Kapitel 5
Als ich das Point betrat, lächelte Mr. Sylva höflich. Im Sommer hielten wir unsere Mienen ruhig und vorhersehbar, eine Maske, Teil der endlosen Scharade. Mr. Sylva ließ sich nicht anmerken, dass Faith und ich, als wir Kinder waren, diese Flure entlanggerannt waren, das Trampeln unserer nackten Füße ertönte im Gleichklang mit unserem Gelächter, während er uns hinterherrief: Mädchen! Passt auf! Oder dass er Jahre später die Polizei hatte rufen müssen, um mich vom Grundstück entfernen zu lassen.
»Guten Tag«, sagte er. Faiths Vater sah aus wie ein Fischer, mit wettergegerbter Haut und knorrigen Händen, nicht vom Herumwuchten der Hummerkisten, sondern vom Tischlern, was optisch keinen Unterschied machte. Die Sylvas sahen alle aus, als wären sie eins mit der Küste von Maine und ihren Produkten. Mrs. Sylvas flammend rotes Haar war, seit wir uns zuletzt gesehen hatten, an den Schläfen grau geworden, und die Linien in ihrem Gesicht waren tief eingegraben, als hätte sie Jahre auf dem Balkon verbracht, den Ozean betrachtet, sich dem Wind entgegengestellt. Faiths Haare gingen mehr ins Bernsteinfarbene, lockig und wild, und sie machte sich nie die Mühe, sie zu bändigen – typisch Faith. Egal, was sie anboten, die Leute kauften es, einfach weil sie nach dem Aussehen des Ortes urteilten.
Ich ging geradewegs zur großen Eichenrezeption in dem zweistöckigen Foyer und legte den Umschlag auf den Tresen, vorne in meiner Schrift draufgeschrieben: Kevin Donaldson . »Hi, Mr. Sylva, ich glaube, Familie Donaldson sollte heute irgendwann einchecken? Wären Sie so nett, das hier an sie weiterzugeben?«
Der Eingang zur Küche hinter dem Tresen öffnete sich, und Faith blieb wie angewurzelt stehen, die Türen schwangen hinter ihr. »Oh. Ich wusste nicht, dass hier jemand ist.« Sie räusperte sich, es war offensichtlich, dass sie mit jemand mich meinte.
»Hallo, Faith. Willkommen zurück.« Ihr weites T-Shirt hing ihr über eine Schulter, sodass ich ihren Schlüsselbeinknochen sehen konnte. Schwarze Leggins, schwarze Schlappen und das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Auf den ersten Blick könnte sie immer noch das Mädchen sein, das sich für einen Mitternachtssnack während Übernachtungspartys am Wochenende in die Küche schleicht, die das Gelände barfuß, buchstäblich hüpfenden Schrittes, sowohl drinnen als auch draußen durchstreift hatte – als würde sie auf den Startschuss warten. Aber sie war dünner geworden, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Aus der Art, wie sie mich musterte, schloss ich, dass sie die Veränderungen an mir wohl auch wahrnahm.
»Danke.« Sie drehte sich schnell Richtung Rezeption. »Mom braucht die Gästezahl fürs Mittagessen, wenn du Zeit hast.«
Mr. Sylva nickte, und Faith verschwand wieder hinter den Schwingtüren. Ich hatte gehört, dass sie ihr Graduiertenprogramm beendet hatte, wieder hierher zurückgezogen und bereit war, die Pension zu übernehmen, sobald ihre Eltern in Rente gingen.
»Muss schön sein, sie wieder zu Hause zu haben«, sagte ich.
»Das ist es. Du musst mal zu Besuch kommen und dich auf den neuesten Stand bringen lassen, wenn sie gerade nicht so viel zu tun hat. «
»Unbedingt.« Freundlichkeiten. Er meinte es nicht ernst, und ich auch nicht.
Aus dem oberen Flur waren Schritte zu hören, und ich sah instinktiv hoch, entdeckte aber nur Schatten oben an der geschwungenen Doppeltreppe.
Das Haupthaus war riesig und hatte sich über die Zeit stetig vergrößert; früher dachte ich, es sei ein Schloss. Es gab gebogene Türrahmen, versteckte Fenstersitze, Schränke in Schränken. Ein Geländer aus unbehandeltem Holz, das hinten an den Klippen entlangführte. Balkone, die gefährlich nah über dem Rand der Aussichtsfläche hingen, salziger Nebel legte sich beständig auf die Brüstungen. Faith hatte auch da gewohnt, im obersten Stockwerk, in einem umgebauten Teil des Dachbodens, wo wir in der Middleschool alle zum ersten Mal eine Flasche herumgehen ließen.
Eine Sekunde lang erinnerte ich mich an Connor, wie er damals war, dass er scheinbar nie stillstehen konnte. Wie er verschwinden konnte, während du dich umdrehtest, nur um dann zur Tür hereinzukommen, gerade wenn dir auffiel, dass er weg war. Dieses Gefühl, dass er ein komplettes zweites Leben lebte in dieser Pause, während der Rest von uns in Zeitlupe feststeckte.
Mr. Sylvas Blick folgte dem meinen zum Treppenabsatz, und als die Schritte sich zurückzogen, beugte er sich vor und senkte die Stimme. »Die Donaldsons sind schon angekommen. Schienen ein bisschen durcheinander, um ehrlich zu sein. Was ist da oben passiert, Avery?« Er wies mit dem Kinn zur Seite in Richtung der Ferienhäuser auf der Aussichtsfläche. Sie waren zu Fuß erreichbar, aber von hier nicht vollständig zu sehen.
»Ich weiß nicht«, sagte ich und sah noch einmal zu dem leeren, im Schatten liegenden Flur hoch. »Ich will gerade mal gucken gehen. «
Familie Donaldson hatte im Blue Robin gewohnt, dem Schauplatz der letzten Plus-One-Party. Ich war seitdem nicht zum ersten Mal hier, aber ich hatte mich nie lange aufgehalten. Ich hatte die Besichtigungen zwischen den Gästen kurz und effizient gehalten. Ansonsten gab es zu viel dort, was mich erinnerte.
Das war nicht der Ort, an dem Sadie gestorben war, also hatte die Polizei ihn ziemlich außer Acht gelassen. Aber es würde immer der Platz sein, an dem ich war, als ich sie mir das letzte Mal lebendig vorgestellt hatte. Wo ich auf ihre letzte Nachricht gewartet hatte, auf das Letzte, was sie mir sagen wollte:
Niemand versteht.
Ich werde dich vermissen.
Vergib mir.
Ich werde nie wissen, was sie sagen wollte. Die Polizei hatte versucht, ihr Handy zu finden, aber das GPS war schon seit ich sie kenne deaktiviert – eine übrig gebliebene Vorsichtsmaßnahme aus der Teenagerzeit, in der ihre Eltern sie ausspioniert und jeden ihrer Schritte überwacht hatten. Das Handy war offline, als die Polizei ihre Nummer anwählte, am wahrscheinlichsten war es im Meer verloren gegangen, als sie sprang.
Es gab einen Pfad, der von der Pension durch die Bäume zur Aussichtsfläche führte und direkt hinter dem Blue Robin vorbeiging. Ich hätte mein Auto nehmen, die Auffahrt wieder zurückfahren und die nächste Abbiegung nehmen können, aber ich wollte niemanden darauf aufmerksam machen, dass ich kam; ich wollte nicht, dass jemand mein Auto erkannte und fragte, was los war.
Ich ging denselben Pfad, den ich vor fast einem Jahr entlanggerannt war, Parker und Luce folgend. Gerannt zu etwas hin, das wir unmöglich aufhalten konnten. Im Nachhinein wusste ich, dass Parker nicht mehr hätte fahren sollen. Niemand von uns hätte das. Die Nacht hatte verschwommene Winkel, was Partys häufig bei mir bewirkten. Erinnerungsfetzen kamen während der Befragung in überraschenden Flashbacks zu mir zurück, verwandelten sich in eine künstliche Zeitleiste der Dinge, die ich gesagt oder getan, gesehen oder gehört hatte.
Als ich nun auf der vorderen Veranda stand, konnte ich die Leute auf der anderen Seite fast fühlen – die Hitze, das Gelächter –, bevor sich alles verändert hatte.
Die Donaldsons hatten sich an die Hausregeln gehalten und den Schlüssel in einem Umschlag im Briefkasten neben der Vordertür hinterlegt. Nicht gerade die sicherste Methode, das wusste ich, aber es war alles Teil des Spiels. Teil der Geschichte, die wir über diesen Ort hier erzählten. Es gab viele offensichtliche Gefahren in Littleport, trotz der gegenteiligen Aussagen, die wir den Touristen gegenüber machten. Ein sicherer Ort , sagten wir ihnen, und im Grunde genommen, wenn man sich die Kriminalitätsstatistik ansah, war das die Wahrheit.
Aber es gab andere Gefahren. Ein Auto auf einer dunklen, gewundenen Straße. Eine vereiste Stelle auf dem Gehweg. Das Steilufer, die Strömung, die Felsen.
Die Berge und das Wasser; die Kälte im Winter; das Wohlbehagen im Sommer.
Die Beinahe-Verschwundenen, von denen nie berichtet wurde: die Wanderer, die vermisst wurden (und die man zwei Tage später fand), die Frau, die in eine Schlucht fiel (sie hatte es geschafft, um Hilfe zu rufen, denn zu ihrem Glück hatte sie ihr Handy dabei), die Kajakfahrer, von den Hummerfischern herausgezogen, einer nach dem anderen, die ganze Saison hindurch, sie unterschätzten die Strömung und gerieten in Panik.
Und es gab mehr – jene, von denen wir so taten, als existierten sie nicht.
Das Haus roch immer noch nach Frühstück, als ich eintrat. Sie hatten ihr Geschirr in der Spüle stehen lassen, eingeweicht im Wasser, obwohl sie eigentlich verpflichtet waren, den Geschirrspüler zu befüllen, bevor die Reinigungsfirma kam.
Ich konnte erst nichts entdecken, keine Anzeichen, dass jemand anderes hier gewesen war, wie Detective Collins gesagt hatte. Die Stühle standen nicht mehr in der Mitte des Esszimmers, wahrscheinlich hatte aber Familie Donaldson sie weggerückt. Das Gleiche mit den dreckigen Fingerabdrücken und der Ecke des Wohnzimmerteppichs, die umgeklappt war.
Aber dann fielen mir ein paar kleinere Details auf: das umgedrehte Kissen auf einem Sofa, als hätte jemand die Kissen weggenommen und dann dieses falsch zurückgelegt. Die Beine des Esszimmertischs passten nicht mehr in die Abdrücke auf dem Teppich darunter. Die Donaldsons hätten doch sicher keinen Grund gehabt, die Möbel umzustellen.
Ich drehte eine Runde durch das Haus, fuhr mit den Fingern an den Fensterbänken entlang, den Türrahmen, prüfte die Schlösser. Alles schien sicher. Ich stoppte am zweiten Fenster, das nach hinten hinausging, ein bisschen glatter als alle anderen. Irgendwann nach der Plus-One-Party war es ausgetauscht worden, weil es von einem Netz von Rissen durchzogen gewesen war. Ein Unfall in der Partynacht, das Risiko, wenn man querbeet alle möglichen Leute in sein Haus einlud.
Ich selbst hatte das Ersatzfenster bestellt. Nun fuhr ich mit den Fingern an seinen Kanten entlang, etwas dünner, mit einem glatteren Schloss. Es war in der verschlossenen Stellung. Aber es war ein neueres Modell als die anderen Fenster, der Hebel war so schmal, dass ich nicht sicher war, dass er genau passte. Ich zog es von unten hoch, und die Scheibe glitt ohne Widerstand nach oben, Schloss hin oder her. Ich fluchte innerlich. Wenigstens musste ich mir keine Gedanken um jemanden mit einem Schlüssel machen.
Erst einmal musste ich sichergehen, dass nichts von uns gestohlen worden war; die Ferienhäuser hatten keine besonders gehobene Einrichtung, aber es war bestimmt trotzdem das Beste, schnell alles durchzuchecken. Bei der Art, wie die Kissen lagen, schien es, als hätte, wer auch immer hier drin war, nach versteckten Wertgegenständen gesucht. In einem Haus ohne Safe ist bekannt, was die Leute tun: Laptops zwischen Matratze und Lattenrost verstecken. Schmuck in Schubladen unter der Kleidung.
Die Tür zum großen Schlafzimmer am Ende des Flurs war geschlossen, aber ich dachte mir, dass dort alles von Wert versteckt werden würde – da würde man nachsehen.
Sobald ich die Tür öffnete, roch ich Meersalz und Lavendel. Auf der weißen Holzkommode brannte noch eine Kerze. Vergessen, als die Donaldsons abgereist waren. Kerzen waren nicht explizit verboten, aber das hier ließ mich daran zweifeln, ob im Haus welche vorhanden sein sollten. Ich blies die Flamme aus, eine schwarze Rauchfahne kringelte sich vor dem Spiegel, bevor sie sich auflöste.
Die Schubladen waren alle leer, und auch auf der Badezimmerablage war nichts liegen geblieben. Das Doppelbett war ungemacht, der weiße Überwurf lag zerknüllt am Boden. Ich öffnete die Truhe am Fußende, in der wir zusätzliche Decken aufbewahrten, der Geruch erinnerte mich an den alten Dachboden meiner Großmutter, abgestanden und erdig. Eine Spinne huschte über den Stapel, und ich machte einen Satz nach hinten, bekam eine Gänsehaut. Diese Decken sind vermutlich den ganzen Sommer über nicht angerührt worden. Sie mussten gewaschen werden, die ganze Truhe sollte einmal mit Möbelpolitur geputzt und ausgesaugt werden – für nächste Woche war noch eine letzte Familie eingeplant.
Ich schaufelte den Berg von Decken und Überwürfen heraus, hielt die Luft an, und da erblickte ich etwas unten in einer Ecke.
Es war ein Handy. Erst nahm ich an, die Donaldsons hatten es vergessen, versteckt, genau wie ich es getan hätte. Aber das Display hatte in der oberen linken Ecke einen Sprung, und es schien ausgeschaltet zu sein, wahrscheinlich verloren und vergessen von einer Familie, die früher in der Saison hier gewesen war. Ich wollte es in meine Tasche stecken, aber ein roter Streifen an der Ecke der einfachen schwarzen Hülle zog meinen Blick auf sich. Nagellack, das wusste ich. Vom Anfang des letzten Sommers, als sie eine Nachricht schrieb, bevor ihre Nägel trocken waren.
Der Versuch, ihn wegzuwischen, hatte es nur schlimmer gemacht. Gibt ihm Charakter , sagte sie.
Ich saß auf der Bettkante, zitternd.
Ich hielt Sadie Lomans Telefon in der Hand.