Kapitel 3
Ich tauchte aus einem Traum auf, als das Telefon am nächsten Morgen klingelte. Es war ein alter Traum: das Gefühl des wiegenden Meeres, alles unstet, als wäre ich innerhalb eines der Bilder meiner Mutter – gestrandet im Chaos der Wellen vor dem Hafen, nach drinnen schauend.
Als ich meine Augen öffnete, drehte sich das Zimmer, und mein Magen rumorte. Das war der Alkohol mitten in der Nacht, der Schlafmangel. Ich tastete nach meinem Telefon und warf einen Blick auf die Uhr – Punkt acht. Die Nummer kannte ich nicht.
»Hallo?« Ich versuchte, so zu klingen, als hätte ich nicht gerade noch geschlafen, doch ich starrte immer noch die Decke an und versuchte, wieder zu mir zu kommen.
»Miss Greer?«
Ich setzte mich aufrecht hin, bevor ich antwortete. Miss Greer
hieß geschäftlich, hieß die Lomans, hieß die Art von Menschen, die erwarteten, dass ich um diese Zeit an einem Schreibtisch saß, anstatt im Schneidersitz auf dem Bett, den Geschmack von Whiskey im Mund. »Ja. Wer spricht da?«, antwortete ich.
»Kevin Donaldson«, antwortete er, »ich wohne im Blue Robin. Es ist etwas passiert. Es war jemand hier.«
»Wie bitte? Wer war da?«, fragte ich. Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich die Endreinigung eingeplant hatte, ob ich das Abreisedatum der Donaldsons durcheinandergebracht
hatte. Leute wie sie schätzten es nicht, wenn jemand unangekündigt kam und ging, während sie weg waren. Deshalb wohnten sie in einem unserer Häuser statt in einer Frühstückspension oder einer Hotelsuite. Ich war bereits auf dem Weg zum Schreibtisch, der im Wohnzimmer in einer Ecke stand, öffnete die daneben gestapelten Mappen, bis ich das richtige Haus fand.
Als er antwortete, hatte ich sogar schon seinen Mietvertrag in der Hand: »Wir sind gestern Abend spät nach Hause gekommen, so um Mitternacht. Offensichtlich hat jemand unsere Sachen durchsucht. Es fehlt allerdings nichts.«
Ich ging die Liste der Leute durch, die einen Schlüssel hatten. Ob es irgendwelche neuen Angestellten gab bei einem der Lieferanten, mit denen wir zusammenarbeiteten. Wen ich als Nächstes anrufen sollte, auf wen ich mein Geld verwetten würde. »Tut mir leid, das zu hören«, sagte ich.
Meine nächste Frage wäre eigentlich: Haben Sie irgendwelche Fenster oder Türen offen gelassen?
Aber ich wollte mich nicht anhören, als würde ich die Donaldsons beschuldigen, besonders nicht, wenn nichts fehlte. Trotzdem wäre es hilfreich, das zu wissen.
»Haben Sie die Polizei angerufen?«, fragte ich.
»Natürlich. Letzte Nacht. Wir haben zuerst versucht, Sie anzurufen, aber Sie sind nicht rangegangen.« Natürlich.
Sie mussten es versucht haben, als ich letzte Nacht mit Parker im Haupthaus war. »Es kam jemand und hat unsere Aussage aufgenommen, sich kurz umgesehen.«
Ich schloss die Augen, holte langsam Luft. Das Protokoll besagte, immer zuerst Grant Loman anzurufen, bevor man die Polizei involvierte. Ein Polizeireport über ein Ferienhaus war nicht gut fürs Geschäft.
»Hören Sie«, fuhr er fort, »es spielt keine Rolle, dass nichts gestohlen wurde. Das ist einfach sehr beunruhigend. Wir
werden heute Morgen abreisen und hätten gern den Rest unseres Aufenthalts erstattet. Drei Tage.«
»Ja, ich verstehe«, sagte ich und drückte meine Finger gegen die Schläfen. Auch wenn nur noch zwei Tage in ihrem Mietvertrag standen. Es war den Kampf nicht wert in der Serviceindustrie, das wusste ich aus Erfahrung. »Ich kann es Ihnen heute Nachmittag überweisen.«
»Nein, wir möchten es gern abholen, bevor wir abreisen«, sagte er. Sein Tonfall machte deutlich, dass das nicht zur Diskussion stand. Ich hatte schon öfter mit Typen seines Kalibers zu tun gehabt. Die Herausforderung meines Jobs bestand darin, mir die meiste Zeit auf die Zunge zu beißen. »Wir werden den Rest der Woche in der Point-Frühstückspension verbringen«, fuhr er fort. »Wo befindet sich Ihr Büro?«
Mein Büro war dort, wo ich mich gerade befand, und ich wollte nicht, dass irgendjemand mit geschäftlichem Anliegen auf dem Grundstück der Lomans auftauchte. Wir kümmerten uns in erster Linie online um Verträge und Finanzen, und für alles andere nutzte ich mein Postfach. »Ich werde es heute Nachmittag persönlich im Point vorbeibringen. Der Scheck wird vor Ende des Arbeitstages an der Rezeption für Sie bereitliegen.«
Ich schrieb Parker eine Nachricht, um meinen Tagesablauf planen zu können, aber sie kam als »nicht gesendet« zurück.
Trotz der Tatsache, dass ich verschlafen hatte, dauerte es noch bis zur Besichtigung, sie war nicht vor zehn Uhr. Ich hatte Zeit für einen Morgenlauf, wenn ich ihn kurz hielt. Auf dem Weg konnte ich bei Parker vorbeischauen
.
Der einzige Beweis für den Sturm letzte Nacht war das sanfte Nachgeben der Erde unter meinen Füßen. Der Morgen war frisch und sonnig, wie auf den Littleport-Postkarten in den Läden im Zentrum. An solchen Tagen, die wie geschaffen waren für die Touristen, florierten die Geschäfte: Der Ort erschien pittoresk und idyllisch, beschützt und umgeben von ungezähmter Natur.
In Wahrheit war das Leben hier wild und neigte zu Extremen. Vom Sturm aus Nordosten, der leicht ganz plötzlich gute dreißig Zentimeter Meter Schnee und Eis schicken und die Hälfte der elektrischen Leitungen zu Fall bringen konnte, bis zur Sommerruhe mit Vogelgezwitscher und der Glockenboje, die rhythmisch draußen auf dem Meer läutete. Von den turmhohen Wellen, die ein Boot von seinem Liegeplatz losreißen konnten, bis zu dem sanften Plätschern des Wassers gegen deine Zehen im Strandsand bei Ebbe. Malerische Geschäftigkeit im Gegensatz zu öder Einsamkeit. Pulverfass oder Geisterstadt.
Als ich an der Garage vorbeikam, stellte ich fest, dass die Mülltonne wieder befestigt, das Tor gesichert war. Parker war offensichtlich schon auf und unterwegs, unbeeindruckt vom späten Abend und vom Alkohol.
Ich hatte kaum einen Fuß auf die erste Stufe der Veranda gesetzt, als die Haustür aufschwang. Parker blieb abrupt stehen, guckte zweimal hin.
Es war der gleiche Blick, mit dem er mich angesehen hatte, als er mich zum ersten Mal traf. Da hatte ich in Sadies Zimmer gesessen, im Schneidersitz auf ihrem elfenbeinfarbenen Bettüberwurf, während sie unsere Nägel glänzend violett lackierte, das Fläschchen gefährlich auf ihrem Knie zwischen uns balancierend, hinter ihr nichts als Meer und Himmel jenseits der Glastüren ihres Balkons, blau auf blau bis zur Wölbung des Horizonts
.
Ihre Hand blieb mitten in der Luft hängen, als sie die Schritte den Flur entlangkommen hörte, und sie sah auf, gerade als Parker vorbeiging. Er war damals neunzehn, ein Jahr älter als wir, eben fertig mit seinem ersten Collegejahr. Aber etwas stoppte ihn mitten im Gehen. Er sah mich an, dann Sadie, und ihr Mundwinkel zuckte.
»Dad sucht dich«, sagte er.
»Dann sucht er nicht besonders gut.« Sie fuhr fort, ihre Nägel zu lackieren, aber er blieb weiter in der Tür stehen. Sein Blick schnellte noch einmal zu mir, dann wieder weg, als wolle er nicht beim Starren erwischt werden.
Sadie seufzte hörbar. »Das ist Avery. Avery, mein Bruder Parker.«
Er war barfuß, in abgetragenen Jeans und einem T-Shirt mit Werbeaufdruck. So anders als er auf dem sorgfältig arrangierten Porträt unten aussah. Eine schwache Narbe trennte eine Ecke seiner linken Augenbraue ab. Ich winkte, und er tat dasselbe. Dann machte er einen Schritt in den Flur und ging weiter.
Ich schaute ihm nach, als ihre Stimme durch die Stille schnitt. »Tu es nicht«, sagte sie.
»Was?«
Sie schüttelte den Kopf. »Tu es einfach nicht.«
»Werde ich nicht.«
Sie schraubte die Flasche zu, pustete sanft auf ihre Nägel. »Im Ernst. Es wird nicht gut ausgehen.«
Als würde alles verheißungsvolle Zukünftige davon abhängen. Ihre Aufmerksamkeit, ihre Freundschaft, diese Welt.
»Ich sagte, das werde ich nicht.« Ich war es nicht gewohnt, herumkommandiert zu werden, Befehle entgegenzunehmen. Seit ich vierzehn war, hatte es nur mich und meine Großmutter gegeben, und jetzt war sie seit sechs Monaten tot.
Sadie hatte langsam geblinzelt. »Das sagen sie alle.
«
Parker Loman war in den Jahren danach etwas breiter geworden, etwas kompakter, selbstsicherer. Er würde nicht mehr schwankend im Flur stehen bleiben. Aber ich hob die Hand, so wie ich es damals getan hatte, und er tat dasselbe. »Hi. Ich habe erst versucht, dir eine Nachricht zu schicken.«
Er nickte, ging die Stufen weiter hinunter. »Ich hab eine neue Nummer. Gib mal her.« Er streckte die Hand nach meinem Telefon aus und brachte seine Kontaktinformationen auf den neusten Stand. Ich fragte mich, ob er seine Nummer wohl wegen Luce geändert hatte. Oder Sadie. Falls ihn Leute anriefen, Freunde, die kondolieren wollten, Journalisten auf der Suche nach einer Story, alte Bekannte, die bei einer Tragödie wieder aus der Versenkung auftauchten. Ob er seine Kontakte ausmisten, seine Welt wieder zu ihrem Kern schrumpfen lassen und neu aufbauen wollte – so wie ich es einst getan hatte.
»Wann ist das Treffen?«, fragte ich.
»Es ist für dreizehn Uhr dreißig geplant. Hab dich schon angekündigt. Wollen wir zusammen hinfahren?«
Ich war überrumpelt, nicht nur, weil er sich erinnerte, sondern dass er es auch durchzog. »Ich hab danach ein paar Sachen zu erledigen, ich fahre lieber selbst.«
»Okay, dann sehen wir uns da.« Er ging ein paar Schritte in Richtung Garage. »Ich will einkaufen fahren. Es ist nichts im Haus. Ich meine, außer Whiskey.« Er grinste. »Soll ich noch etwas mitbringen?«
Ich hatte vergessen, wie charmant er sein konnte, wie entwaffnend. »Nein«, sagte ich. »Alles da.«
»Gut«, rief er, immer noch lächelnd, »dann lass ich dich wohl mal zu dem frühen Termin fahren.
«
Ich hielt mich an eine vertraute Strecke, nahm die abschüssige Landing Lane. Erreichte das Ende des Ortszentrums und lief dann in einer Runde zurück bis zum Breaker Beach.
Der August war früher meine Lieblingszeit des Jahres in Littleport gewesen, egal, von wo ich schaute. Es lag etwas in der Luft, ein Beben, der Ort in ständiger Bewegung. Er war nach der Familie Little benannt, aber jeder hier – sowohl Einwohner als auch Besucher – hielt sich an diesen sprechenden Namen, als wäre es eine Mission. Alles im Ortszentrum musste winzig bleiben. Kleine Holzschilder mit handgemalten Buchstaben, niedrige Markisen, schmale Planken. Die Besucher saßen den Sommer über an kleinen Bistrotischchen mit Meerblick, und sie tranken aus kleinen schmalen Gläschen, sprachen mit kleinen Stimmchen. Von den Dachsparren hingen kleine Lichter, als wollten wir alle einander sagen: Hier sind immer Ferien.
Es war ein Stück, und wir alle spielten mit.
Trat man aus dem Zentrum heraus, war das Stück vorbei. Die Sommerhäuser erhoben sich zwei oder drei Stockwerke auf dem perfekt gepflegten Rasen, am Steilufer sogar noch höher. Lange von Steinen gesäumte Auffahrten, ausgedehnte umlaufende Veranden, Fenster im Porträtstil, die den Himmel und das Meer widerspiegelten. Schöne, prachtvolle Monstrositäten.
Ich war näher an der Inlandseite des Ortes auf einer Ranch aufgewachsen, wo meine Mutter einen Raum als Atelier nutzte. Sie hatte den Teppich herausgerissen und die Schranktüren entfernt, die Regale mit Reihen von Farben und Lacken gefüllt. Jedes Zimmer war in einer leuchtenden Farbe gestrichen, außer ihres, als bräuchte sie eine leere und neutrale Fläche, um sich mehr ausdenken zu können.
Unser einziger Ausblick damals ging auf Bäume und dahinter auf das Boot in der Auffahrt der Harlows. Connor und ich rannten früher immer den Pfad hinter unseren Häusern
entlang, erschreckten die Wanderer, wenn wir in Schlangenlinien an ihnen vorbeizischten, für nichts langsamer würden.
Meine Großmutter, bei der ich meine Teenagerjahre verbracht hatte, wohnte weiter unten am Wasser. Der Geruch nach Terpentin und Farbe, an den ich mich gewöhnt hatte, war ersetzt worden durch den von süßen Seerosen, die ihren Garten hinten säumten, gemischt mit der salzigen Luft. In der Stone-Hollow-Gemeinde lebten die Familien schon seit Generationen, sie meldeten ihre Ansprüche an, bevor die Preise stiegen, und behielten ihre Häuser.
Ich kannte jede Facette dieses Ortes, lebte in jedem unterschiedlichen Viertel ein Leben. Hatte einmal von ganzem Herzen an seine Magie geglaubt.
Ich hielt an, als ich den sandigen Streifen von Breaker Beach erreichte. Legte die Hände auf die Knie und versuchte, wieder zu Atem zu kommen, meine Turnschuhe versanken im Sand. Später am Tag würden sich die Touristen hier versammeln, die Sonne aufsaugen. Kinder würden Sandburgen bauen oder vor der Flut davonrennen – das Wasser war zu kalt, sogar in der Sommerhitze.
Aber im Moment war ich ganz allein hier.
Der Sand war feucht vom vergangenen Sturm, und ich entdeckte noch ein anderes Paar Fußspuren, das den Strand überquert hatte und hier endete, direkt vor dem Parkplatz. Ich ging bis zum Rand der Klippen und zu den Steinstufen, die in den Felsen gehauen waren. Hier hörten die Fußspuren abrupt auf, als wäre jemand den Pfad in die andere Richtung gegangen, vom Haus weg.
Ich blieb stehen, hielt mich am kühlen Fels fest, Kälte stieg in mir auf. Ich blickte zu den Dünen hinter mir und stellte mir vor, dass da noch jemand war. Diese Spuren waren frisch, noch nicht weggespült von der auflaufenden Flut. Wieder das Gefühl, nicht allein zu sein
.
Der Stromausfall letzte Nacht, die Geräusche im Dunkeln, die Fußspuren diesen Morgen.
Ich schüttelte es ab – das war typisch für mich: Ich ging drei Schritte zu weit, versuchte mir die Dinge vorwärts und rückwärts zu erklären, sodass ich diesmal etwas würde kommen sehen. Eine Angewohnheit aus der Zeit, als ich nur mir selbst trauen konnte und den Dingen, von denen ich wusste, dass sie wahr waren.
Bestimmt Parker, der vor mir laufen war. Der Anruf wegen des zweiten Einbruchs, der mich erschüttert hatte. Der seltsame Traum vom wogenden Meer – die Erinnerung der Worte meiner Mutter im Ohr, die mich, während sie arbeitete, anregte, noch einmal hinzuschauen
, ihr zu erzählen, was ich gesehen hatte, auch wenn es für mich genau gleich aussah.
Es war dieser Ort und alles, was hier passiert war – immer brachte er mich dazu, nach etwas zu suchen, das nicht existierte.
Hier war Sadie gefunden worden. Ein Anruf bei der Polizei um dreiundzwanzig Uhr fünfundvierzig von einem Mann, der nachts mit seinem Hund spazieren ging. Ein Einwohner, der die Umrisse des Ortes kannte. Der etwas im Schatten sah, einen blauen Schimmer im Mondlicht.
Ihr Bein, das bei Ebbe von den Felsen festgehalten wurde. Der Ozean, der sie dort vergaß, als er sich wieder zurückzog.