Kapitel 8
Die Garagentür war offen, aber Parker hatte mir den Rücken zugewandt und wühlte im Kofferraum seines schwarzen Wagens.
»Hast du mal eine Minute?«, fragte ich, und er machte einen Satz.
Er schloss den Kofferraum und drehte sich um, die Hand auf dem Herzen, schüttelte den Kopf. »Nun bist du diejenige, die mir einen Herzinfarkt beschert.«
Die Garage hier war so exklusiv wie das Haupthaus: eine Schiebetür wie bei einem Stall und auch mit der gleichen Pultdach-Konstruktion. Drinnen war sie makellos organisiert – rote Gascontainer für den Generator in den Ecken, an den Wänden aufgehängtes Werkzeug, das wahrscheinlich nur von der Gärtnereifirma je angefasst wurde, Farbdosen in Regalen, zurückgelassen von den Malern, die vor zwei Jahren hier gestrichen hatten.
Doch auf allem hier lag eine Schicht Staub, und es roch schwach nach Abgasen und Chemikalien. Eine vergessene Nebenstelle des Lomanschen Besitzes.
Ich trat von einem Bein auf das andere. »Ist dir irgendwas Merkwürdiges aufgefallen, seit du zurück bist?«
Er runzelte die Stirn, um seinen Mund bildeten sich Falten, wo noch keine waren, als ich das letzte Mal darauf geachtet hatte. »Was meinst du mit merkwürdig
»Letzte Nacht ist der Strom im Gästehaus ausgefallen. Das ist schon ein paarmal vorgekommen. Und den Mülleimer hast du gesehen, oder?« Ich schüttelte den Kopf, versuchte ihm zu zeigen, dass ich auch nicht glaubte, es sei etwas Ernstes.
Die vertraute Falte erschien zwischen seinen Augen. »Wahrscheinlich der Wind. Ich konnte ihn sogar spüren, als ich letzte Nacht hier hochgefahren bin.«
»Nein, du hast recht. Ich hab mich nur gefragt … Im Haupthaus wirkt auch alles in Ordnung?«
»Ich glaube schon. Nicht dass wir viel zurückgelassen haben. Komm«, sagte er und winkte mich aus der Garage. »Ich will abschließen.« Trotz seiner Worte war mir, als hätte sich etwas Besorgniserregendes in seinen Kopf geschlichen. Seine Hand zitterte leicht, als er das Garagentor zuschob und das Schloss einrasten ließ. Der Parker, den ich mal gekannt hatte, war unerschütterlich, aber Verlust kann sich auf viele Arten festsetzen. Mit Zeichen von Alter, Krankheit, Schmerzen. Ein Zittern in den Fingern, ein übersteuertes Nervensystem. Eine Wunde, die langsam heilte.
In dem Sommer, nachdem meine Eltern gestorben waren, befiel mich jede Nacht eine stechende Schwere in den Beinen, auch wenn ich nach allen Aussagen zu alt für Wachstumsschmerzen war. Trotzdem rieb meine Großmutter mir Nacht für Nacht die Waden, die Fußsohlen, die Kniekehlen, während ich steif auf dem Bett lag, bis die Spannung nachließ. Wenn ich meine Augen schloss, konnte ich mir immer noch das Gefühl ihrer trockenen Fingerspitzen vorstellen, wie sie sich ganz auf diese eine Sache konzentrierte, die sie heilen konnte. Als es Monate später vorbeiging, war mir, als hätte ich nun meinen Platz in der Welt verdient, in diesem Körper.
Vielleicht würde Sadies Tod aus Parker auch mehr machen, als er vorher gewesen war. Ihm ein bisschen Tiefe verleihen, mehr Mitgefühl. Eine Facette, die ihm bisher fehlte.
Er ging in Richtung des Hauses, und ich lief neben ihm her. Auf den Verandastufen hielt er an, der Schlüssel baumelte von seinem Finger. »Ist das alles, Avery? Ich arbeite diese Woche von hier aus. Muss gleich ein paar Anrufe erledigen.«
»Nein, das ist nicht alles.« Ich räusperte mich, wünschte, es wäre wieder letzte Nacht und wir säßen drinnen auf dem Sofa, als er vom Alkohol locker war, verletzlicher und offener. »Ich hab mir noch mal Gedanken wegen der Untersuchung gemacht. Wegen der Nachricht.«
Parker kippelte auf seinen Absätzen, das Holz unter uns knackte.
»Ich hab mich gefragt, für wen sie wohl war?« Ich konnte nichts dagegen tun, dass ich es wissen wollte. Sadie hatte ihre Nachricht an mich nicht beendet. Wem hatte sie stattdessen ihre letzten Worte hinterlassen?
Die Falten in Parkers Gesicht vertieften sich wieder. »Ich weiß es nicht. Ich meine, sie war an niemanden Spezielles adressiert. Wir haben sie im Müll gefunden.«
»Du glaubst nicht, dass sie sie dir hinterlassen wollte?«
Er rieb sich mit einer Hand über das Gesicht, steckte dann die Schlüssel wieder in die Tasche und setzte sich auf die Verandastufen. »Ich weiß es nicht. Meistens wusste ich bei der Hälfte der Dinge nicht, warum Sadie sie getan hat.«
In den Jahren, die ich sie gekannt habe, schienen Sadie und Parker sich nie nahegestanden zu haben. Obwohl sie in denselben Kreisen verkehrten, sowohl beruflich als auch privat, schien jenseits der Oberfläche keiner von beiden besonders interessiert am Leben des anderen.
Ich runzelte die Stirn, setze mich neben ihn und wählte meine Worte sorgfältig, leise, um das fragile Gleichgewicht des Moments nicht zu stören. »Was stand darin?«
»Was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Ich weiß es nicht, sie wollte Frieden schließen oder so. Ich glaube, sie war für Dad und Bee. «
»Womit Frieden schließen?« Ich verlor ihn bereits. Er hatte seine Hände auf die Verandastufen gestützt, stemmte sich hoch, wollte aufstehen, aber ich hielt ihn am Handgelenk fest, was uns beide überraschte. »Bitte, Parker. Was genau hat sie geschrieben? Es ist wichtig.«
Er starrte meine Hand um sein Handgelenk an, und ich löste langsam meine Finger. »Nein, Avery, es ist nicht wichtig. Es ist vorbei. Ich erinnere mich nicht.«
Und da wusste ich, dass er log. Wie konnte er sich daran nicht erinnern? An ihre letzten Worte, die Worte, die ich versucht hatte, zum Leben zu erwecken, als ich die Punkte auf meinem Handy sah. Aber vielleicht war es ihm wirklich egal. Vielleicht sah er sie nicht, wie ich sie sah. Merkte sich nicht ihre Worte, jedes Mal, wenn sie etwas sagte, behielt sie alle, ordnete sie weg, um sie später wieder hervorzuholen.
»Hast du sie noch?«
Er zuckte mit den Schultern und seufzte dann. »Ich nehme an, die Polizei hat sie noch.« Wir saßen so dicht nebeneinander, dass ich sehen konnte, wie die Muskeln seines Kinns sich anspannten.
»Aber wenn sie wirklich so vage war, Frieden schließen oder so , dann kann das doch nicht ausreichen, oder? Die Polizei kann sich nicht sicher sein, dass sie gesprungen ist. Nicht hundertprozentig.«
Er sah mich von der Seite an. »Sie war besessen vom Tod, Avery. Komm schon, das wusstest du doch auch.«
Ich blinzelte langsam, erinnerte mich. Es stimmte, dass sie schnell Dinge vorbrachte, die uns vielleicht schaden könnten, aber ich hatte das nie ernst genommen. So haben wir uns kennengelernt – mit einer Warnung vor Tetanus, Blutvergiftung. Und so ging es weiter, immer mal wieder in die Oberfläche piksen. Eine Warnung, ein Witz, der schwarze, schwarze Humor. Ein kunstvolles Spiel. Aber manchmal war ich nicht sicher. Ob es ein Spiel war oder nicht. Ob ich mitspielte oder eine zufällige Beobachterin war.
Meine Gedanken wanderten zu einem Schläfchen auf den Loungestühlen auf ihrer Poolterrasse, die Nachmittagssonne wärmte meine Haut. Wie ich ihre Hand auf meinem Hals gefühlt hatte, ihre Finger direkt unter meinem Kiefer. Bei ihrer Berührung hatte ich die Augen aufgerissen.
Ich dachte, du wärst vielleicht tot , hatte sie gesagt, ohne sich wegzubewegen.
Ich hab geschlafen.
Es kann passieren, weißt du – das Gehirn vergisst, deine Lunge zu benachrichtigen, dass sie atmen soll. Normalerweise wacht man dann auf und schnappt nach Luft. Aber manchmal auch nicht.
Ich setzte mich auf, und erst da rutschte ihre Hand weg. Instinktiv legte ich meine eigene an die Stelle, bis ich das Flattern meines Pulses spüren konnte. Du bist ja ganz am Boden zerstört deswegen , witzelte ich.
Na ja, ich bin ein bisschen verärgert, weil ich nicht die Möglichkeit hatte, meine gerade erworbenen Wiederbelebungskenntnisse einzusetzen, dein Leben zu retten und dich für immer in meiner Schuld zu wissen.
Ich lächelte, mein Gesicht spielgelte ihres.
In den Dingen, die uns wirklich hätten schaden können, sah sie nie eine Todesgefahr: besinnungslose Besäufnisse viel zu nah am Wasser, die Autos, in die wir stiegen, die Leute, die wir kaum kannten. Die Art, wie wir uns gegenseitig immer weitertrieben bis irgendetwas nachgab – letztendlich war das die Jahreszeit; schon war Sadie weg, und die Winterkälte verlangsamte alles: meinen Herzschlag, meine Atmung, die Zeit. Bis es unerträglich im anderen Extrem war, und ich jeden Tag nur noch auf den Funken des Frühlings wartete, auf das Versprechen eines weiteren Sommers am Horizont .
Parker nannte es Besessenheit, aber das war es nicht.
Besessenheit sah ich in den Stapeln von Bildern im Atelier meiner Mutter; in den Booten, die vor der Dämmerung ausliefen, jeden Tag wieder. Besessenheit war die Schwerkraft, die dich in der Umlaufbahn hielt, eine Kraft, in deren Richtung du dich kontinuierlich schraubtest, selbst wenn du wegsahst.
»Nur weil du darüber sprichst, heißt es nicht, dass du es auch tun willst«, antwortete ich schließlich. Die andere Möglichkeit war zu schmerzhaft: Dass sie um Hilfe gerufen hatte und wir nur dagestanden und zugesehen hatten.
Parker holte tief Luft. »Manchmal hat sie ihre Venen angestarrt …« Er zuckte zusammen, und ich spürte mein eigenes Blut dort pulsieren. »Du weißt nicht, was da unter der Oberfläche abging.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn man alles zusammennimmt, ist es das, was am meisten Sinn ergibt.«
»Aber wie können sie überhaupt sicher sein, dass die Nachricht von ihr ist?«
»Sie haben die Handschrift verglichen.« Er stemmte sich von der Verandastufe hoch, zog seinen Haustürschlüssel heraus.
Ich hatte unrecht mit der Annahme, dass ihr Telefon etwas Gefährliches bedeutete. Das Handy war zwar nicht da, wo es hätte sein sollen, aber es gab auch andere Wege, wie es in den letzten elf Monaten ins Haus gekommen sein konnte. Vielleicht war es Sadie auf dem Weg zum Rand der Steilküste heruntergefallen, oder sie hatte es zurückgelassen, neben ihren goldenen Schuhen. Vielleicht hatte sie jemand in jener Nacht gesucht, als ich es nicht getan hatte. Jemand, der das Telefon gefunden und es einer Eingebung folgend eingesteckt hatte. Weil etwas darauf gespeichert war, das es wert war, es zu beschützen, zu verstecken.
Jetzt, da ich von Connors Foto und seinem Namen in ihrem Handy wusste, fragte ich mich, ob er es gewesen war. Ob er irgendwie an ihr Telefon gekommen und in Panik geraten war bei dem Wissen, was vielleicht darin verborgen lag. Und es dann im Chaos jener Nacht verloren oder vergessen hatte, als die Polizei kam. Ob das der Grund war, warum er heute nach mir im Blue Robin aufgetaucht war. Ob er von den Einbrüchen gehört und sich Sorgen gemacht hatte.
Es gab schließlich Wege, jemanden gefangen zu halten, ohne ihn ins Gefängnis zu stecken. Ein Zivilprozess wegen widerrechtlicher Tötung. Ich hatte in den Nachrichten schon mal davon gehört – von den Menschen, die jemanden dazu brachten, Selbstmord zu begehen, sie davon überzeugten, es zu tun oder sie so unter Druck setzten, dass sie keine andere Möglichkeit mehr sahen, in Anbetracht all dessen, was sie für die hinterbliebene Familie wert waren.
Gerechtigkeit hatte viele Gesichter. Etwas Befriedigenderes als eine unbewegliche Kupferglocke mit einem melancholischen Spruch darauf – in jeder Hinsicht so weit entfernt wie nur möglich von der Person, die Sadie gewesen war.
Ich stellte sie mir vor, wie sie hastig eine Nachricht schrieb. Sie zerknüllte. Aus dem Fenster starrte. Ihr Kiefer sich verhärtete.
Sadie schrieb nicht viel per Hand. Sie machte Notizen in ihrem Handy, schickte Nachrichten und E-Mails. Hatte immer ihren Laptop auf dem Schreibtisch geöffnet.
»Parker«, sagte ich, als der Schlüssel ins Schloss glitt. »Womit haben sie sie verglichen?«
Seine Hand verharrte. »Mit ihrem Tagebuch.«
Aber ich schüttelte wieder den Kopf. Nichts ergab Sinn. »Sadie hat kein Tagebuch geführt.«
Die Tür öffnete sich knarrend, und er trat ins Haus, drehte sich um. »Offensichtlich hat sie das doch. Offensichtlich gibt es einiges, was du nicht weißt. Ist es so verwunderlich, dass sie dir ihr Tagebuch nicht gezeigt hat? Sie hat dir nicht alles erzählt, Avery. Und wenn du glaubst, das hat sie, dann hast du eine ganz schön hohe Meinung von dir selbst.«
Er schloss die Tür, machte eine Show daraus, von innen abzuschließen, sodass ich das dumpfe Echo in dem hölzernen Rahmen hören konnte.
Und ihm hätte ich fast Sadies Handy gezeigt.
Parker hatte mich nie hier haben wollen. Das sagte er nicht nur, sondern zeigte es auch mit seinem Verhalten, nachdem die Entscheidung bereits gefallen war. Grant wollte das Grundstück meiner Großmutter, bei dem sowieso die Gefahr bestand, dass ich es verlieren würde. Ein Teil der Hypothek war mit der Auszahlung der kleinen Lebensversicherung meiner Eltern beglichen worden – nicht genug, um davon zu leben, aber genug, um mir die Sicherheit eines Ortes zu geben, den ich mein Eigen nennen konnte. Die verbleibenden monatlichen Raten waren also nicht das Problem. Die ganzen zusätzlichen Kosten jedoch schon – die Versicherung, die Steuern, die Ausstattung. Es waren die letzten Arztrechnungen meiner Großmutter, und plötzlich trug ich sämtliche Verantwortung. Aber trotzdem, es war mein Zuhause. Und ich wusste nicht, wo ich sonst hinsollte. Die Touristen hatten die Preise verdorben und uns aus unseren eigenen Häusern vertrieben, das Beste, worauf ich also hoffen konnte, wäre eine Wohnung, allein, Meilen von der Küste entfernt.
Es hatte noch weitere Interessenten gegeben – die anderen Bewohner von Stone Hollow wollten nicht, dass das Land für Ferienhäuser genutzt wurde –, aber Lomans Angebot bedeutete mehr, als nur das Haus zu kaufen. Es bedeutete, ihre Welt zu betreten, auf ihrem Grund zu wohnen, Teil ihrer Kreise zu sein. Also verkaufte ich mein Haus, und damit meine Seele, an die Lomans .
Als Grant anbot, dass ich ihr Gästehaus nutzen konnte, hatte ich gesagt, dass ich das schriftlich bräuchte – die Erfahrung hatte mich gelehrt, skeptisch damit zu sein, jemanden beim Wort zu nehmen, egal, wie gut die Absichten waren –, und er warf den Kopf zurück und lachte, genau wie Sadie es tun würde. Du kommst schon wieder in Ordnung, Kleine , sagte er zu mir. Das war nur ein winziges Kompliment, aber ich erinnerte mich an die Wärme, die mich damals durchfuhr. Dieser Glaube, dass ich das wirklich würde, dass auch er es in mir sehen konnte.
Aber später hörte ich, wie sie darüber stritten, nachdem Grant die Papiere erstellt hatte. Parker sprach zu leise, als dass ich ihn richtig verstehen konnte, aber ich hörte, wie Sadie ihn egoistisch nannte und Grants ruhige Stimme, die erklärte, was geschehen würde, und keinen Raum für Fragen ließ. Es ist fair, und es ist richtig. Das Haus wird nie benutzt. Werde erwachsen, Parker.
Danach stritt Parker nicht mehr weiter, aber er war der Einzige, der mir nicht beim Umzug half.
Bianca kümmerte sich um das Praktische – sie sorgte dafür, dass ich ein Postfach bekam und gab ihre Adresse als Wohnort an, sodass ich offiziell in Verbindung zu ihnen existierte: Avery Greer, c/o 1, Landing Lane.
Grant selbst half im Haus meiner Großmutter, mietete ein paar Männer, die die Kartons transportieren sollten, während er das Grundstück, die Bausubstanz des Hauses, die Zimmer begutachtete. Alles abschätzte, ihm einen Wert zuschrieb, entschied, ob es mehr brachte, wenn es stehen blieb oder abgerissen wurde.
Sadie kam auch und sagte, niemand sollte mit Grant Loman allein zurechtkommen müssen, aber ich schätzte seine Effizienz in all seiner unsentimentalen Brutalität.
Ich spürte, wie ich unter seiner Hand zu funktionieren begann, aussortierte und beseitigte, bis nur noch die Dinge um mich blieben, die es zu behalten lohnte. Mit der gleichen knallharten Effizienz, die Grant auch bei Menschen anwandte.
Am Ende hatte ich nur einen Stapel Kartons, alle mit Sadies rotem Edding markiert. Das steile V für Verkaufen , das bauchige B für Behalten . Mein Leben, neu strukturiert durch ihre fähigen Hände.
Es gab vier Kartons mit meinen eigenen Sachen, die mir wichtig waren. Und einen weiteren, der voll war mit den Sachen meiner Eltern und meiner Großeltern. Hochzeitsalben und Erinnerungen. Familienfotos und ein Kochbuch aus der Küche meiner Großmutter, ein Schuhkarton mit Briefen von und an meinen Großvater, als er in Übersee war. Der Ordner mit den Papieren, die alles, was einst ihnen gehörte, in meinen Besitz übergehen ließen. Als würde ich nicht nur mit mir umziehen, sondern auch mit meiner ganzen Geschichte. Mit allen Menschen, die mich an diesen Punkt gebracht hatten.
Nun sah ich Sadie vor mir, mit dem Edding in der Hand, die Kappe zwischen ihren Zähnen.
Wie sie sich in meinem leeren, leeren Haus umsah. Die einsame Existenz, die ich hinter mir ließ für etwas Neues. Grant stand draußen vor dem Fenster, abgewandt, eine Hand in die Hüfte gestützt, in der anderen ein Handy. Drinnen war nur Stille. Sadie sah für einen Moment erstarrt aus, die Lippen zusammengepresst, als würden die Emotionen sie jeden Moment überwältigen. Es war, als sähe sie mich zum ersten Mal als eine andere. Das wird toll werden, Avery.
Und damals – in dem fast verlorenen Haus, nun nackt und kahl, mit dem Gefühl, dass ich mich endlich aus etwas herausgearbeitet hatte – glaubte ich ihr .
Zu der Zeit war mir das so großzügig von ihnen vorgekommen. Aber das letzte Jahr hatte ich allein hier verbracht, nur mit Geistern als Gesellschaft. Sadie, wie sie in meinem Türrahmen stand, als ich sie das letzte Mal sah. Meine Mutter, die mir ins Ohr flüsterte, fragte, was ich sehe.
Und so blickte ich immer wieder zurück, um die Stelle zu finden, wo alles aus der Spur geriet. Ich fange jedes Mal beim Anfang an:
Ich sehe Grant und Bianca, die zuschauten, wie Sadie mich mit nach Hause brachte. Ich stelle mir vor, wie sie im Ort herumfragen, meinen Namen erwähnen, die Geschichten hören, alles in Erfahrung bringen, was es zu wissen gibt. Sie werden Zeugen, wie das Band, das Sadie und mich verbindet, stramm und stark wird. Ich frage mich, ob sie Angst hatten, dass ihre Tochter in meine Welt heruntergezogen werden könnte, so wie ich das Gefühl hatte, in ihre hinaufgezogen zu werden. Sie müssen verstanden haben, dass der einzige Weg, ihre Tochter unter Kontrolle und in der Spur zu halten, der war, mich an ihre Seite zu bringen.
Das war es, was alle verkannten, wenn sie sich fragten, was ich im Haus der Lomans machte. Ihre Gerüchte stimmten nicht, aber meine Verteidigung auch nicht. Es war keine Großzügigkeit gewesen, sondern ein Akt der Kontrolle, das wurde mir langsam bewusst. Ein wahrer Geschmack davon, was es hieß, Sadie Loman zu sein. Eine schöne Marionette. Vielleicht hatte sie das bis an den Abgrund getrieben.
Dein Haus kaufen und dich hierbehalten. Deine Ausbildung finanzieren, dir liebevoll die Richtung weisen. Dich anstellen, dich überwachen, deinen Weg formen.
Mein Zuhause ist dein Zuhause. Dein Leben ist mein Leben.
Schlösser oder Geheimnisse wird es hier nicht geben.