus-One-Party dieses Jahr wusste, ob sie wieder stattfinden würde oder wo. Es waren noch ein paar Wochen übrig in dieser Saison, und ich hatte kein Wort davon gehört. Aber er war erst ein paar Stunden hier und wusste es bereits.
Er nickte. In der Loman-Familie gab es immer eine richtige Antwort. Ich hatte schnell gelernt, dass sie keine Fragen stellten, um deine Gedanken zu erfahren, sondern um dich zu beurteilen.
Ich spülte mein Glas aus, hielt Distanz. »Ich sag den Putzleuten Bescheid, wenn du länger bleibst.«
»Avery, warte«, sagte er, aber ich wollte nicht hören, was er zu sagen hatte.
»Schlaf dich aus, Parker.«
Er seufzte. »Komm morgen mit mir mit.«
Ich erstarrte, die Hand auf dem Granittresen. »Wohin soll ich mit dir kommen?«
»Zu diesem Treffen mit dem Gedenkkomitee«, sagte er stirnrunzelnd. »Für Sadie. Mittags in der Bay Street. Ich könnte dort eine Freundin gebrauchen.«
Eine Freundin. Als wären wir befreundet.
Und doch. »Gut«, sagte ich und fühlte zum ersten Mal seit fast einem Jahr die vertrauten Regungen des Sommers. Bay Street hörte sich nach einem Treffpunkt an, den Parker ausgesucht hatte, nicht das Komitee. Die Lomans hatten da einen Tisch, auch wenn man in der Bay Street eigentlich nicht reservieren konnte.
Ich dachte, es bestand eine Fifty-fifty-Chance, dass er sich am nächsten Morgen nicht an dieses Gespräch erinnerte. Oder die Einladung bereute, und so tat, als gäbe es sie nicht.
Aber wenn ich auch sonst nichts von den Lomans gelernt hatte, das zumindest hatte ich gelernt: Versprechen, auch wenn man sie ohne klaren Kopf ausgesprochen hatte, zählten trotzdem. Ein sorgloses Ja, und du warst gebunden.
Draußen in der Dunkelheit konnte ich das beständige Plätschern des Regens hören, der durch die Rinnsteine floss. Ich duckte mich, bereit zu rennen. Aber im Licht der Taschenlampe sah ich, was mich eigentlich hierhergeführt hatte. Der Mülleimer, der in die Nische vor dem Eingang zum Hauswirtschaftsraum geklemmt war, war umgefallen, der Inhalt lag verstreut. Das Tor des hohen weißen Gitterzauns, der ihn umschloss, stand jetzt offen.
Ich erstarrte, leuchtete mit der Taschenlampe die Bäume und die Ecke der Garage ab. Eine weitere Böe wehte mit dem Regen heran, und das Tor knarrte noch einmal, schlug gegen die Hausseite.
Der Wind also.
Ich würde mich am nächsten Morgen darum kümmern. Der Himmel öffnete sich. Der Sturm war da.