Kapitel 16
Ich fuhr rückwärts aus der Auffahrt von Nummer eins, Landing Lane, mit nicht mehr als den Dingen, mit denen ich vor sechs Jahren angekommen war: einem Laptop auf dem Sitz neben mir; den Karton der Verlorenen und mein Gepäck auf den Rücksitz geworfen; die übrigen Sachen aus der Küche, dem Bad, dem Schreibtisch hastig in ein paar Plastikmülltüten geschmissen, die in den Fußraum passten. Ich musste nicht einmal meinen Kofferraum öffnen.
Sadies Trauerfeier ein Jahr zuvor hatte in Connecticut stattgefunden, an einem für die Jahreszeit ungewöhnlich warmen Tag mit einem trügerisch blauen Himmel.
Ich hatte dieses Outfit gewählt, weil es ihr vor mir gehört hatte, weil ich sie neben mir fühlen konnte, als ich meine Arme in die kurzen Glockenärmel des Kleides steckte, konnte mir vorstellen, wie der dunkelgraue Stoff gegen ihre Beine strich. Ich dachte, es würde mir helfen, nicht aufzufallen. Aber ich fühlte mich zu groß in ihren Kleidern, der Reißverschluss kniff an meiner Taille, die Saumhöhe sah an mir eher frivol aus und nicht seriös wie bei ihr. Ich spürte die Seitenblicke des Paares neben mir, und der Stoff kribbelte auf meiner Haut.
Ich hatte mal gehört, dass man nicht von einem Gesicht träumen konnte, bevor man es nicht im wahren Leben gesehen hatte. Dass Personen im Traum entweder real waren oder verschwommene Figuren, an die man sich nicht erinnern kann nach dem Aufwachen.
Aber an diesem Tag fühlte es sich an, als hätte ich die ganze Stadt geträumt. Reihe um Reihe flache, verkniffene Gesichtsausdrücke. Wohin ich auch sah das Gefühl von Déjà-vus. Namen, die mir auf der Zunge lagen. Gesichter, die ich aus Sadies Geschichten von ihrem Zuhause heraufbeschwört haben musste.
Als nach dem Gottesdienst alle in dem imposanten Haus der Lomans mit Klinkerfront versammelt waren, war es mir seltsam vertraut, wie etwas, was ich fast kannte. Vielleicht lag es an der Art, wie Bianca es eingerichtet hatte, beide Häuser ähnlich. Oder ein vertrauter Geruch. Der Hintergrund vieler Fotos, die ich in den letzten Jahren gesehen hatte und die ein Bild ergaben. Sodass ich eine Tür öffnen konnte und schon Sekunden vorher wusste, was sich dahinter befand. Zu meiner Rechten der Mantelschrank. Die dritte Tür links den Flur hinunter würde das Bad sein, und es würde in einer Schattierung von Fast-Blau gehalten sein.
Ich glaube, dass ein Mensch von jemand anderem besessen sein kann – zumindest teilweise. Dass ein Leben in ein anderes hineinschlüpfen, ihm Form geben kann. Dadurch konnte ich Sadies Reaktion beurteilen, bevor sie passierte, einen Ausdruck vor mir sehen in der Sekunde, bevor sie ihn zeigte. So konnte ich erkennen, was sie tun würde, bevor sie es tat, weil ich zu wissen glaubte, wie sie dachte und was an ihr zog und zerrte, um sie bis zu egal welchem Moment zu bringen – außer zu ihrem letzten.
Während ich nun hier war, vermutete ich, dass die einzige Person, die diese Besessenheit in mir sehen konnte, Luce war, die neben Parker am anderen Ende des Wohnzimmers stand, ein Glas in der Hand, und mich genau im Auge behielt. Seit dem Tag, an dem Parker uns einander vorgestellt hatte, als sie in jenem Sommer in die Auffahrt einbogen, hatte sie mich beobachtet. Zuerst dachte ich, es wäre, weil sie meine Geschichte mit den Lomans nicht verstand und dadurch auch nicht mit Parker. Aber später spürte ich noch etwas anderes: dass sie Dinge aus der Distanz wahrnehmen konnte. Als wäre da etwas, von dem ich dachte, es sei unsichtbar, das nur sie klar sehen konnte.
Parker beugte sich hinunter, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern, und sie zuckte zusammen, abgelenkt. Ihr Gesicht war stoisch, als sie sich zu ihm umdrehte, und ich nutzte den Moment, um mich aus dem Staub zu machen, nahm die Treppe in den zweiten Stock. Der Flur war hell und luftig, trotz des dunkleren Holzfußbodens und der geschlossenen Türen. Sobald ich meine Hand auf den Türgriff gelegt hatte, zweite Tür den Flur hinunter, wusste ich, dieses Zimmer war ihres.
Aber drinnen sah es so anders aus, als ich es mir vorgestellt hatte. Relikte aus der Kindheit waren hier zurückgeblieben, wie die Pferdefiguren auf einem Regal. Fotos steckten in den Ecken ihres Kommodenspiegels – eine Gruppe Mädchen, die ich vielleicht unten gesehen hatte. Sadie hatte ihre Highschooljahre in einem Internat und die Sommer in Littleport verbracht. Ihr Zimmer war ein so vergänglicher Ort wie jeder andere, gefüllt mit zurückgelassenen Dingen, die nie ganz mitwuchsen mit dem Menschen, der immer wieder dorthin zurückkehrte.
Ihr Bettüberwurf war knallbunt- pink, blau, grün – das Gegenteil von ihrem Bett in Littleport, wo alles in Schattierungen von Elfenbein gehalten war. Sie war seit Beginn der Sommersaison nicht mehr hier gewesen, aber ich suchte weiter nach einem Zeichen von ihr, etwas Zurückgelassenem, das die Leere, die sie einst besetzt hatte, ausfüllen konnte.
Ich fuhr mit den Fingern über die Maserung der hölzernen Oberfläche ihrer Kommode. Dann über ihre Schmuckschatulle, mit ihren Initialen graviert, Pfirsich auf Weiß lackiert. Daneben stand ein Zinnbäumchen vor dem Spiegel, seine Zweige kahl und schroff, dafür gedacht, Schmuck in einem Kinderzimmer auszustellen. Eine einzelne Kette hing am hintersten Zweig. Der Anhänger war rotgold, ein gedrehtes, zartes S, gesäumt von einem hübschen Band aus Diamanten. Ich schloss meine Faust darum, spürte wie die Kanten sich in das Fleisch meiner Handfläche bohrten.
»Ich wusste schon immer, dass du eine Diebin bist.«
Erst sah ich sie nur im Spiegel, blass und unbeweglich, wie ein Geist. Ich drehte mich um, ließ die Kette los, und befand mich Bianca von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Sie stand im Türrahmen; ihr schwarzes Mantelkleid reichte bis gerade unter ihre Knie, aber sie war barfuß.
»Ich hab nur geguckt«, sagte ich, panisch. Ich versuchte verzweifelt, an etwas festzuhalten, von dem ich fühlte, dass es mir entglitt.
Sie schwankte leicht im Türrahmen, ihr Gesicht verzog sich, als wäre sie überwältigt – sie hatte sich Sadie hier vorgestellt und stattdessen mich gesehen, im Zimmer ihrer Tochter, im Kleid ihrer Tochter. Aber dann war ich nicht mehr sicher – war sie diejenige, die sich bewegte, oder war ich es? Sie sah so blass aus.
»Wohin verschwindet eigentlich dein Geld, frage ich mich«, sagte sie und trat von einem Bein auf das andere, das Dielenholz knackte unter ihren Sohlen. Ich fühlte, wie die Stimmung sich veränderte, das Zimmer – eine neue Art, ihre Trauer auszuleben. »Du bekommst einen kompletten Lebensunterhalt direkt von uns. Du kriegst keine Rechnungen, hast keine Ausgaben, und ich weiß genau, was wir für das Haus deiner Großmutter bezahlt haben.« Sie trat einen Schritt in den Raum, dann noch einen, die Kante der Kommode presste sich in meinen Rücken. »Du hast meinen Mann vielleicht zum Narren gehalten, aber mich nicht. Ich habe von Anfang an gesehen, was du bist.«
»Bianca, es tut mir leid, aber …«
Sie hob eine Hand, unterbrach mich. »Nein. Du wirst nicht mehr sprechen. Du wirst nicht in meinem Haus – meinem Haus – herumwandern, als wäre es dein eigenes.« Ihre Augen blieben auf einem Foto von Sadie hängen, in die Ecke des Spiegels geschoben. Sie ließ ihren Finger direkt über dem Lächeln ihrer Tochter schweben. »Sie hat dich gerettet, weißt du das. Sie hat Grant erzählt, dass es ihre Idee war, das Geld zu stehlen, dass sie die einzige Verantwortliche dafür ist. Aber ich weiß es besser.« Sie bewegte ihre Hand zur Kette, zu dem zarten S , umschloss es mit der Handfläche.
Ich war sprachlos. Bianca lag falsch. Sie glaubte, ich hätte ihre Firma bestohlen, Sadies Job übernommen, sie dafür hinhalten lassen, aber das stimmte nicht.
Mitte Juli, über einen Monat vor Sadies Tod, war ich dabei gewesen, die Konten der Ferienhausfinanzen abzugleichen, als ich feststellte, dass die Zahlen nicht stimmten. Geld fehlte, war systematisch, heimlich und ohne Kennzeichnung abgehoben worden.
Einen kurzen Moment lang hatte ich erwogen, Sadie zuerst deswegen zu fragen. Aber ich machte mir Sorgen, dass mir eine Falle gestellt worden war – den ganzen Sommer hatte ich schon das Gefühl, sie hielt mich auf Distanz. Es erinnerte mich daran, dass alles in meinem Leben so flüchtig war, so zerbrechlich. Dass etwas so Gutes nicht andauern konnte.
Ich fasste die Details zusammen und gab sie an Grant weiter, erzählte ihm aber nicht die offensichtliche Wahrheit: Wenn ich es nicht war, dann war es Sadie – die offiziell zuständige Person. Ich war vieles, aber eine Diebin war ich nicht. Ich würde nicht alles verlieren, was ich mir erarbeitet hatte, wegen ihrer fehlgeleiteten Rebellion .
Die Konsequenzen wurden hinter verschlossenen Türen besprochen, und ich fragte Sadie nie danach. Sie blockte ab, als ich versuchte, es zu erwähnen. Damals dachte ich, es wäre bloß ihre Rastlosigkeit. Wie ihre Fixierung auf den Tod – etwas, womit sie Aufmerksamkeit erregte. Sie suchte immer nach einer Grenze, probierte aus, womit sie durchkommen konnte, hielt nie inne, um sich über die Begleitschäden Gedanken zu machen.
Einen Monat lang mied sie mich danach, antwortete nicht auf meine Nachrichten oder Anrufe. Band sich fest an eine Freundschaft mit Luce. Zusammen mit Parker wurden sie ein unzertrennliches Trio. Ein Monat, und ich war aus allem ausgeschlossen, was ich kannte, genau wie schon einmal zuvor. Aber diesmal war ich älter. Ich konnte Dinge drei Schritte voraus- und zurücksehen, und ich wusste bei jedem Schritt genau, was Sadie tun würde.
Ich hinterließ ihr eine Nachricht, eine Entschuldigung, zusammen mit einer Schachtel ihres Lieblingsfudge. Stellte sie mitten auf ihren Schreibtisch, um sicherzugehen, dass sie sie fand.
Es tut mir leid. Ich wünschte, es müsste nicht so sein.
Damit sie wusste, dass ich nicht sauer war und nicht schlecht von ihr dachte. Ich verstand sie, natürlich tat ich das. Ein Bedauern würde von mir kommen müssen. Ich war nicht einmal sicher, ob sie wusste, wie man sich entschuldigte, wie man es fühlte. Aber so war das, wenn man jemanden liebte – es zählte nur, wenn man seine Schwächen kannte und es trotzdem tat.
Direkt am nächsten Abend schickte sie mir eine Nachricht – Avie, wir gehen aus, komm mit!  –, sie erwähnte nie, was passiert war, und so war ich zurück; alles war gut.
Sie hatte an mein Wohnzimmerfenster geklopft – ihr Gesicht an die Scheibe gepresst, ihre Wange und ein hellbraunes Auge, gerunzelt vom Lachen. Sie erinnerte mich an Sadie mit achtzehn, und vielleicht war das so gewollt. Ich konnte Luce und Parker in der Auffahrt hören.
Sadie hatte eine Flasche Wodka in der Hand, als ich ihr die Tür öffnete, und sie nahm selbst ein paar Gläser aus dem Schrank, schenkte mindestens zwei Kurze in jedes Glas. »Ich dachte wir gehen aus«, sagte Parker, der in der offenen Tür stand.
»Das tun wir. In einer Minute. Steh nicht einfach da rum«, sagte sie und rollte mit den Augen, sodass nur ich es sehen konnte. Luce durchquerte das Zimmer, folgte dem Befehl, hob das Glas an die Lippen.
»Warte!«, sagte Sadie und streckte die Hand aus, Luce erstarrte. »Warte auf die anderen.« Wir nahmen alle ein Glas in die Hand. »Hört, hört«, sagte Sadie. Sie stieß ihr Glas gegen meins. Ihre Augen waren groß, und sie blinzelte nicht, und ich glaubte, ich konnte alles sich darin widerspiegeln sehen, alles, was sie nie gesagt hatte.
»Auf uns«, sagte Luce, und Parker wiederholte es wie ein Echo. Ich konnte meinen Herzschlag in den Zehen spüren, meinen Fingern, meinem Kopf. Sadie starrte mich an, wartete. Die Stille dehnte sich aus, der Moment war berauschend.
»Ruhig, ruhig«, sagte ich, und ihr Lächeln wurde breit.
In der Nacht, in der sie starb, war sie gedankenlos in mein Zimmer geschlendert, oder zumindest schien es mir so zu der Zeit. Seit zwei Wochen war alles wieder normal, und ich wollte das Fundament nicht erschüttern. Wenn etwas anders gewesen war, war ich zu konzentriert auf meine Arbeit, um es zu bemerken.
Aber laut Bianca hatte ich alles ins Rollen gebracht. Ich hatte dafür gesorgt, dass Sadie entlassen wurde. Hatte sie ruiniert. Ihren Job übernommen. Sie vor ihren Eltern verraten. Sie zu diesem unvermeidlichen Ausgang getrieben.
Als ich Bianca gegenüberstand dachte ich, dass ich nun endlich den wahren Grund kannte, warum Sadie das Geld genommen hatte – ganz und gar nicht als rastlosen Akt der Rebellion. Sie hatte etwas gesagt, nachdem ich wieder in ihrem Leben willkommen war, als wir alle aus waren, im Fold. In einer Ecke der Bar saß Parker und nahm per Skype an einer Vorstandssitzung teil, die er vergessen hatte, mit einem Drink in der Hand, verlegen lachend.
Parker kommt buchstäblich mit allem davon. Ich komm noch nicht einmal weg , hatte Sadie gesagt. Mehr erwähnte sie nie über den Ausgang ihres Fehltritts.
Rückblickend war es das, was ich verpasst hatte. Sie wollte weg. Raus aus dem Griff der Lomans, aus ihrem Leben, egal mit welchen Mitteln. Raus – in die Wildnis ohne Richtung und Grenze. Deshalb zweigte sie Geld ab. Und das war ganz und gar nicht meine Schuld. Nein, die Schuld konnte noch ein paar Schritte weiter zurückverfolgt werden.
»Du hast das getan«, sagte ich, trat einen Schritt auf Bianca zu, meine Stimme wurde lauter. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es für sie gewesen sein muss, in diesem Haus aufzuwachsen.« Es war das Gefühl der Trauer, das Jahre zuvor von mir Besitz ergriffen hatte. Nur dass ich diesmal nicht darin versank, sondern sich meine Sinne schärften. Nichts auf dem Grund jagte, sondern stattdessen etwas freiließ.
Ich war gegen den Angriff gewappnet mit all den Dingen, die Sadie mir je erzählt hatte. Ihr Flüstern in meinem Ohr, eins der ersten Dinge, die sie über ihre Mutter gesagt hatte: Alle müssen dem Schrein der Bianca Loman huldigen. »Was glaubst du, warum sie es dort getan hat?«, fragte ich. »An dem Ort, an dem du so verzweifelt unbedingt leben wolltest? Es war nicht sicher, war es nicht das, was Grant fand? So nah an den Klippen zu wohnen? Aber du hast darauf bestanden.« Drängen und drängen, bis etwas zerbricht.
»Und nun schau«, fuhr ich fort. Ich zitterte, mein Gesichtsausdruck wild im Spiegel. Haben Sadies Eltern sie je als die Person gesehen, die sie war, statt der, die sie von ihr erwartet hatten zu sein?
Biancas Gesicht veränderte sich nicht. Eine Maske der Wut. »Raus«, sagte sie. »Ich will, dass du verschwindest.«
»Ja, ich gehe.« Ich zwängte mich an ihr vorbei, aber sie griff nach mir, ihre kalten Finger schlossen sich um mein Handgelenk, ihre Nägel kratzten über meine Haut, wie um mich wissen zu lassen, dass sie mir eine blutende Wunde zufügen könnte, wenn sie nur wollte.
»Nein«, sagte sie, »ich meine aus dieser Familie. Aus unserem Haus. Du bist nicht länger willkommen in der Landing Lane Nummer eins.«
Ihr Worte hatten gesessen. Aber als ich in der Nacht nach Littleport zurückgekommen war, war niemand da, der mir sagte, ich solle gehen. Die Entfernung ließ alles verschwimmen.
Niemand rief an, niemand prüfte nach. Und die Zeit, genau wie die Entfernung, machte die Dinge dehnbar.
Ich fuhr fort, mich um die Grundstücke zu kümmern und das Geld ging weiter auf meinem Konto ein.
Es war ein Fehler. Ein Streit, damals, wie in einer Familie. Die Worte würden keinen Bestand haben, die Emotionen sich beruhigen .
Fast ein Jahr lang hatte ich mich gefragt, ob Bianca es wirklich ernst gemeint hatte. Und nun wusste ich es.
Ich fuhr vorsichtig den Hügel hinunter, passierte Breaker Beach, fuhr auf das Ortszentrum zu. Wie meine Mutter fuhr ich durch den Ort und suchte nach einem Grund anzuhalten. All mein Besitz im Auto neben mir.
Als ich vor dem Zebrastreifen auf die Bremse trat, hörte ich das Klappern von Metall unter dem Beifahrersitz. Ich griff nach unten und fühlte die Kanten der Kassette – die Schlüssel, die ich nicht wieder mit nach drinnen genommen hatte, als ich vorhin nach Hause gekommen war.
Wie ein Zeichen. Als würde Sadie nach mir rufen. All die Geister, die mich daran erinnerten, dass dies mein Zuhause war. Mir all die Gründe ins Gedächtnis riefen, warum ich immer noch bleiben musste.
Das Sea Rose lag drei Blocks vom Wasser entfernt, in einer Reihe eng gebauter einstöckiger Häuser mit Gärten aus Kieselsteinen statt Rasen. Irgendwann einmal hatte diese Ansammlung von Häusern eine Künstlerkolonie gebildet, aber nun waren es zumeist skurrile, wenn auch exklusive Zweithäuser, nur im Sommer oder an langen Wochenenden im Frühling und Herbst bewohnt – und sie kamen selten auf den Markt.
Das war ein Ort, von dem ich mir vorstellen konnte, dass meine Mutter ihn in einem anderen Leben gewählt hätte. Von wo aus sie ihre Materialien zum Breaker Beach bringen und ununterbrochen in ihrem Haus arbeiten konnte – das Leben, das sie sich vorgestellt haben musste, als sie sich in ihrem Auto auf den Weg gemacht hatte. Statt des disharmonischen, das sie gelebt hatte – in der Galerie arbeiten, mich großziehen und nur nachts malen in der heiligen Stille. Zerrissen zwischen zwei Welten – der vor ihren Augen und der in ihrem Kopf, welche sie beständig weiter zu enthüllen versuchte.
Dennoch, einen Ort wie diesen hier hätte sie sich nie leisten können.
Die Firma Loman hatte das höchste Angebot für das Grundstück um fast ein Drittel überboten, um die Tatsache zu kompensieren, dass es als Saisonferienhaus genutzt werden würde, aber bis jetzt hatte es sich bezahlt gemacht. So nah am Zentrum zu sein, auf einer historischen Straße, dort, wo andere früher einmal berühmte Gedichte und Kunst geschaffen hatten, wog die beengten Platzverhältnisse und die fehlende Aussicht auf.
Hier gab es keine Auffahrten, nur Häuser, die vom Gehweg zurückgesetzt in einem Halbkreis lagen mit Parkmöglichkeiten an der Straße: Wer zuerst kommt, malt zuerst. Wir nannten sie Bungalows, aber nur, weil niemand so viel für eine Hütte bezahlen wollte.
Anders als die Donaldsons hatten Katherine Appleton und ihre Freunde das Protokoll nicht befolgt. Es war kein Schlüssel im Briefkasten, und die Vordertür war nicht abgeschlossen. Kein Wunder, dass sich am Abend zuvor jemand Zutritt hatte verschaffen können. Ich fing an zu glauben, dass, wer auch immer sein Unwesen auf den Grundstücken trieb, sich nur die leichten Ziele aussuchte: der kaputte Fensterhebel am Blue Robin; der Stromkasten draußen bei den Breakers; und Katherine Appleton, die versäumt hatte abzuschließen. Das einzige Haus, bei dem ich mir nicht erklären konnte, wie da jemand hereingekommen war, war das Sunset Retreat.
Die Putzleute waren erst am späten Nachmittag hier eingeplant – für die nächste Woche hatte ich keine Gäste eingetragen –, aber drinnen war es sogar noch schlimmer, als ich erwartet hatte .
Obwohl es Mittag war, gab es drinnen nur Dämmerlicht – die Vorhänge waren zugezogen, die Müllsäcke standen in den Ecken. Und der Zustand, in dem das Wohnzimmer zurückgelassen worden war, erinnerte an eine Séance. »Mein Gott«, sagte ich, fuhr mit den Fingern über den Tresen, zog die Hand aber wieder zurück und rieb die Rückstände an meiner Jeans ab. Der Schlüssel lag mitten auf dem Tresen neben dem laminierten Hefter, in dem sie am Abend zuvor meine Nummer gefunden haben mussten. Ein Mysterium, wie sie die gefunden, aber das Checkout-Prozedere überlesen hatten.
Mein Blick fiel auf die im Anruf erwähnten Kerzen, eine brannte immer noch auf der Küchenfensterbank. Ich beugte mich vor und blies sie aus. Die restlichen waren im Wohnzimmer verstreut aufgestellt, auf den Tischen und dem Kaminsims zusammengeklumpt wie in einer Art okkultem Ritual. Auf keinen Fall würden sie die Kaution wiederbekommen.
Ich scrollte durch die Kontakte auf meinem Handy, um dem Mann, der das Haus gemietet hatte, eine E-Mail zu schreiben – in der ich darüber berichten würde, wie seine Tochter es hinterlassen hatte –, als ich einen Stapel Zwanzig-Dollar-Scheine auf dem Couchtisch bemerkte. Ich sah vor mir, wie die Gäste ihre Portemonnaies öffneten, den Inhalt herauszogen, sich selbst dadurch Absolution erteilend. Als ob Geld jeden Ausrutscher ungeschehen machen konnte.
Ich blätterte die Scheine durch und registrierte, dass es mehr Geld war, als ich selbst verlangt hätte. Ich verwarf die E-Mail und rief stattdessen die Reinigungsfirma an. »Bitte streichen Sie den Termin für das Sea Rose heute«, sagte ich.
Dann ging ich zum Schrank neben dem Waschraum und holte die Putzmittel. Ich zog die Betten ab, warf die Wäsche in die Maschine und fing an, die Oberflächen zu schrubben, während sie lief.
Es dauerte nicht besonders lange, bis ich fertig war .
Eine Garage gab es nicht, aber von hier bis ins Ortszentrum säumten Autos das Raster der Straßen. Niemandem würde ein zusätzlicher Wagen auffallen. Ich nickte mir selbst zu und holte den Rest meiner Sachen rein.
Das würde reichen.
Am Küchentisch klappte ich meinen Laptop auf, loggte mich ins WLAN ein und schickte Grant eine E-Mail, in der ich mich auf die Nachricht berief, die ich ihm vorhin hinterlassen hatte. Ich hielt die Dinge professionell und auf den Punkt, nur Zahlen und Fakten, listete alles auf, was mit den Häusern zu tun hatte. Ich berichtete von dem Fenster im Blue Robin, das nicht einrastete, dem Gasleck im Sunset Retreat, dem Schaden im Trail’s End in der Woche zuvor und von der Aussage der Donaldsons, jemand sei in ihrem Haus gewesen. Ich fragte, ob ich mich um Ersatz kümmern – ob ich Anzeige erstatten solle.
Sogar von den Stromausfällen oben auf seinem Grundstück schrieb ich. Sagte, er wolle das vielleicht von jemandem ansehen lassen, ließ ihn entscheiden, wie mit allem umzugehen sei.
Dann ließ ich die Jalousien herunter und öffnete auf meinem Bildschirm den Ordner, in den ich Sadies Fotos kopiert hatte. Ich begann, sie eins nach dem anderen durchzugehen. Suchte nach etwas, was ich beim ersten Mal übersehen hatte. Glaubte nun ohne Zweifel, dass ihr etwas Schreckliches angetan worden war. Ich klickte die Fotos eins nach dem anderen an, versuchte die Schritte nachzuvollziehen, die sie in den Wochen bis zu ihrem Tod unternommen hatte.
Die Polizei hatte jetzt auch Zugang dazu, aber Detective Collins schien sich nur auf das, was nicht da war, zu konzentrieren. Dabei zeigte Sadie uns doch genau hier etwas – die Welt, durch ihre Augen.
Da war sie mit Luce, lachend. Da war Parker, am Pool. Der Blick von den Klippen aus, wo sie zuvor mindestens einmal gestanden hatte. Die beschattete Bergstraße, mit dem Licht, das von oben durch die Blätter fiel. Breaker Beach in der Dämmerung, der Himmel ein kühles Pink.
Als Nächstes ein Foto von Grant und Bianca nebeneinander in der Küche, die Gläser erhoben. Bianca, die Grant ansah, ihr Gesicht offen und glücklich. Die Lachfalten um Grants Augen, während er zu den Gästen außerhalb des Bildes hinüberguckte.
Und dann Connor. Connor auf dem Boot, ohne Hemd, braun gebrannt. Das Teil, das nicht passte. Ich kam immer wieder auf diese Aufnahme zurück. Ihr Schatten, der auf seine Brust fiel. Eine blonde Haarsträhne, die über die Linse wehte, als sie sich über ihn beugte.
Ich vergrößerte Connors Sonnenbrille, bis ich Sadie selbst in der Reflektion erkennen konnte. Ihre nackten Schultern, ein schwarzer Träger ihres Badeanzugs, ihr nach vorn fallendes Haar und ihr Telefon, das sie vor sich hielt, als sie ihn einfing, überraschend.