Kapitel 9
Bevor ich ging, machte ich nur eine Änderung an Sadies Handy. Nur eine Sache, die ich löschte, was sicher niemand bemerken würde.
In den Einstellungen entfernte ich die zusätzliche Touch-ID, bevor ich es herunterfuhr.
Die Fahrt zur Polizei war fast so wie die zum Hafen. Der Kampf gegen die Masse von Autos und Fußgängern im Ortszentrum. Das Gaffen beim Anblick des Meeres und des Parks. Ich musste geradewegs durch alles durch, um zu dem Gebäude auf der Anhöhe an der Hafenseite zu kommen.
Ich fuhr auf den Parkplatz, der den Hafen darunter überblickte, überall Glasfenster und glatter weißer Stein.
An der gebogenen Rezeption in der Lobby, die eher zu einem Hotel als zu einer Polizeiwache gepasst hätte, fragte ich nach Detective Collins. Die Frau hinter dem Tresen hielt sich das Telefon ans Ohr, nannte meinen Namen und bat mich zu warten, wies auf eine Reihe von Stühlen am Fenster. Diese Offenheit war irreführend, die summenden hellen Lichter an so einem Ort – es ließ einen glauben, man müsste nichts verbergen.
Ich hatte mich gerade auf die steifen Kissen gesetzt, als mir klar wurde, dass sie gewusst hatte, wer ich war, ohne zu fragen. Nicht dass es mich wunderte. Mein Name war hier bekannt, seit ich vierzehn war, auf die eine oder andere Art.
Es hat einen Unfall gegeben.
Was für ein einfacher, harmloser Satz dafür, dass alles, was ich je gekannt hatte, auf den Kopf gestellt sein würde.
Eine dunkle Straße, eine Bergkurve, und mein ganzes Leben hatte sich in einem Augenblick verändert, während ich schlief. Ich war ins Krankenhaus gebracht und in einen kleinen Warteraum gesetzt worden. Man gab mir Essen, das ich nicht anrühren konnte, Brause, die in meinem Hals sprudelte, bis ich würgen musste. Dann saß ich da, konnte es nur halb glauben, versuchte verzweifelt, mich an die letzte Begegnung mit meinen Eltern zu erinnern.
Mein Dad, der über den Flur rief: Da ist noch Pizza im Kühlschrank , meine Mom, die kurz den Kopf in mein Zimmer steckte, mit einem Schuh an, den anderen in der Hand: Bleib nicht so lange auf. Ich hatte meinen Daumen hochgestreckt, ohne das Telefon vom Ohr zu nehmen. Faith war dran, und meine Mom, die das bemerkte, formte mit dem Mund ein lautloses Tschüss . Das war das Letzte von den beiden, woran ich mich erinnerte. Sie wollten zu einer Ausstellung ein paar Orte weiter und nahmen auch meine Großmutter mit.
Ich schlief vor dem Fernseher ein. Bemerkte nicht einmal, dass etwas nicht stimmte.
Eine Polizistin legte mir die Hand auf die Schulter, während ich im Krankenhaus saß und die sprudelnde Brause anstarrte – Gibt es noch jemanden, den wir anrufen können?
Sie versuchten es zuerst bei den Harlows, aber schließlich war es Mrs. Sylva, die kam, um mich abzuholen. Ich blieb in einem leeren Zimmer in ihrer Frühstückspension, bis meine Großmutter am nächsten Tag entlassen wurde. Sie hatte nicht einen Kratzer abbekommen, aber sie trug eine Halskrause wegen des Stoßes gegen den Baum, der vordere Teil des Autos war zusammengepresst wie ein Akkordeon. Zuerst dachten sie, sie sei tot. Das hatte der erste Beamte vor Ort gesagt. In dem Artikel stand, wie er in die Situation gestolpert war, neu in dem Job, erschüttert von dem ganzen Schrecklichen – sein eigener Fall auf den harten Boden der Wirklichkeit, so schien es.
Ich hatte den Bericht nur einmal gelesen. Einmal war mehr als genug.
Der Polizist sagte, mein Vater hätte nicht mal auf die Bremse getreten, als er schon von der Straße abgekommen war, wahrscheinlich war er eingeschlafen, genau wie meine Großmutter auf dem Rücksitz. Ich dachte oft daran, wie wir alle schliefen, als es passierte. Wie man durch die Dunkelheit rasen kann, ohne einen einzigen bewussten Gedanken, ohne, dass einen jemand gehen sieht.
Vier Jahre später war ich nach dem Kampf mit Faith auf die Wache gebracht worden. Zu dem Zeitpunkt war die einzig verbleibende Person, die man noch anrufen konnte, die Nachbarin meiner Großmutter, Evelyn.
»Avery?« Detective Collins wartete am Eingang zum Flur hinter mir. Er nickte mir zu, als ich aufstand. »Schön, Sie wiederzusehen. Kommen Sie mit nach hinten.« Er führte mich in ein kleines Büro auf halber Höhe des Flurs, setzte sich hinter seinen Schreibtisch und bedeutete mir, auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz zu nehmen. Sein Büro war karg, auf dem Schreibtisch lag nichts, hinter mir waren Fenster zum Flur. »Geht es um die Gedenkfeier?«, fragte er und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, bis die Federn aus Protest knarrten.
Ich schluckte. »Ja und nein.« Ich ballte meine Hände zusammen, damit sie nicht zitterten. »Ich wollte Sie nach Sadies Nachricht fragen.«
Er hörte auf, mit dem Stuhl zu wippen.
»Die Nachricht, die sie hinterlassen hat«, verdeutlichte ich .
»Ich erinnere mich«, sagte er. Dann sagte er nichts mehr, wartete, dass ich fortfuhr.
»Wie lautete sie?«, fragte ich.
Nach einer Pause setzte er sich aufrecht hin und zog sich dichter an seinen Schreibtisch heran. »Es tut mir leid, aber das ist eine Familienangelegenheit, Avery. Sie fragen besser einen von ihnen.« Als wüsste er, dass ich es bereits versucht und nicht geschafft hatte.
Ich sah die Wände an, seinen Schreibtisch, überallhin, nur nicht ihm ins Gesicht. »Ich hab noch einmal über diese Nacht nachgedacht. Ist man sich sicher, dass die Nachricht von ihr stammt? Ich meine, wirklich absolut sicher?«
Im Zimmer war es so still, dass ich ihn atmen, das schwache Ticken seiner Uhr hören konnte. Schließlich holte er Luft. »Sie ist von ihr, Avery. Wir haben sie abgeglichen.«
Ich wedelte mit meiner Hand zwischen uns herum. »Mit einem Tagebuch, wie ich gehört habe. Aber, Detective, sie hatte keins.«
Seine Augen fixierten mich – grün, auch wenn ich es nie zuvor bemerkt hatte. Sein Ausdruck war nicht unfreundlich, es lag etwas darin, das Sympathie nahekam. »Vielleicht kannten Sie sie nicht so gut, wie Sie dachten.«
»Oder«, sagte ich, meine Stimme lauter, als ich annahm, »vielleicht war die Nachricht doch nicht von ihr. Luciana Suarez lebte auch in dem Haus. Oder sie könnte von der Reinigungsfirma sein. Jemand anderes könnte sie hinterlassen haben.« Es konnte sein, dass sie ihre Handschrift übereilt abgeglichen hatten, weil sie wollten, dass alle Teile zusammenpassten. Sie hatten nur gesehen, was sie sehen wollten, nicht, was da war.
Mich selbst hatten die Neuigkeiten letztes Jahr auch zu unvorbereitet erwischt, um Fragen zu stellen. Ich fühlte mich überrumpelt, weil ich die Dinge so vollkommen falsch verstanden hatte. Schon wieder hatte ich etwas Wichtiges nicht kommen sehen.
Er verschränkte langsam die Hände auf dem Schreibtisch, Finger für Finger. Seine Nägel waren zu kurz geschnitten. »Hören Sie zu. Es ist nicht nur die Schrift, die passt.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist mehr wie ein Logbuch – über das, was in ihrem Geist vorging. Und es ist sehr, sehr düster.«
»Nein«, sagte ich. »Sie meinte es nicht ernst.« Das Gleiche, was ich zu Parker gesagt hatte. Aber war das denn nicht die Wahrheit? Die Art, wie sie mir an dem Tag, als wir uns kennenlernten, die Gefahren auflistete, als könne sie sie sehen, direkt unter der Oberfläche, immer bereit, uns zu vernichten. Die Beiläufigkeit des Todes; etwas, mit dem sie flirtete. Tu dir nicht weh , hatte sie gesagt, als ich in der Dunkelheit zu nah am Abgrund stand. Als wenn sie es sich, sogar da schon, vorgestellt hatte.
Er schüttelte traurig den Kopf. »Avery, Sie sind nicht die Einzige, die sie vermisst, okay? Niemand hat es kommen sehen. Manchmal erkennt man die Zeichen erst im Nachhinein.«
Mein Hals fühlte sich wieder eng an. Er griff über den Tisch, seine dicke Hand schwebte über meiner, bevor er sie wieder zurückzog. »Es ist ein Jahr her. Ich verstehe das. Wie die Dinge einen einholen. Aber wir sind das alles schon durchgegangen. Der Fall ist abgeschlossen, wir haben Parker ihre alten persönlichen Dinge heute übergeben.« Das muss es gewesen sein, was Parker sich im Auto angesehen hatte, als ich ihn in der Garage überrascht hatte – die Sachen, die man ihm auf der Polizeiwache ausgehändigt hatte. »Alles passt zusammen. Kommen Sie zur Gedenkfeier und machen Sie mit Ihrem Leben weiter.«
»Es passt nicht alles«, sagte ich. »Sie hätte zur Party kommen sollen. Es ist etwas geschehen.« Ich griff in meine Handtasche, legte ihr Telefon vor ihm hin .
Er fasste es nicht an, starrte nur darauf. Das hatte er nicht kommen sehen. »Was ist das?«
»Sadies Handy. Ich habe es heute im Ferienhaus gefunden. Im Blue Robin, wo wir alle in der Nacht waren, als sie starb.«
Er wandte die Augen nicht von dem Telefon ab. »Sie haben es gerade gefunden?«
»Ja.«
»Ein Jahr später.« Ungläubig, die Augen verengt, als würde ich mir einen Spaß mit ihm erlauben. Wie schnell sein Verhalten sich gewandelt hatte. Oder vielleicht war ich es, die sich vor ihm veränderte.
»Es lag am Boden einer Truhe im großen Schlafzimmer. Ich hab es gefunden, als ich die Decken herausgenommen habe, um sie zu lüften. Ich weiß nicht, wie lange es da schon liegt, aber sie hat es jedenfalls nicht verloren, als sie starb.« Ich schluckte, wünschte mir, dass er die Schlussfolgerung ziehen würde: Wenn sie damit falschgelegen hatten, konnten sie mit allem falschliegen.
Er schüttelte den Kopf, rührte das Handy noch immer nicht an.
Einmal, vor ein paar Sommern, hatte Sadie versucht, sich festnehmen zu lassen. Zumindest war es mir damals so vorgekommen. Ich hatte sie abends mit zum Anleger genommen, um ihr etwas zu zeigen. Eine Welt, zu der sie selbst nie Zugang hatte, eine Art, ihr meinen eigenen Wert zu beweisen. Ich wusste aus der Zeit, als Connor das manchmal getan hatte, wie man ins Hafenbüro hereinkam – den Griff anheben, der Tür gleichzeitig einen gut geplanten Schubs geben – und dann den Schlüssel seines Vaters aus dem hinteren Büro drinnen holen, das Boot losmachen und ein Stück abstoßen, bevor man den Motor anmachte.
Aber jemand muss gesehen haben, wie wir hineingeschlichen sind. Ich hatte es gerade bis in den vorderen Raum geschafft, als eine Taschenlampe ins Fenster leuchtete und ich in die andere Richtung rannte, zu der selten benutzten Hintertür. Sadie war erstarrt, glotzte in das Licht im Fenster. Ich zog sie am Arm, aber inzwischen war der Beamte schon drin – ich kannte ihn, wenn auch nicht vom Namen her. Doch das spielte keine Rolle, denn er kannte meinen.
Er führte uns hinaus, zurück zu seinem Auto. Mir stellte er die schon erwartete Frage, wen er anrufen sollte, nicht; er musste die Antwort inzwischen wohl kennen.
»Wie heißt du?«, fragte er Sadie, aber sie reagierte nicht. Ihre Augen weiteten sich, und sie presste die Lippen zusammen, schüttelte den Kopf. Der Mann bat um ihre Handtasche, die sie über die Schulter gehängt hatte. Er zog ihr Portemonnaie heraus, leuchtete mit der Taschenlampe auf ihren Führerschein. »Sadie …«, und dann brach er ab. Räusperte sich. Schob den Führerschein zurück, gab ihr ihre Tasche. »Hört zu, Mädchen. Ich erteile euch eine Verwarnung. Das war Betreten fremden Eigentums, und das nächste Mal, wenn wir euch erwischen, bekommt ihr eine Anzeige, ist das klar?«
»Ja, Sir«, sagte ich. Erleichterung wärmte mein Blut wie der erste Schluck Alkohol.
Er ging zurück zu seinem Auto, und Sadie stand da, mitten auf dem Parkplatz und sah ihm nach. »Was muss ein Mädchen hier tun, um verhaftet zu werden?«, fragte sie.
»Ändere deinen Namen«, sagte ich.
Ihr Name hatte Gewicht. Aber sie warf damit nicht um sich. Das musste sie nicht.
Mir wurde bewusst, dass mir, solange ich mit ihr zusammen war, wohl der gleiche Schutz gewährt wurde .
Noch immer hatte ihr Name dieses Gewicht, ihr Handy auf dem Schreibtisch des Detectives, das er immer noch nicht anfassen wollte. Tot oder nicht, es gab Dinge, mit denen man in dieser Gegend vorsichtig sein musste. Er nahm sein Bürotelefon in die Hand, zögerte aber vorerst noch.
»Es tut mir leid. Ich wünschte, es müsste nicht so sein«, sagte Detective Collins schließlich, bevor er mich aus dem Zimmer winkte.
»Was? Wie?«
Er schüttelte den Kopf. »Ihre Nachricht. So lautete sie.«