Kapitel 4
Bay Street bedeutete, man musste sich sehr bemühen und dabei aussehen, als ob man sich überhaupt nicht bemühte. Ich ging meinen Schrank durch, eine Sammlung meiner eigenen und Sadies aussortierter Sachen, stellte mir vor, wie Sadie ein zufälliges Outfit wählte, es mir an die Schultern hielt, das Gefühl ihrer Finger an meinem Schlüsselbein, während sie mich hin und her drehte, überlegte.
Am Ende jeder Saison hatte sie mir immer ein paar Kleider oder Shirts oder Taschen hinterlassen. Häufte alles auf mein Bett. Das meiste stellte sich als entweder zu eng oder zu kurz heraus, was sie zwar für perfekt erklärte, was aber auch verhinderte, dass ich wirklich in ihre Kreise passte. Ihre Welt war altes Geld, was hieß, dass man es nicht zeigen musste, um es zu beweisen. Die Kleidung spielte keine Rolle; es waren die Details, die Art, wie du sie trugst, und das hatte ich nie genau richtig hinbekommen.
Auch wenn wir gleich gekleidet waren, zog immer sie die Aufmerksamkeit auf sich.
Am Wochenende nachdem wir in ihrem Gästebad aufeinandergetroffen waren, erinnerte sie sich an mich. Ein Lagerfeuer und ein paar Autos nachts versteckt hinter den Dünen von Breaker Beach, der Rest von uns kam zu Fuß. Bootkühlboxen
gefüllt mit Bier. Ein Haufen verrottetes Treibholz mit Streichhölzern angezündet.
Es war die Stille, die mich dazu brachte, mich umzudrehen und sie zu sehen. Eine Präsenz, die ich mehr fühlen als hören konnte. »Hallo«, sagte sie, als hätte sie darauf gewartet, dass ich sie bemerkte. Wir waren eine Gruppe, die um das Feuer versammelt saß, aber sie sprach nur mich an. Sie war kleiner, als ich es in Erinnerung hatte, oder vielleicht lag das daran, dass sie barfuß war. Ihre Flip-Flops baumelten von ihrer linken Hand; sie trug weite Jeansshorts mit ausgefranstem Saum, ein Kapuzensweatshirt, dessen Reißverschluss gegen die kühle Nacht bis oben geschlossen war. »Kein Tetanus, wie ich sehe? Oder Blutvergiftung? Mann, bin ich gut.«
Ich zeigte ihr meine Hand. »Offenbar werde ich überleben.«
Sie lächelte ihr breites Lächeln, lauter gerade weiße Zähne leuchteten im Mondlicht. Das Licht der Flammen lief über ihr Gesicht. »Sadie Loman«, sagte sie und reichte mir die Hand.
Ich lachte halb. »Ich weiß. Ich bin Avery.«
Sie sah sich um, senkte die Stimme. »Ich hab den Rauch von unserem Garten aus gesehen und war neugierig. Ich werde nie zu solchen Sachen eingeladen.«
»Du verpasst nicht wirklich etwas«, sagte ich, aber das war eigentlich gelogen. Diese Nächte am Strand bedeuteten Freiheit für uns. Einen Weg, etwas zu beanspruchen. Ich war aus Gewohnheit hingegangen, hatte es aber sofort bereut. Alle feierten – den Abschluss, ein neues Leben –, und zum ersten Mal hatte ich mich gefragt, was ich hier machte. Was mich hierhergeführt hatte und was mich nun hier hielt. Jenseits der Grenzen dieses Ortes gab es eine Richtungslosigkeit, grenzenlos wild, aber überall hätte genauso gut nirgendwo sein können für jemanden wie mich.
Mein Dad war in Littleport aufgewachsen – nachdem er ein College in der Nähe besucht hatte, war er mit einem
Lehrerabschluss wieder zurückgekehrt, genau wie er es schon immer gewusst hatte. Meine Mutter landete zufällig hier. Auf ihrem Weg die Küste entlang kam sie durch Littleport, den Rücksitz ihres Gebrauchtwagens vollgestopft mit Gepäck und Werkzeug, mit allem, was ihr auf der Welt gehörte.
Sie sagte, irgendetwas an diesem Ort habe sie gestoppt. Etwas habe sie angezogen, was sie nicht loslassen könne. Was ich später in einem Entwurf nach dem anderen in ihrem Atelier fand, versteckt in den Bilderstapeln. Ich sah es in ihrem Gesicht, wenn sie arbeitete, wenn sie den Blickwinkel änderte, ihre Perspektive, und noch einmal hinsah. Als gäbe es ein unfassbares Element, das sie nie ganz greifen konnte.
Die Schönheit ihrer fertigen Werke lag darin, dass man nicht nur das Motiv, sondern ihre Intention darin erkennen konnte. Dieses Gefühl, dass etwas fehlte und dich anzog, dich glauben ließ, dass du diejenige sein würdest, die es enthüllte.
Aber das war das Tückische an diesem Ort – er lockte dich unter falschen Vorspiegelungen an, und dann nahm er dir alles.
Sadie zog die Nase kraus beim Anblick der Szene um das Lagerfeuer. »Es wird regnen, weißt du?«
Ich konnte die Feuchtigkeit spüren. Aber das Wetter hatte sich gehalten, und das war der halbe Spaß. Als würden wir die Natur herausfordern. »Vielleicht«, sagte ich.
»Nein, es wird.« Und als hätte sie auch die Kontrolle über das Wetter, fühlte ich den ersten Tropfen auf meiner Wange, schwer und kühl. »Willst du mitkommen? Wir schaffen es, wenn wir rennen.«
Ich betrachtete die Gruppe Kids, mit denen ich zur Schule gegangen war. Alle warfen mir Blicke zu. Connor saß auf einem Baumstamm in der Nähe und tat sein Bestes vorzugeben, ich existiere nicht. Ich wollte schreien – meine Welt schrumpfte, während ich zusah. Und dann dieses Gefühl, das ich in letzter
Zeit nie abschütteln konnte, als wäre ich immer nur auf der Durchreise gewesen.
»Es gibt eine Abkürzung.« Ich zeigte auf die Stufen im Fels, auch wenn man sie von da, wo wir standen, nicht erkennen konnte.
Sie hob eine Augenbraue, aber mir wurde nie klar, ob sie von den Stufen schon gewusst oder ob ich ihr in dieser Nacht etwas Neues eröffnet hatte. Aber als ich darauf zuging, folgte sie mir, hielt sich hinter mir an den Griffen im Felsen fest. Der Regen setzte ein, als wir oben auf den Klippen ankamen, und ich sah die Unruhe unten im Schein des Lagerfeuers – die Schatten der Leute, die Kühlboxen hochhoben und zu den Autos rannten.
Sadie legte eine Hand an meinen Ellbogen, als sie einen Schritt nach hinten trat. »Pass auf«, sagte sie.
»Was?«
Im Mondschein konnte ich ihre Augen ganz deutlich sehen – groß und weit aufgerissen. »Wir sind nah am Abgrund«, sagte sie. Sie schaute zur Seite, und ich folgte ihrem Blick, auch wenn unter uns nur Dunkelheit war.
So nah waren wir gar nicht – nicht nah genug, dass ein falscher Schritt hätte fatal sein können –, aber ich trat trotzdem etwas weiter zurück. Sie griff nach meinem Handgelenk, als wir lachend in den Schutz ihres Gartens rannten. Wir ließen uns auf die Couch fallen, die direkt unter dem überdachten Teil der Terrasse stand, der Pool leuchtete vor uns, das Meer in der Ferne. Die Fenster hinter uns waren dunkel, und sie schlüpfte schnell hinein und kam mit einer Flasche teuer aussehendem Alkohol zurück. Ich wusste nicht mal, was es für eine Sorte war.
Die Grundstücksgrenze leuchtete in einem bernsteinfarbenen Glanz, und um das schwarze Tor zum Pool waren auch Lichter versteckt, sodass wir den Regen wie einen Vorhang fallen sehen konnten, als würde er das Hier vom Dort trennen. »
Willkommen bei den Breakers«, sagte sie und legte ihre sandigen Füße auf den geflochtenen Tisch vor uns. Als hätte sie vergessen, dass ich vor nur einer Woche auf einer Party hier gearbeitet hatte.
Ich starrte sie von der Seite an, ihr Mundwinkel war zu einem wissenden Lächeln nach oben gebogen. »Was?«, sagte sie und sah mich an. »Nennt ihr das hier nicht so?«
Ich blinzelte langsam. Ich dachte, das war vielleicht der Schlüssel zum Erfolg: ewiger Optimismus. Eine Beleidigung zu nehmen und sie zum eigenen Vorteil umzudefinieren. Alles zu nehmen, sogar das hier, und es zu besitzen. Noch einmal hinzuschauen und etwas Neues zu sehen. Und in dem Moment war ich mir über eine Wahrheit absolut sicher: Meine Mutter würde sie lieben.
»Ja«, sagte ich, »es ist nur so – ich war schon mal hier.«
Ihr Lächeln wuchs, bis es ihre Augen erreichte, und sie neigte den Kopf leicht nach hinten, fast als würde sie lachen. Ich spürte, wie sie mich genau musterte. Ob sie den Pulli erkannte, den ich trug, sagte sie nicht.
Sie hob die Flasche in meine Richtung, dann in Richtung Ozean. »Hört, hört«, sagte sie, kippte sie senkrecht und wischte sich danach mit der Hand über die Lippen.
Ich dachte an Connor unten am Strand, wie er mich ignoriert hatte. Das leere Haus meiner Großmutter, das auf mich wartete. Die Stille, die Stille.
Ich nahm einen langen Schluck, den Mund an dem kühlen Glas, meine Nervenenden in Flammen. »Ruhig, ruhig«, sagte ich, und sie lachte.
Wir tranken den Alkohol pur und schauten uns die Blitze vor der Küste an, nah genug, um etwas in der Atmosphäre zu entzünden. Ich fühlte mich wie eine lebendige Leitung. Ihre Finger schlossen sich über meinen, als sie nach der Flasche griff, und da war ich geerdet
.
Ich ignorierte Sadies Klamotten und entschied mich für eins meiner eigenen Businessoutfits – Anzughose und eine weiße ärmellose Bluse –, ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Parker mich in den Kleidern seiner Schwester sah.
Ich kam als Erste in der Bay Street an, denn ich war immer zu früh. Eine rudimentäre Angst, die bestand, seit ich für Grant Loman arbeitete, davor, dass er mich aus irgendeinem Grund feuern könnte und alles hier vorbei wäre.
Als ihre Eltern mich kennenlernten, war ich etwas, was Sadie am Strand gefunden und woran sie hoffentlich schnell das Interesse verlieren würde. Sie mussten alle gedacht haben, ich sei eine Phase, aus der Sadie herauswachsen würde. Eine fein eingestellte, kontrollierte Rebellion.
Sie hatte mich mit dem Treffen mit ihnen überrumpelt, ohne dass ich Zeit gehabt hätte, mich entweder vorzubereiten oder einen Rückzieher zu machen. »Ich habe ihnen gesagt, dass ich eine Freundin zum Essen mitbringe«, sagte sie, als wir gerade die Stufen zu ihrem Haus hochgingen, ein paar Tage später in dieser ersten Woche.
»Oh, nein, ich will …«
»Bitte. Sie werden dich lieben.« Sie hielt inne, lächelte. »Sie werden dich mögen
«, berichtigte sie sich.
»Oder mich geradeso tolerieren, dir zuliebe?«
»Oh, es wäre nicht mir zuliebe. Komm schon, es ist nur ein Essen. Bitte, rette mich vor der Monotonie.« Wieder diese leichte Geste mit der Hand. All das. Mein Leben.
»Ich weiß nichts über sie«, sagte ich, auch wenn das nicht stimmte.
Sie hielt direkt vor der Tür an. »Alles, was du wirklich wissen musst, ist, dass mein Vater das Gehirn und meine Mutter die Muskeln hat.« Ich lachte, weil ich dachte, sie scherze. Bianca war zierlich, schlank, mit einem kindlichen Tonfall in der Stimme. Aber Sadie hob nur eine Augenbraue. »Mein Vater hat
gesagt, es sei nicht sicher, hier oben zu bauen. Und doch«, sagte sie und zeigte herum, als sie die Tür aufmachte, »da sind wir. Und
sie leitet die Wohltätigkeitsorganisation der Familie.« Inzwischen flüsterte sie nur noch, während ich verzweifelt versuchte, mir alles zu merken. »Alle müssen dem Schrein der Bianca Loman huldigen.«
»Sadie?« Die Stimme einer Frau erklang von irgendwo außer Sichtweite. »Bist du das?«
»Los geht’s«, murmelte Sadie und stieß mich mit der Hüfte an.
Ich verstand nun, was es mit ihrem Handgewedel auf sich hatte – die Mutter, Bianca. Grant hatte nur eine Stimmung, stabil und unerbittlich, aber zumindest vorhersehbar. Von ihm lernte ich, was wahre Macht war. Bianca konnte dich in Wohlbehagen einlullen mit ihrem Lob, nur um zuzuschlagen, wenn deine Abwehr gerade unten war. Aber jemanden runtermachen konnte jeder; sogar ich konnte das. Jemanden aber aus einer Welt in eine andere zu erheben – das war wahre Macht.
Bei diesem ersten Dinner kopierte ich jede von Sadies Bewegungen, saß still und hoffte nicht aufzufallen. Doch ich bemerkte, wie ihre Kiefer sich mehr und mehr anspannten, während die Liste meiner Vergehen wuchs: kein College in Aussicht; kein Karriereplan; keine Zukunft.
Sadie hatte sie für mich eingenommen, in kleinen Dosen, auf ihre Art. Ich war ein Projekt. Am Ende des Sommers hatte ihr Vater mir ein Stipendium angeboten, um ein paar Wirtschaftskurse in der Nähe zu belegen, eine Investition in die Zukunft, wie er sagte. Als Nächstes kauften sie das Haus meiner Großmutter und ließen mich als Teil des Handels in ihrem Gästehaus wohnen. Eine Kostprobe davon, was es hieß, Sadie Loman zu sein
.
Irgendwann arbeitete ich Vollzeit für Loman-Immobilien, verwaltete und überwachte ihren gesamten Besitz in Littleport, während sie weg waren. Ich hatte mich hochgearbeitet, mich bewiesen.
Aber es war schwer, die Paranoia abzuschütteln, die von der Türglocke herrührte, die nachts zweimal geklingelt hatte, lange nachdem meine Eltern zu Hause hätten sein sollen; als ich erwartet hatte, meiner Mutter die Tür zu öffnen und sehen würde, wie sie in ihrer Tasche wühlte und sich dann das dunkle Haar aus den Augen strich – ich hab schon wieder den Schlüssel verloren
–, und meinem Vater, heimlich lächelnd neben ihr, der ihr kopfschüttelnd zusah. Aber stattdessen standen auf der vorderen Veranda Polizisten.
So war ich immer zu früh – zu Meetings, zu Besichtigungen, bei Anrufen. Ich bildete mir ein, auf diese Weise meinem Schicksal voraus zu sein.
»Ich habe eine Reservierung für Parker Loman«, sagte ich der Kellnerin. Es war immer aufregend, den Namen Loman zu nennen und der subtilen Veränderung in einem Ausdruck zuzusehen, der schnellen Anpassung. Sie lächelte, als sie mich zum Tisch führte, etwas Größerem als mir zu Diensten.
Ich setzte mich mit dem Rücken zur Wand, den Blick in den offenen Raum und auf die Fenster zum Anleger und dem Hafen dahinter gerichtet. Ein paar Minuten später erstarrte ich jedoch, als Detective Collins von derselben Kellnerin in meine Richtung geführt wurde. Mit einem Schwung ihrer Haare wies sie auf meinen Tisch, und mir sackte der Magen in die Kniekehlen. Sein Lächeln verrutschte bei meinem Anblick für eine Sekunde, aber als er sich setzte, hatte ich meine Gesichtszüge wieder unter Kontrolle. »Hi, Avery, mir war nicht klar, dass Sie dabei sein würden«, sagte er.
Ich hatte die Serviette in meinem Schoß zusammengeknüllt und lockerte nun langsam den Griff. »Ich wusste auch nicht,
dass Sie Teil dieses Komitees sind, Detective.« Aber natürlich ergab das einen Sinn; hätte ich darüber nachgedacht, wäre ich wahrscheinlich auch so auf ihn gekommen.
»Ben, bitte«, sagte er.
Gemeinsam mit Justine McCann, der Kommissarin von Littleport, organisierte und betreute Detective Ben Collins die meisten öffentlichen Veranstaltungen hier, vom Kinderumzug am vierten Juli bis zum Gründungsfest am Harbour Drive. Er war der Mann, den ich in jener Nacht am Steilufer gesehen hatte. Der mir mit der Taschenlampe ins Gesicht geleuchtet, mich geblendet hatte. Und er war der Mann, der mich befragt hatte, hinterher. Der alles wissen wollte über die Party und warum ich zurück nach oben an den Rand der Klippen gekommen war.
Er galt allgemein als gut aussehend – breitschultrig, kantiger Kiefer, funkelnde Augen. Man sah langsam Zeichen des Alters, die aber irgendwie seine Anziehungskraft bei anderen noch steigerten, doch ich selbst konnte ihn immer nur im Negativraum sehen. Stets, wie in jener Nacht, in einem Lichtstrahl, der ihn in furchterregende Teile zerschnitt.
»Also«, sagte er und trank einen Schluck Wasser, »schön, Sie zu sehen. Ist eine Weile her. Wo wohnen Sie jetzt?«
Ich antwortete nicht, tat, als läse ich die Speisekarte. »Gleichfalls schön, Sie zu sehen«, sagte ich.
Es war schwer zu erkennen, wo der Small Talk endete und das Verhör begann. Bevor sie Sadies Notiz gefunden hatten, hatte er mir gegenüber an meinem Küchentisch gesessen und wieder und wieder meine Geschichte über jene Nacht auseinandergenommen. Als hätte er in meiner ursprünglichen Aussage etwas gehört, das ihm seltsam vorgekommen war.
Mit wem waren Sie zusammen? Warum haben Sie sie angerufen? Ihr geschrieben?
Und an der Stelle hatte er immer eine Pause gemacht: Aber Sie sind nicht zurückgegangen, um sie zu holen
?
Es war wie Schnellfeuer gewesen, brutal, sodass ich manchmal nicht mehr sagen konnte, ob ich eine Erinnerung aus jener Nacht hervorholte oder nur etwas, was ich ihm zuletzt erzählt hatte.
Wer war noch da? Wussten Sie, dass sie sich mit Connor Harlow traf?
»Ich bin froh, dass Sie hier sind«, sagte er. »Um die Wahrheit zu sagen – ich wollte Sie heute Nachmittag anrufen.«
Ich hielt die Luft an, wartete. Mir war klar geworden, dass diese Liste von Leuten, die er mir gegeben hatte, dazu diente, eine Ungereimtheit in der Aussage von irgendjemandem zu finden. Als er also beim Verhör aufgestanden war, um einen Anruf zu tätigen, und sein Partner sich gerade umdrehte, hatte ich mit dem Handy schnell ein Foto von der Liste gemacht, ich wollte versuchen zu erkennen, was sie erkannten. Es hatte sich allerdings nicht gelohnt. Am selben Tag hatten sie Sadies Nachricht gefunden, und danach hatte nichts mehr eine Rolle gespielt. Als ich ihm aber nun gegenübersaß, erwartete ich fast, dass er wieder in einem Detail herumstochern, nach einer Diskrepanz suchen würde.
»Ich habe gehört, dass es in einem der Häuser gestern Nacht Probleme gegeben hat«, sagte er.
»Oh, ja.« Ich schüttelte den Kopf. »Es wurde nichts gestohlen.«
Er glättete das Tischtuch vor sich. »Die Mieter waren ganz schön verschreckt.«
Mein Herz machte einen Satz. »Waren Sie da?«
Er nickte. »Ich hab den Anruf entgegengenommen. Bin vorbeigefahren, hab mich umgesehen, sie beruhigt.«
»Warum haben Sie mich letzte Nacht nicht angerufen?« Mein einziger verpasster Anruf war der von den Donaldsons gewesen.
»War es nicht wert, jemanden deswegen aufzuwecken«, sagte
er. »Ehrlich, ich konnte keinen Beweis finden, dass sonst jemand dort war.«
»Na ja«, sagte ich und entspannte die Schultern, »wir werden sowieso keine Anzeige erstatten. Die Mieter haben beschlossen abzureisen. Da ist es nicht nötig, einen Bericht zu schreiben.«
Eine lange Sekunde der Stille sah er mich durchdringend an. »Ich weiß, wie ich meine Arbeit zu tun habe, Avery.«
Ich sah weg, und das vertraute Gefühl setzte sich wieder in mir fest. Als gäbe es etwas, wonach er suchte, versteckt hinter meinen Worten.
»Oh, da ist ja Parker«, sagte ich und betrachtete ihn, wie er zusammen mit Justine McCann und einer anderen Frau den Raum betrat. Als sie näher kamen, erkannte ich auch die dritte Person, kam aber nicht auf den Namen. Sie war ungefähr in meinem Alter, hellbraunes Haar zu einem französischen Zopf geflochten, rote Brille, Lippenstift im gleichen Farbton.
Parker beugte sich vor und deutete einen Wangenkuss an, was überraschend war. »Tut mir leid, wenn ihr lange warten musstet«, sagte er.
»Ganz und gar nicht.«
Er schüttelte dem Detective die Hand und fuhr mit der Vorstellungsrunde fort. »Justine, kennen Sie Avery Greer?«
»Natürlich«, antwortete Justine höflich lächelnd. Sie war die Älteste in unserer Gruppe, um mindestens zwei Jahrzehnte, und allein durch diese Tatsache verschaffte sie sich schon Aufmerksamkeit. »Schön, dass Sie uns Gesellschaft leisten können, Avery. Das ist meine Assistentin Erica Hopkins.«
»Wir kennen uns«, sagte Erica, die Hände um eine Stuhllehne geschlungen. »Du und deine Großmutter haben neben meiner Tante gewohnt. Evelyn?«
»Richtig. Ja. Hallo.« Deshalb kam sie mir bekannt vor. Erica Hopkins war nicht mit uns zusammen zur Schule gegangen,
aber sie hatte im Sommer oft ihre Tante besucht. Ich hatte sie allerdings jahrelang nicht gesehen.
Sie lächelte knapp. »Schön, dich mal wiederzusehen.«
»Wie geht es Ihren Eltern, Parker?«, fragte Detective Collins, während alle um den runden Tisch Platz nahmen.
»Ganz gut.« Parker fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, strich mit dem Daumen an seinem Gesicht entlang. Eine nervöse Angewohnheit, das Kratzen des schwachen Schattens eines Bartes. »Sie werden nun wohl doch zur Einweihung hier hochkommen.«
»Das ist wunderbar«, sagte Justine und klatschte in die Hände. Als ob wir alle etwas Positives daraus ziehen könnten. Eine Hommage an ein totes Mädchen. Ein Besuch ihrer trauernden Eltern, die die Schuld an der ganzen Sache Littleport geben wollten. Mir war gar nicht bewusst, dass ich den Kopf schüttelte, bis ich bemerkte, dass der Detective mich neugierig ansah.
»Einige Bitten habe ich trotzdem«, fügte Parker hinzu und rieb seine Hände unter dem Tisch an seiner Hose. Ich sah zu, wie er sich in den Business-Parker verwandelte. Er richtete die Ärmel seines Hemdes, eine Warnung vor dem, was folgen sollte. Es wäre ein Leichtes, seine Position einfach der Vetternwirtschaft zuzuschreiben, aber ich musste zugeben, dass er beeindruckend effektiv war, indem er uns alle glauben ließ, wir seien auf derselben Seite, wollten dasselbe – und dass er genau wusste, was wir brauchten.
Irgendwann, als es um die Presse für die neue Stiftung der Lomans ging, schaltete ich ab. Ein Selbstmordpräventionsprogramm der Gemeinde, die Bereitstellung der dafür vorgesehenen psychiatrischen Versorgung und Untersuchung. Ich wusste bereits alles darüber, hatte die Artikel gelesen, die Reportagen. Sadies Tod hatte die Lomans irgendwie nur noch interessanter, noch wertvoller gemacht. Als wären sie durch die Tragödie menschlich geworden. Die ganze Sache war ekelhaft
.
Ich konzentrierte mich auf den Hummersalat, der für alle serviert worden war, leicht und wohltuend, versuchte mich an das letzte Mal zu erinnern, als ich hier zusammen mit den Lomans war.
Mit plötzlicher Wucht fiel es mir ein: Sadies Geburtstag. Später Juli letztes Jahr. Ihre Eltern, Parker, Luce und ich. Sie war unkonzentriert gewesen. Sprunghaft. Hatte in ihrem Job gerade die Position gewechselt. Ich hatte angenommen, sie war abgelenkt. Distanziert und unbeteiligt
, so hatte die Polizei es später beschrieben. Als wäre dies das erste Zeichen gewesen, das wir verpasst hatten.
»Avery?« Parker sah mich an, als hätte er mir gerade eine Frage gestellt. »Kannst du dich um den Zeitungsartikel kümmern? Das richtige Foto heraussuchen?«
»Natürlich«, sagte ich. Und da verstand ich meine Rolle. Justine hatte ihre Assistentin mitgebracht – und Parker seine. Ich war Angestellte der Lomans, eine Requisite, eine Machtdemonstration. Ich hatte mich sogar so angezogen.
Wir standen auf, verabschiedeten uns.
»Ich melde mich bald«, sagte Erica, als wir nach draußen traten, und gab mir ihre Karte. Sie ging vor uns die Holzstufen hinunter. Als sie am Auto ankam, sah sie noch einmal zu uns hoch, aber ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht einordnen.
Ich konnte mir nur vorstellen, was Evelyn ihr erzählt hatte.
Parker stand neben mir, als die anderen wegfuhren. Er berührte meine Schulter, und ich zuckte zusammen.
»Bist du sauer? Avery, es tut mir leid. Meine Eltern haben mich hierhergeschickt, weil sie dachten, ich kann das hier regeln. Aber das kann ich nicht. Ich brauche wirklich deine Hilfe dabei.
«
Ich ging über die Straße auf mein Auto zu, das zwischen zwei teuren SUVs eingeklemmt war, und er hielt mit mir Schritt. »Mensch, Parker. Wie wär’s, wenn du mich nächstes Mal einfach vorher informierst? Außerdem war mir nicht klar, dass Detective Collins dabei sein würde. Gott.«
Er legte eine Hand auf das Dach meines Wagens und beugte sich zu mir. »Ich weiß. Ich weiß, es ist nicht leicht.«
Ich glaubte nicht, dass er das wusste. Bis Parker seine Aussage machen musste, war der Anwalt der Familie bei ihm. Sein Vater war wahrscheinlich ebenfalls im Raum gewesen, hatte alles überwacht. Parker war der Bruder des Opfers und wurde dementsprechend behandelt. Ich war ein Produkt von Littleport, etwas, was extrem fehl am Platz war, und Detective Collins hatte mir von Anfang an nicht getraut.
Kann irgendjemand die ganze Zeit für Sie bürgen, Avery?
Parker, Luce, es gab ein ganzes Haus voller Leute. Sie haben mich gesehen. Ich war da.
Sie hätten gehen können. Sie können nicht für jeden Moment bürgen.
Aber das bin ich nicht. Und ich habe Ihnen gesagt, dass sie mir eine Nachricht geschrieben hat. Es ging ihr gut.
Was ist mit Connor Harlow?
Was soll mit ihm sein?
Wissen Sie, wie es ihm gestern Nacht ging?
Ich weiß gar nichts. Connor und ich sprechen nicht mehr miteinander.
»Es würde mir viel bedeuten«, sagte Parker, »wenn du mir hiermit hilfst.« Änderung der Taktik, um mich auf seine Seite zu ziehen.
»Ich dachte, du hättest gesagt, deine Eltern würden nicht zur Einweihung kommen«, sagte ich, unfähig den Vorwurf in meiner Stimme zu verstecken.
Er sah auf sein Telefon, verschickte eine Nachricht. »Na
ja, es ist noch nicht klar. Wahrscheinlich werden sie das auch nicht.« Halbe Aufmerksamkeit. Halbes Interesse. »Ist aber besser, wenn die anderen das denken. Das wird alles einfacher machen.« Parker erzählte den Leuten immer, was sie hören wollten, und ich konnte nicht sagen, mit wem von uns er gerade seine Spielchen spielte.
Seine Lügen, damals und heute, ganz ohne Anstrengung.
Wie alles in ihrem Leben.