Kapitel 19
Der blinkende Lichterglanz entlang des Harbor Drive wurde sichtbar, als wir uns dem Ufer näherten. Die Lichter von Littleport, die mich beruhigten – mich zurückgeleiteten. Der Anleger war um diese Zeit leer, keine Arbeiter mehr, die herumliefen. Nur ein paar Touristen auf einem Spaziergang nach dem Essen.
Wie viele Male waren Sadie und ich zusammen hier draußen gewesen, in der Annahme, wir seien allein? Auf dem Rückweg in Richtung Landing Lane, begleitet vom Geräusch der Wellen, als wir am Breaker Beach vorbeikamen. Ohne Menschen um uns herum wahrzunehmen, die uns vielleicht beobachteten. Gelächter in der Nacht, mitten auf der Straße entlangstolpernd – nicht ahnend, dass jemand an ihrem Haus lauern könnte. Blind gegenüber den wahren Gefahren, die uns umgaben.
Nicht Tetanus, keine Blutvergiftung oder ein falscher Schritt an der Klippenkante. Keine Warnung, vorsichtig zu sein – Tu dir nicht weh
– oder eine Hand an meinem Ellbogen, die mich zurückführte.
Sondern dies
. Jemand da draußen. Schauend und wartend, bis sie ganz allein war
.
Ich sprang aus dem Boot, während Connor uns am Anleger festmachte, schaute mich prüfend um, wollte sichergehen, dass der Detective nicht irgendwo zu sehen war. »Avery«, rief Connor, »erzählst du mir, was da drauf ist?« Er nickte zu dem Kästchen unter meinem Arm.
Ich zitterte vor Kälte, das getrocknete Salzwasser rau auf meiner Haut, meine Haarspitzen ganz steif. Der Boden schwankte unter meinen Füßen, als wären wir immer noch auf dem Wasser. In der Ferne warf der Leuchtturm seinen Strahl über das dunkle Meer. Ich wollte nur nach Hause, mich aufwärmen. »Das mach ich«, sagte ich – aber in Wahrheit hing das davon ab, was ich finden würde.
Als ich zurück zu meinem Auto kam, sah ich einen verpassten Anruf und eine Nachricht auf meiner Mailbox. Ein Räuspern und dann eine Männerstimme, professionell und ernst. »Avery, hier spricht Ben Collins. Ich hatte gehofft, Sie heute zu erwischen, wollte ein paar Dinge überprüfen. Rufen Sie mich bitte an, sobald Sie können.«
Ich drückte auf Löschen, speicherte seine Nummer in meinem Handy ab und fuhr in Richtung des Wohngebiets hinter dem Breaker Beach. Ich beschloss, ein paar Straßen vom Sea Rose weg zu parken und dann zu Fuß zu gehen, nur falls der Detective immer noch herumlief und mich suchte.
Während ich die zwei Straßen in Richtung der Bungalows entlangging, erhellten die Außenlichter der Häuser meinen Weg, sorgten dafür, dass ich mich sicher fühlte, die Grillen zirpten im Vorbeigehen. Ich bog gerade in den Weg vor dem Sea Rose ein, als ich das Geräusch von Schritten auf Kies hörte – es kam aus der dunklen Gasse zwischen den Häusern. Ich erstarrte, unsicher, ob ich wegrennen oder näher herangehen sollte
.
Plötzlich erschien ein Schatten – eine Frau, die sich an der Hauswand abstützte, um ihr Gleichgewicht zu halten. Sie hatte Plateauschuhe an, einen Rock, der ihr bis knapp über die Knie reichte, ein tief ausgeschnittenes Top. Kam mir alles nicht bekannt vor – außer der roten Brille. »Erica?«, fragte ich.
Sie hielt an, verengte die Augen, machte dann noch einen Schritt. »Avery? Bist du das?«
In ihrer anderen Hand hatte sie irgendetwas, was sie außer Sichtweite hielt, sie sah über ihre Schulter in die Dunkelheit, dann zurück zu mir. Ihr Gesicht nervös und unsicher, als hätte sie etwas zu verbergen.
»Was tust du hier?«, fragte ich und kam näher. Ich musste sehen, was sie in der Hand hielt. Was sie versteckte.
»Ich gehe nur hier lang. Zu meinem Auto.« Sie trat zurück, als ich näher kam, als hätte sie Angst vor mir.
Und dann eine Stimme von weiter hinten. »Was ist los?«
Da sah ich es – sie hielt ihr Telefon in der Hand. Wie ich es vielleicht auch tun würde, wenn ich in einer dunklen Gasse unterwegs wäre, damit ich mir den Weg beleuchten könnte. Ein Mann lief auf uns zu und rief: »Erica? Alles in Ordnung?«
Er legte einen Arm um sie. Sie sah erschüttert aus, verwirrt von meiner Anwesenheit hier. Als würde sie sich an die Geschichten erinnern, die ihre Tante ihr erzählt haben musste. Die Dinge, die ich getan hatte und deshalb immer noch fähig war zu tun. »Ihr habt mich erschreckt«, sagte ich. »Jemand hat auf den Grundstücken hier in der Gegend sein Unwesen getrieben.«
Sie blinzelte zweimal, langsam, als wäre sie unsicher, was gerade passierte. Ob sie ihren Instinkten trauen sollte. Sie lächelte mich vorsichtig an, ihr Blick wich zur Seite aus. »Ich laufe nur hier lang. Ich war bei Nick.«
»Nick?« Vielleicht der Typ, der bei ihr war. Aber er reagierte nicht
.
»Die Bar hinter dem Breaker Beach«, sagte sie. »Das hier ist eine Abkürzung.«
»Wir wollten nur … mein Auto holen.« Sie räusperte sich. Sie war betrunken.
»Oh. Oh.
«
Der Einbruch letzte Nacht konnte also auch ein Gelegenheitsverbrechen gewesen sein. Ein Haus, das auf dem Weg von den Bars lag. Unverschlossen.
Der Mann neben ihr sah mich aufmerksam an. Er hatte blondes Haar, einen passenden Bartschatten; etwas größer als Erica, aber nicht viel – ich kannte ihn nicht. Ich musste an die Person auf den Klippen mit der Taschenlampe denken. Daran, dass ich beobachtet hatte, wie der Strom ausfiel, und nun war Erica mit einem fremden Mann hier, huschte an diesem Haus vorbei, wo jemand in der Nacht zuvor Kerzen angezündet hatte.
»Was machst du
hier?«, fragte sie.
»Ich hab eine Freundin besucht. Bin auf dem Weg nach Hause.«
Sie nickte einmal und trat von einem Fuß auf den anderen, lehnte sich an den Mann neben sich. Sie sah immer wieder nach unten, und mir wurde klar, dass das nicht Nervosität war – es war ihr peinlich, dass ich diese andere Seite von ihr gesehen hatte.
Ich wollte ihnen sagen, dass sie das Auto lieber stehen lassen sollten. Aber Erica war vielleicht ein Jahr jünger als ich, und in Littleport gab es viele Gefahren. Man lernte sie kennen, wenn man sie durchlebte.
Trotzdem. »Ich kann euch fahren«, sagte ich.
»Nein, nein …«, sagte sie, und winkte ab.
»Es geht ihr gut«, antwortete der Typ. »Na ja«, korrigierte er dann, »mir geht es gut. Und ich kann das machen.
«
Ich wartete, bis sie außer Sichtweite waren, bis das Geräusch ihres Lachens sich weiter entfernte, bevor ich das Sea Rose aufschloss. Das Haus war genau, wie ich es verlassen hatte – dunkel, aber warm. So schnell ich konnte, leerte ich meine Taschen, öffnete den Gefrierbeutel, holte das Kästchen heraus und entnahm den USB-Stick.
Als ich ihn ins Licht hielt, entdeckte ich einen kleinen Kreis mit dem Logo von Loman-Immobilien vorn eingraviert. Ich hatte eine Sammlung davon in der Schreibtischschublade im Büro oben gesehen.
Meine Güte, das war ihrer. Das war definitiv ihrer.
Meine Hände zitterten, als ich ihn in den USB-Anschluss meines Laptops steckte und wartete, bis der Ordner sich öffnete. Es gab nur eine Datei darin, ein JPG, und ich beugte mich näher heran, als ich es öffnete.
Es war ein Bildschirmfoto, ein langer horizontaler Balken mit zwei Zeilen in einer Tabelle, alles vergrößert auf meinem Monitor.
Sadie hatte einen Abschluss in Finanzen und während des Studiums ein Praktikum bei ihrem Vater gemacht. Bevor sie starb, hatte sie sich mit dem Geldfluss seiner Firma beschäftigt.
Es gab drei Spalten, jede enthielt eine Reihe von Zahlen, aber nur eine ergab einen Sinn: die mit einer Dollarsumme – $ 100 000.
Die anderen identifizierte ich als Kontonummer und Bankleitzahl. Ich zog mein Scheckbuch aus meinem Portemonnaie, um das zu bestätigen. Und ja, es ergab alles Sinn.
Kontonummern. Zahlungen. Etwas, von dem sie das Bedürfnis hatte, es zu verstecken, außerhalb der Reichweite von Littleport. Aber es gab keine weiteren Informationen. Keine Namen, keine Daten. Ohne einen Zusammenhang bedeutete das alles nichts
.
Vielleicht landete dort das gestohlene Geld? Vielleicht war das, was ich letztes Jahr aufgedeckt hatte, nur ein kleiner Teil davon …
Mein Handy klingelte, schreckte mich auf. Ein Name, von dem ich dachte, dass er nie wieder auf meinem Display aufleuchten würde.
»Hey«, antwortete ich.
»Hi. Tut mir leid, ich bin ein bisschen ungeduldig.« In all den Jahren hatte ich Connor nie aus meinen Kontakten gelöscht. Und Sadie hatte ihn hier gefunden.
»Er ist von ihr, Connor. Es ist Bankzeugs. Zwei Zahlungen. Ich habe keine Ahnung, was das zu bedeuten und warum sie es versteckt hat.« Die Worte kamen ohne nachzudenken heraus, ein gewohntes Vertrauen. Er hatte mich schon einmal gedeckt, hatte er behauptet. Wie ein Versprechen, dass er auf meiner Seite war. Aber ich wollte die Worte sofort wieder zurücknehmen, auf einmal war ich mir nicht mehr sicher, was er für Absichten hatte – oder alle anderen. Alles ging zu schnell, und ich machte immer wieder Fehler.
Als durch das Fenster über der Spüle Gelächter und Schritte erschallten, fuhr ich hoch und erstarrte. Aber die Leute gingen vorbei. Auch sie hatten die Abkürzung von der Bar genommen, nachdem sie in der Nähe des Breaker Beach feiern waren.
»Avery? Bist du noch dran?«
Ich hielt die Augen auf das dunkle Fenster gerichtet. »Ich bin hier. Vielleicht kann ich herausfinden, warum es wichtig ist?«
Pause. »Ich finde, du solltest aufhören«, sagte er.
»Was?« Sie hatte das auf einer Insel versteckt, Connor dafür bezahlt, sie dahin zu bringen, und nun war sie tot. Und Connor fand, jetzt
wäre der richtige Zeitpunkt, um aufzuhören?
»Zahlungen? Ach komm, Avery. Jede Familie hat Geheimnisse.
Und diese Familie sollte man lieber nicht anrühren. Sadie ist tot, und das können wir nicht ändern.«
Aber es war nicht nur die Tatsache, dass sie tot war. Wenn sie gefallen war, okay. Sogar wenn sie gesprungen war, okay. Aber es gab noch eine dritte Möglichkeit, und das war die einzige, an die ich noch glauben konnte. »Jemand hat sie umgebracht
, Connor. Und ich glaube, die Polizei verdächtigt jemanden von uns
. Willst du einfach dasitzen und auf das Beste hoffen?« Stille, aber er protestierte nicht. »Diese Person ist immer noch hier. Diese Person war mit uns auf der Party.« Mir stockte der Atem – verstand er nicht? Wir lebten mit dem Bösen. Mit jemandem, der noch da draußen war.
Auch heute Nacht, gerade so außerhalb unserer Reichweite. Die Taschenlampe am Steilufer. Der Stromausfall nachts. Er war ein Schatten hinter dem Fenster. Beobachtete mich, um zu sehen, was ich tat. Oder vielleicht: um zu sehen, was ich wusste.
Ich prüfte noch einmal die Schlösser am Haus, presste das Telefon an mein Ohr, war froh, dass ich ein paar Straßen weiter weg geparkt hatte.
»Wo bist du?«, fragte er nüchtern.
Ich hielt inne. Es schien nicht, als wolle er helfen. Eher als wolle er mir etwas ausreden. »Ich ruf dich an, wenn ich mehr weiß.«
Ich speicherte die Datei auf meinem Laptop, suchte dann in meiner Tasche nach einem bestimmten Stück Papier – der Liste mit unseren Namen und den Zeiten, wann wir zur Party gekommen waren. Ich drehte sie um und schrieb die Kontodaten darauf. Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, auf diese Nummern zu starren. Versuchte sie zu zwingen, etwas zu bedeuten. Ich wusste nur, dass die Informationen irgendwo aus dem Loman-Haus gekommen sein mussten, und Sadie sich nicht sicher dabei gefühlt hatte, sie dazulassen
.
Ich schlief auf dem Sofa ein, in regelmäßigen Abständen erklangen Schritte durch die Nacht. Eine Seite von Littleport, die ich nie gekannt hatte. Auch eine Seite von Sadie.
Ich hatte gerade etwas Neues entdeckt, sogar noch nach all der Zeit.