Kapitel 10
Es tut mir leid. Ich wünschte, es müsste nicht so sein.
Mitten auf dem Harbor Drive stieg ich gerade noch auf die Bremse, als eine Frau, ohne zu gucken, auf den Zebrastreifen trat. Sie stand vor meinem Auto, starrte mich durch die Windschutzscheibe an. Meine Hände am Steuer zitterten. Es waren nur Zentimeter, die uns trennten.
Im Rückspiegel konnte ich immer noch, auf die Spitze des Hügels gekauert, die Polizeiwache sehen. Die Frau vor mir hob ihre Hand wie eine Barriere zwischen sich und meinem Auto und formte mit dem Mund das Wort Vorsicht
, bevor sie weiterging. Als hätte ich nicht bemerkt, wie nah ich gekommen war. Als wäre ihr nicht klar, wie nah sie
gekommen war.
Dann sah ich Sadie am Abgrund der Klippe stehen. Das blaue Kleid hinter ihr im Wind wehend, ein Träger, der ihr über die Schulter rutscht, die Wimperntusche unter den Augen verschmiert, mit zitternden Händen. Sah, wie sie sich umdrehte und diesmal mich ansah, die Augen weit aufgerissen …
Stopp.
Ich musste mit jemandem reden.
Nicht den Detective, der gerade so ungläubig ihr Handy angestarrt hatte. Nicht Parker, der mir verschwiegen hatte, dass er gerade Sadies persönliche Sachen von der Polizei abgeholt
hatte. Nicht Connor, der uns alle belogen hatte durch sein Schweigen …
Mein Telefon klingelte genau in dem Moment, als ich gedanklich die Kontakte durchging. Wieder eine Nummer, die nicht gespeichert war. Ich fragte mich, ob es schon Detective Collins war, der mir sagen wollte, ich solle zurückkommen. Dass sie noch etwas anderes auf ihrem Handy entdeckt hatten oder meine Hilfe brauchten, weil sie bei irgendetwas nicht wussten, was es zu bedeuten hatte. Ich stellte den Anruf auf Lautsprecher.
»Ist da Avery?« Es war ein Mädchen. Eine Frau. Etwas dazwischen.
»Ja, wer spricht da?«
»Erica Hopkins. Vom Mittagessen.«
»Richtig, hallo.«
Sie räusperte sich. »Justine hat mich gebeten nachzufragen. Wir brauchen den Artikel für Sadie morgen – spätestens nachmittags.«
Gestern fühlte sich ewig weit entfernt an. »Ich kann dir den Text heute Abend mailen, aber das Foto wird wahrscheinlich ein Papierbild sein. Ich habe keinen Zugang zu einem Scanner.« Ich würde Grant und Bianca nicht kontaktieren, um nach einem hochaufgelösten Foto ihrer verstorbenen Tochter zu fragen, auch wenn es eins von ihren sein musste, eins, das einmal die Wände der Breakers geziert hatte. In Wahrheit fiel mir nichts Passenderes ein.
»Wir haben morgen um elf Uhr ein Treffen mit Parker Loman an der Gedenkstätte. Am Eingang von Breaker Beach. Willst du uns dann das Foto bringen?«
Irgendwo in dem Haus waren Sadie Lomans persönliche Sachen, gerade von der Polizei an Parker zurückgegeben. Parker hatte gesagt, er würde heute von zu Hause aus arbeiten, und ich konnte die Lichter im oberen Büro von der Auffahrt aus sehen
.
Morgen um elf herum würde er weg sein. Das Haus würde leer sein.
»Komm doch hinterher vorbei«, sagte ich, während ich das Auto auf der anderen Seite der Garage parkte. »Wir können uns hier am Gästehaus treffen. Schick mir eine Nachricht, wenn du auf dem Weg bist.«
In ihrem Haus war das Tagebuch, das man Parker zurückgegeben hatte und mit dessen Hilfe sie die vermeintlich letzten Worte von Sadie Loman bestimmt hatten. Das Tagebuch, auf dem sie den Fall gründeten.
Ich musste es sehen.
Etwas hatte seinen Weg hineingefunden, dunkel und verschlungen. Als hätte ich gerade etwas in Bewegung gesetzt und nun keine Macht mehr, es zu stoppen.
Zurück im Schlafzimmer des Gästehauses machte ich die Schranktür auf und nahm den einzigen Karton heraus, der nie geöffnet worden war – beschriftet mit B
für Behalten
in Sadies Schrift. Den Rest hatte ich nach und nach ausgepackt, meine wenigen eigenen, mir wichtigen Dinge. Aber das war der Karton, in dem die Sachen meiner Eltern, die Sachen meiner Großmutter waren.
Auch wenn das Haus selbst nicht mir gehörte, wusste ich, dass niemand es wagen würde, diesen Karton anzurühren. Nicht einmal Sadie, die unzählige Male in meinen Schrank gegriffen hatte.
Ich holte das Hochzeitsalbum meiner Eltern hervor, die Briefe meiner Großmutter, legte sie vorsichtig zur Seite. Bis ich den kleinen Schuhkarton darunter ausgegraben hatte.
Darin befanden sich die Fotos von Sadie, die einst im Haus der Lomans verstreut standen. Jedes Jahr mit einer neuen
Serie ersetzt. Aber Bianca hatte sie hinzugefügt, ohne die vorigen Fotos zu entfernen, hat in den Rahmen ein Bild auf das andere gelegt, sodass sie zusammenblieben. Wie Farbschichten, die langsam immer dicker wurden, bis ich die älteren Fotos herausgenommen und selbst aufbewahrt hatte.
Die Oberflächen waren leicht beschädigt, klebten an den neueren Versionen, die Ecken geknickt und ausgebleicht durch die Rahmen. Auf Kinderporträts folgten Schulabschlussfotos. Auf Schulabschlussfotos Urlaubsschnappschüsse – Sadie vor dem Eiffelturm, Sadie in roter Skiausrüstung mit Bergen hinter sich, Sadie neben Parker sitzend, irgendwo in den Tropen, hinter ihnen der Ozean.
Nun sortierte ich diese vergessenen Bilder und versuchte, das Passende für den Text zu finden. Mein Gott, sie würde das hassen. Auf jedem Foto sah sie entweder zu jung oder zu glücklich aus. Ungeeignet für den Zweck des Artikels. Sie würden etwas wollen, das jeden anspricht, Insider und Outsider gleichermaßen. Sie musste sowohl zugänglich als auch unantastbar wirken.
Schließlich entschied ich mich für ihr Collegeabschlussfoto. Sie hielt das Diplom in der Hand, aber ihr Kopf war leicht nach hinten geneigt, als würde sie gleich anfangen zu lachen. Es war voll und ganz Sadie. Und es war voll und ganz tragisch.
Dieses Foto zeigte einen Anfang. Etwas lag in der Luft und war brutal beendet worden. Der Beginn eines Lachens, ihres Lebens. Etwas, von dem ich nun das Gefühl hatte, dass es ihr genommen worden war.
Und dann legte ich die restlichen Fotos zurück in den Karton, versteckt im Schrank, wo sie zusammen mit den anderen Menschen, die ich verloren hatte, bleiben würden
.
Littleport-Gedenkstätte für Sadie Janette Loman.
Ich klopfte mit den Fingern gegen den Rand der Tastatur und wartete, dass die Worte kamen. Ich starrte das Foto von ihr in Schulabschlusskleidung an, hinter ihr der blaue Himmel über der Kuppel des Gebäudes.
Sadie Loman mag neun Monate des Jahres in Connecticut verbracht haben, aber Littleport war ihr der liebste Ort auf der Welt.
Das hatte sie mir erzählt, als wir uns das erste Mal trafen. Und nun war sie kurz davor, Teil seiner Geschichte zu werden.
Für eine so kleine Ortschaft hatten wir eine lange Vergangenheit, die in unserem kollektiven Gedächtnis lebte. Es war ein Ort voller Geister aus alten Legenden und auch aus Gutenachtgeschichten. Der auf dem Meer verschwundene Fischer, der erste Leuchtturmwärter – ihre Schreie, die nachts im Heulen des Windes erklangen. Bänke in Gedenken an, zu Ehren von; Kartons von Haus zu Haus getragen. Wir nahmen die Verlorenen mit uns hierher.
Es war ein Ort für Risikofreudige, ein Ort, der die Mutigen mochte.
Ich versuchte einen Platz für Sadie in dieser Geschichte zu finden. Etwas, von dem sie Teil sein konnte.
Sie war mutig, natürlich war sie das. Aber das war es nicht, was die Leute hören wollten. Sie wollten hören, dass sie den Ozean liebte, ihre Familie, diesen Ort.
Was ich sagen würde, wenn ich die Wahrheit erzählen könnte:
Sadie würde alles hieran hassen. Von der Glocke über die Inschrift bis zur Ehrung. Sie würde auf den Felsen sitzen und auf den Strand hinuntersehen, wo wir alle versammelt wären, lachend und einen Drink in der Hand. Littleport war ungerührt und ohne Mitleid, und das war sie auch. Ein Produkt dieses Ortes wie wir alle
.
Vielleicht würde sie fordern, dass man ihr vergab. Vielleicht würde sie ein erlittenes Unrecht mit einem übertriebenen Gegengewicht kompensieren. Vielleicht wusste sie tief in sich drinnen, wenn sie zu weit gegangen war.
Aber Sadie Loman hätte sich nie entschuldigt. Nicht dafür, wer sie war, und nicht für das, was sie getan hatte.
Es tut mir leid. Ich wünschte, es müsste nicht so sein.
Zwei einfache Sätze. Die Nachricht, die sie gefunden hatten. Zerknüllt im Müll.
Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass alles ein Fehler war? Dass die Polizei und ihre Familie eine Sache gesehen und eine andere geglaubt hatten?
Wie standen die Chancen, dass Sadie genau diese Worte gewählt hatte, genau die gleichen, die ich früher in dem Sommer auch benutzt hatte – jene, die ich selbst geschrieben, in der Mitte gefaltet und auf ihrem Schreibtisch für sie hinterlassen hatte?