Kapitel 6
Ich saß dort auf der Bettkante, während die Sekunden verstrichen, starrte auf das Telefon in meiner Hand.
Sadies Handy, das die Polizei nie gefunden hatte. Sadies Handy, mutmaßlich im Meer verloren, weil es ihr aus der Hand fiel, als sie sprang, oder sie es kurz vorher in den Abgrund geworfen hatte.
Wenn Sadie in der Nacht allein gewesen war, wie konnte ihr Handy hierher gelangen?
Nun sah ich wieder die Punkte, die das Nachrichtenfenster erhellten, stellte mir ihren letzten Text vor:
Hilf mir …
Ein Knarren war vor dem Schlafzimmer zu hören, und ich stand schnell auf, mein Herz klopfte.
»Avery? Bist du hier?«
Ich ließ das Handy in meine Gesäßtasche gleiten, als ich aus dem Zimmer trat, den kurzen Flur entlangging. Connor stand mitten in der Eingangshalle und sah die Treppe hinauf. »Oh«, sagte er.
»Hey, hallo.« Ich verlor kurz die Orientierung, mit dem Handy in der Hosentasche und Connor vor mir, in dem Haus, in dem wir alle waren, als sie starb.
Connor und ich hatten nicht mehr die Art von Beziehung, in der wir miteinander sprachen oder uns gegenseitig suchten. Und nun hier in einem Zimmer mit mir schien es, als wüsste er selbst nicht, was er hier tat .
Er war für die Arbeit gekleidet, in Jeans und einem roten Poloshirt mit dem Logo der Harlow-Familie in der linken oberen Ecke. Auch sonst erinnerte mich Connor immer ans Meer. Auf seinen blauen Augen lag so ein Glanz, als hätte er zu lange in die Sonne geblinzelt. Spuren von Salzwasser, die auf seinen Handflächen zurückblieben. Die Haut viel gebräunter als alle anderen hier – durch das Auf-See-Sein, wo die Sonne dich doppelt erwischt: einmal von oben und dann noch mal als Reflektion von der Wasseroberfläche. Und braunes Haar mit von den Sommermonaten hellen Strähnen, die unter seinem Hut hervorlugten. Er war immer schon dünn gewesen, eher drahtig als stark, aber bis wir zur Highschool kamen, war er in die schärferen Konturen seines Gesichtes hineingewachsen.
»Was machst du hier?«, fragte ich.
Erst antwortete er nicht, stand nur da zwischen mir und der Haustür, musterte mich. Ich wusste, was er sah: die Anzughose, die Halbschuhe, die ärmellose Bluse, die mich in eine andere Person verwandelte, mit einer anderen Rolle. Oder vielleicht war es nur die Art, wie ich dastand, auf der Stelle erstarrt, unsicher, wie ich mich bewegen sollte – als hätte ich etwas zu verbergen. Und für einen Moment konnte ich nur die Fragen des Detectives hören: Was ist mit Connor Harlow? Wissen Sie, wie es ihm gestern Nacht ging? Connor runzelte die Stirn, als wüsste er, was ich dachte. »Tut mir leid«, sagte er. »Die Tür war offen. Ich hab dein Auto beim Point gesehen, als ich meine Auslieferung gemacht habe. Mr. Sylva hat mir gesagt, was passiert ist. Ist alles in Ordnung hier?« Er sah sich im Erdgeschoss um.
»Es fehlt nichts«, sagte ich.
»Jugendliche?«
Ich nickte langsam, war aber nicht sicher; versuchten wir hier, uns etwas einzureden? Wenn da nicht das Handy wäre, das ich gerade gefunden hatte, wäre es die logischste Erklärung. Etwas, mit dem wir hier nur zu vertraut waren. In der Nebensaison hatten wir ein Problem mit den Jugendlichen. Ein Drogenproblem. Ein Langeweileproblem. Ein unausweichliches, existenzielles Problem. Man tat alles, um den Winter hier zu überstehen. Schlimmer wäre es, wenn es sich in den Sommer ausweiten würde.
In der Nebensaison hatten wir alle schon in die Häuser gespäht. Neugier, Zeitvertreib, das Schicksal herausfordern. Testen, wie weit wir gehen und womit wir davonkommen konnten.
Connor und ich wussten das so gut wie alle anderen. Er, Faith und ich hatten unten vor dem Haus der Lomans gestanden in einem Winter vor langer Zeit, ich auf Connors Schultern, bevor ich dann auf einen Balkon im zweiten Stock kletterte und mich durch ein Fenster im großen Schlafzimmer schob, das offen gelassen worden war. Die anderen folgten nach. Wir nahmen nichts mit. Waren nur neugierig. Faith öffnete den Gefrierschrank, den Kühlschrank, die Badezimmerschränke, die Schreibtischschubladen – alle leer –, ließ ihre Finger über sämtliche Oberflächen gleiten, während sie sich überall umsah. Connor durchwanderte die Zimmer des unbewohnten Hauses, ohne etwas anzufassen, als wolle er sie im Gedächtnis behalten.
Aber ich blieb im Wohnzimmer, stand vor dem Bild, das an der Wand über dem Sofa hing. Starrte die Familie darauf an. Die Mutter und die Tochter, blond und schlank, Vater und Sohn, dunklere Haare, die gleichen Augen. Eine Hand auf der Schulter jedes Kindes. Vier Teile eines Sets, lächelnd, die Dünen von Breaker Beach hinter sich. Das war näher als ich je an Sadie Loman herangekommen war. Ich trat noch näher, studierte die feineren Details: der schiefe Eckzahn, der noch gerichtet werden musste. Ich sah die Mutter vor mir, wie sie ihr den Lockenstab in das ansonsten schnurgerade Haar wickelte. Den Fotografen, der alle Mängel glättete, sodass ihre Sommersprossen verblassten, in ihrer Haut verschwanden.
Irgendwann kam Connor wieder zurück und sah, wie ich das Familienporträt betrachtete. Er stieß mich an der Schulter an, flüsterte mir ins Ohr: Lass uns hier verschwinden. Ich krieg ’ne Gänsehaut hier drin.
Nun stand er auf der anderen Seite des Zimmers, und ich wusste immer noch nicht, was er hier machte. Warum er so interessiert an einem Einbruch in ein Ferienhaus war, aus dem nichts gestohlen worden war.
»Wer auch immer es war, kam durch das Fenster hier«, sagte ich und schüttelte den kalten Schauer ab. »Das Schloss rastet nicht richtig ein.«
Für einen Moment sah er mir in die Augen, als würde er sich auch erinnern. »Brauchst du die Nummer von einem Glaser?«
»Nein, ich kenne einen.« Ich starrte durch die Scheibe und sah Connors Gesicht vor mir, wie es damals ausgesehen hatte, zersplittert, in meiner Erinnerung. »Weißt du noch, wie es zerbrach, in der Nacht, als Sadie starb?«
Er zuckte zusammen, als er ihren Namen hörte, rieb sich dann über sein stoppeliges Kinn, um es zu überspielen. »Bin nicht sicher. Ich hab nur die Frau auf der anderen Seite stehen und es untersuchen sehen. Parker Lomans Freundin.«
»Luce«, sagte ich. In jenem Sommer war es mir vorgekommen, als beobachte sie jeden meiner Schritte.
Er zuckte mit einer Schulter. »Sie wirkte aufgeregt, deshalb hatte ich ehrlich gesagt angenommen, dass sie es war. Warum?«
»Aus keinem bestimmten Grund. Ich hab nur gerade daran gedacht.« Weil Sadies Handy in meiner Tasche steckte und nichts mehr einen Sinn ergab. Ich hielt die Luft an, wünschte mir, er würde gehen, bevor er meine Hände bemerkte. Wie ich sie an meine Beine pressen musste, damit sie nicht zitterten. Aber Connor lief langsam im Zimmer hin und her, sein Blick wanderte über die Fenster, die Möbel, die Wände.
»Ich erinnere mich an das Bild«, sagte er und zeigte auf das Gemälde an der Wand.
Es war ein Druck meiner Mutter, nach einem Bild, das sie eines Abends auf dem Boot von Connors Dad gemacht hatte, im Herbst vor dem Autounfall. Wir waren in der Middleschool, vielleicht dreizehn. Sie machte außerhalb des Hafens eine Reihe von Fotos von der Küstenlinie, während der Abend in die Dämmerung und dann in die Dunkelheit überging. Die Häuser entlang der Küste waren nicht länger erleuchtet und einladend, sondern wirkten monströs, dunkle Schatten hielten Wache in der Nacht. Sie fotografierte, sobald das Licht sich veränderte, bis die Dunkelheit sich gesetzt hatte und ich keine Schatten mehr ausmachen, Meer nicht mehr von Land und Land nicht mehr von Himmel unterscheiden konnte; ich verlor jeden Orientierungssinn und erbrach mich über die Reling.
»Ich glaub, die Kinder haben genug, Lena«, hatte Mr. Harlow lachend gemeint.
Sie hatte versucht, das in diesem Gemälde festzuhalten, nach endlosen Entwürfen in ihrem Studio. Das Endprodukt war in Schattierungen von Blau und Grau gehalten, etwas zwischen Dämmerung und Nacht. Das Grau des Wassers vermischte sich mit der Dunkelheit der Klippen und verschwand im Blau der Nacht. Als könntest du das Bild in die Hand nehmen, es schütteln und so das Motiv wieder daraus auftauchen lassen.
Jahre später hab ich Drucke davon anfertigen lassen und sie an die Wohnzimmerwand in jedem Haus gehängt, für das ich zuständig war. Ein Stück von ihr in allen Loman-Häusern, und niemand außer mir wusste es .
Als ich nun ihr Bild anstarrte, überwältigte mich der Impuls, es zu tun – mich auszustrecken und danach zu greifen. Ich wollte diesen Moment nehmen und ihn wieder ins Blickfeld schütteln. Eine Hand durch die Zeit stecken und nach Sadies Arm greifen.
Bis man Sadies Nachricht gefunden hatte, waren Detective Collins’ Fragen immer wieder um Connor Harlow gekreist, obwohl sein Alibi stichhaltig war. Er war auf der Party; niemand hatte ihn je gehen sehen. Und doch. Er war ein paar Tage zuvor zusammen mit Sadie gesehen worden. Sadie hatte niemandem davon erzählt. Und soweit ich wusste, auch Connor nicht.
»Hast du sie in der Nacht getroffen, Connor?«, fragte ich, als er immer noch von mir abgewandt war.
Er erstarrte, sein Rücken versteifte sich. »Nein«, sagte er und wusste genau, worauf ich anspielte. »Ich habe sie in der Nacht nicht getroffen, und ich habe sie auch sonst nie getroffen. Was ich auch der Polizei gesagt habe. Immer wieder.«
Wenn Connor wütend war, wurde seine Stimme leise. Seine Atmung verlangsamte sich. Als würde sein Körper in eine Art Urzustand schalten, Energie sammeln vor einem Schlag.
»Leute haben euch gesehen.« Ich erinnerte mich an das, was Greg Randolph über Sadie und Connor auf seinem Boot gesagt hatte. »Meinetwegen musst du nicht lügen.«
Er wandte sich langsam um. »Das würde ich nie wagen. Was sollte das bringen?«
Ich konnte die Anspannung in seinen Schultern sehen, die Art, wie er die Zähne zusammenbiss. Aber alles, woran ich denken konnte, war die Liste, die Detective Collins mir vorgelegt hatte. Die Namen. Die Zeiten. Und die Tatsache, dass ich die bei Connor nicht nennen konnte. »Wann bist du in der Nacht zur Party gekommen?«
Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Warum tust du das? «
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist keine schwere Frage. Ich nehme an, du hast sie der Polizei bereits beantwortet.«
Er starrte mich mit funkelnden Augen an. »Kurz nach acht«, sagte er monoton. »Du standst in der Küche mit dieser Frau – mit Luce.« Sein Blick wanderte zur Seite, zur Küche. »Du warst am Telefon. Ich bin an dir vorbeigegangen.«
Ich schloss die Augen, versuchte ihn dort in meiner Erinnerung zu spüren. Das Telefon am Ohr, das Geräusch des endlosen Klingelns. Ich hatte nur einen Anruf gemacht in der Nacht – den an Sadie, als sie nicht abnahm.
»Weißt du«, sagte er und seine Augen verengten sich, »von der Polizei hab ich diese Fragen erwartet. Auch von den Lomans. Aber das  …« Er brach ab. »Sie hat sich umgebracht, Avery.«
Vielleicht war die Stille zwischen uns im Grunde besser. Denn was wir zu sagen hatten, würde in eine Richtung abgleiten, die keiner von uns einschlagen wollte.
Er schüttelte den Kopf, als würde ihm gerade dasselbe klar werden. »Also, es war nett, mal wieder mit dir zu reden.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust, als er zurück nach draußen zu seinem Lieferwagen in der Auffahrt ging. Von der Haustür aus konnte ich sehen, wie die dünnen weißen Vorhänge im Haus auf der anderen Straßenseite – Sunset Retreat – wieder zurückfielen. Ich erkannte den Umriss eines Schattens dort. Eine einzelne Gestalt, unbeweglich, die mich beobachtete, als ich die Haustür abschloss, um das Haus herum zum Waldpfad ging und dann zwischen den Bäumen verschwand.
Die größte Gefahr in Littleport war anzunehmen, du seist unsichtbar. Dass niemand sonst dich sah.