Kapitel 20
Ich wachte wieder vom Geräusch von Schritten auf dem Schotter draußen auf und brauchte einen Moment, um mich zu erinnern, wo ich war. Um die Möbel im Raum zuordnen zu können, das Fenster, die Vorhänge, durch die ein schräger Lichtstreifen fiel.
Die Schritte entfernten sich – jemand, der zum Strand ging vielleicht. In die andere Richtung als letzte Nacht.
Ich war auf dem Sofa eingeschlafen, der offene Laptop, ohnehin schon mit fast leerem Akku, war ausgegangen, während ich schlief. Ich kramte im dämmerigen Zimmer herum, fand meine Tasche mit dem Ladekabel. Während der Laptop auf dem Küchentisch auflud, öffnete ich ein Fenster einen Spalt und roch das Meer in einer Windbrise. Das Telefon brummte irgendwo unter den Sofakissen, ich ließ mir Zeit mit dem Suchen, nahm an, es war wieder Connor.
Aber es stand Grants Name auf dem Display. Als hätte er gespürt, dass ich letzte Nacht diese Datei geöffnet hatte.
»Grant, hi«, sagte ich zur Begrüßung.
»Guten Morgen, Avery«, sagte er, seine Stimme so monoton wie immer, geschäftsmäßig und nicht zu deuten. Sodass ich immer versuchte, ihm zu gefallen, meinen Wert in seinem Gesichtsausdruck zu lesen. »Nicht zu früh für einen Anruf, hoffe ich?«
»Ganz und gar nicht«, sagte ich und blickte auf die nächste Uhr. Da, über der Spüle – um zwölf Uhr stehen geblieben
.
»Erzähl mir, was passiert ist.«
»Nun ja«, fing ich an, »wie schon in der E-Mail erwähnt gab es ein paar kleine Einbrüche, nichts Schwerwiegendes. Der Fernseher im Trail’s End muss ersetzt werden, und das Blue Robin braucht ein neues Fenster. Aber es gab auch ein Gasleck im Sunset Retreat, und ich mache mir Sorgen, dass alles miteinander zusammenhängt.«
Er antwortete nicht, und ich räusperte mich, wartete.
»Hast du die Polizei gerufen?«, fragte er.
»Ich habe den Notruf gewählt, als ich Gas gerochen habe, die Feuerwehr kam sofort.« Ich hielt inne. »Es war nicht sicher.«
»Verstehe. Und was haben sie gesagt?«
»Eine lose Verbindung hinter dem Herd. Die sollten wir natürlich austauschen.«
»Natürlich«, wiederholte er.
Er wartete, ob ich noch mehr sagte, aber ich wusste, dass das Taktik war – Stille und Warten darauf, dass jemand anderes etwas preisgab, etwas enthüllte, was er verbergen wollte. Ich hatte viel von Grant gelernt über die Jahre, fast alles, was ich über das Geschäft wusste und wie ich mich in seinen Grenzen bewegen musste – sowohl die ausgesprochenen als auch die unausgesprochenen Regeln.
Er hatte mir einmal gesagt, ich hätte etwas, was seinen Kindern fehlte. Das Geheimnis des Erfolges, das sogar Parker verborgen blieb: dass man für großen Lohn große Risiken eingehen musste. Dass man, um sein Leben wirklich zu ändern, bereit sein musste zu verlieren.
Parker wird gut in dem Job sein,
erklärte er. Er wird die Firma solide erhalten. Er ist gut darin, mit dem zu arbeiten, was wir haben. Er versteht das Spiel, all die Besonderheiten. Aber das, womit der spielt, hat er sich nicht selbst aufgebaut. Dein Risiko muss ein Gegengewicht haben. Keins meiner Kinder ist wirklich bereit, diese Risiken einzugehen
.
Weil, so dachte ich damals, sie schon alles hatten.
»Du hast das Haupthaus erwähnt«, sagte er nun. »Etwas wegen der Elektrik?«
Und plötzlich war mir klar, warum er mich zurückrief. Es war nicht wegen der E-Mail, die ich ihm geschrieben hatte, oder der Sorge um seine Häuser. Es ging um die Lichter, die nachts ausgegangen waren; die Taschenlampe, die ich auf den Klippen gesehen hatte. Er vermutete ebenfalls, dass da oben etwas geschah.
»Ja«, sagte ich, »es ist ein paarmal passiert. Das Netz ist zusammengebrochen, alle Sicherungen rausgesprungen. Du solltest das wahrscheinlich jemanden ansehen lassen.«
»Okay, also, danke. Gibt es noch etwas?«
Was hast du riskiert, Avery?
Er hatte mich das auch gefragt, als er mich in sein Büro gerufen hatte, um mir Sadies Job anzubieten. Weil ich wusste, er verstand. Ich hatte meinen Platz in ihrer Welt riskiert. Ich hatte um meine Freundschaft mit Sadie gespielt. Den Platz, an dem ich war, gegen den, an dem ich sein könnte.
Es gab keinen Gewinn ohne ein großes Risiko für dich selbst. Und nun wollte ich verzweifelt an dem festhalten, was ich gerade verlor.
»Ich wollte das mit Bianca erklären. Das …«
»Das ist wirklich nicht nötig, Avery.« Seine Stimme blieb ruhig und kontrolliert, und ich spürte, wie mein Puls langsamer wurde, meine Finger sich entspannten. »Hör zu«, fuhr er fort, »wir wissen deine Hilfe in diesem sehr schwierigen Jahr zu schätzen. Die Wahrheit ist, dass ich nicht glaube, wir hätten es ohne dich geschafft, die Dinge am Laufen zu halten. Nicht so, wie du es für uns getan hast. Aber wir werden die Verantwortung in der nächsten Saison an eine der Management-Firmen geben.«
Ich wartete für einen Herzschlag, zwei, ob er fortfahren
würde, ob seine Worte noch woandershin führten – eine neue Stelle, eine neue Möglichkeit. Aber die Stille erstreckte sich so lang, dass er meinen Namen noch einmal sagen musste, um sicher zu sein, dass ich noch dran war.
»Verstehe«, sagte ich. Ich wurde gerade gefeuert. Ein schneller Doppelschlag. Mein Zuhause und mein Job, beides weg.
Und dann veränderte sich seine Stimme doch. Etwas leiser, persönlicher, machtvoller. »Ich hab dir eine Chance gegeben. Dachte, du wärst anders, die Zeit und die Energie wert. Aber anscheinend habe ich dich überschätzt – selbst schuld. Ist wohl eine meiner Schwächen.«
Der Stich war scharf und tief – ich konnte mir vorstellen, wie er die gleichen Worte zu Sadie gesagt hatte, als sie auf der anderen Seite seines Schreibtisches oben im Büro stand, als er ihr den Job wegnahm und mir gab. Ich antwortete nicht, denn es gab eine Grenze zwischen Antrieb und Verzweiflung, und er respektierte nur die erste.
Alles, was ich tun konnte, war meinen Atem ruhig zu halten, mir auf die Zunge zu beißen – wie ich es gelernt hatte. Und dann war er wieder da, der gleichmäßige Tonfall, professionell, der bedeutete, dass es weiterging. »Ich hab einen Blick auf den Plan geworfen; diese Woche ist so ziemlich die letzte der Saison, richtig?«
»So ist es«, sagte ich. Nächste Woche war Labor-Day-Wochenende, und Littleport würde sich danach ziemlich schnell leeren.
»Gut. Dann lass uns das Jahr abschließen. Am Ende der Saison werden wir dir deine Zeit bezahlen.« Und dann legte er auf. Ich hörte der Stille zu, obwohl die Verbindung schon abgebrochen war.
Wie hatte ich das nicht kommen sehen können? Drei Schritte entfernt, als Parker ankam. Zwei, als Bianca mich rauswarf. Einer, die USB-Stick-Datei auf meinem Computer. Sadie, die
versucht hatte, mir etwas zu zeigen. Darauf wartend, dass ich sie bemerkte. Im Eingang meines Zimmers, in ihrem blauen Kleid und braunen Pulli, und in diesen goldenen Sandalen, abgetragen und zurückgelassen.
In meinen Knochen brannte etwas. Das Gleiche hatte ich gefühlt, als ich Faith schubste, als Connor mich mit jemand anderem fand – ein Vorbote der Zerstörung. Ich hatte es wieder gespürt, als Greg mich Sadies Monster nannte. Aber war ich das nicht? Wer konnte besser als ich das Ziehen und Schieben verstehen, das ihr Leben begleitet hatte? Den Pfad zu ihrem Tod bestimmt hatte?
Das Laptop-Licht wurde grün, der Bildschirm flackerte, als er wieder hochfuhr. Ich zitterte, hörte das Echo von Connors Warnung, ich solle aufhören
. Denn er hatte die Gefahr sofort verstanden. Eine versteckte Datei und Sadie tot. Etwas, für das es sich vielleicht zu töten lohnte.
Ich saß am Küchentisch und versuchte, mir die Dinge zu erklären.
Möglicherweise hatte das noch nicht einmal etwas mit Littleport zu tun. Zuerst könnte ich herausfinden, ob die Bankleitzahl zu einer unserer lokalen Banken gehörte. Auch wenn das nicht der Fall wäre, müsste das nicht unbedingt etwas heißen – es gab viele nationale Ketten und Onlinebanken. Aber es war ein Ausgangspunkt. Es gab zwei Banken im Ort, und bei einer war ich Kundin. Ich hatte das letzte Nacht schon überprüft – die Nummer entsprach nicht der in meinem Scheckheft.
Ich trommelte mit meinen Fingern auf der Tischplatte. Dachte daran, Connor anzurufen, Hey, bei welcher Bank bist du? Kannst du mir deine Bankleitzahl nennen?
Ich fragte mich, ob ich die Bank anrufen könnte, aber es war Sonntag
.
Ich rückte von meinem Platz am Küchentisch weg. Meine Großmutter war bei der anderen Bank gewesen. Sie hatte meinen Namen direkt ihrem Konto hinzugefügt, sodass ich, als sie starb, nicht darauf warten musste, bis ihr Letzter Wille sortiert worden war – ich hatte sofort Zugang zu dem Geld, nicht dass viel da gewesen wäre. Aber ich wusste, dass ich irgendwo diese Information hatte. In diesem Karton, in dem ich den ganzen Papierkram aufbewahrte, in dem die Erbschaftssachen geregelt wurden. Alles, was ihr gehört hatte und vorher meinen Eltern, und nun meins geworden war.
Die Papiere existierten noch. Ich grub in dem Karton, bis ich die alte Akte fand.
Darin fand ich einen stornierten Scheck – den hatte ich benutzt, um das Geld vom Konto meiner Großmutter auf meins zu überweisen.
Ich nahm den Scheck mit zum Computer, las die Ziffern ab, überprüfte sie noch einmal.
Das Blatt zitterte in meiner Hand. Ja, ja, sie passten zusammen. Das war die Bank. Eine Zweigstelle in Littleport.
Aber ich musste weiter hinsehen. Hin und her. Der Bildschirm. Das Scheckbuch. Zurück zum Bildschirm.
Ich beugte mich näher heran, hielt den Atem an. Las zweimal.
Es war nicht nur die Bankleitzahl, die übereinstimmte. Es war auch das Konto. Eine der Kontonummern, eine der Empfängerinnen dieses Geldes – war meine Großmutter.
Das Zimmer drehte sich.
»Warte.« Ich sagte das laut, auch wenn ich nicht wusste, mit wem ich sprach. Warte.
Einfach.
Jede Familie hat Geheimnisse, Avery.
Genau die Worte hatte Connor letzte Nacht gesagt, aber ich hatte nie an meine eigene gedacht.
Ericas Worte in meinem Wohnzimmer – dass Sadie mich
namentlich verlangt hatte. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass das stimmen könnte. Hatte nie darüber nachgedacht, was sie überhaupt an mir interessiert haben könnte.
Doch da war es.
Ich stieß mich vom Tisch ab, stellte mir die Szene noch einmal vor. Das Badezimmer. Sadie, die sich umdrehte und mich dort fand. Die Röte, die ihr den Hals hinaufstieg.
Hatte sie die ganze Zeit gewusst, dass ich da drin war?
Das Abrutschen des Messers. Das Klopapier, auf das Blut gepresst.
Tu dir nicht weh.
Sie hatte das so deutlich gesagt, so ernst, als ich zu nah am Abgrund stand.
Als hätte sie es von Anfang an gewusst.
Sie hatte mich in der Küche ihres Hauses gesehen. War mir gefolgt. Hatte gesehen, was ich getan hatte.
Später hatte sie das Tagebuch gefunden, und danach kannte sie die Dinge, von denen ich träumte und die ich fürchtete. Hatte es alles selbst geheim gehalten.
Was wollte
sie mit mir? Wusste sie, dass ich einmal in ihr Haus geschlichen war, damals mit Faith und Connor?
Oder dass ich von Connors Boot aus geschaut, in diese großen Porträtfenster gestarrt hatte – dass ich ihr Leben, ihren Körper bewohnen wollte?
Danach hatte sie mich am Strand aufgespürt, mich eingeladen. In ihr Haus, in ihr Leben. Mich willkommen geheißen …
Oder. Oder.
Etwas, was ihr gehörte. Oh. Oh, nein. Nein, Sadie.
Mich zum Essen mitgebracht, die Gesichter ihrer Eltern beobachtet, die steifen Gesichtsausdrücke. Ihr argloses Lächeln. Seht ihr mich jetzt?
Eine traurige Geschichte, die man teilen konnte: Sieh nur, was aus diesem Mädchen geworden ist. Keine Familie, keinen
Ort zum Leben. Wollt ihr nicht helfen? Grants Stimme, als sie mir das Gästehaus anboten: Es ist richtig, das zu tun.
Das Tattoo auf meinem Körper, das gleiche wie ihres, die Form eines S
– ich habe dich gefunden, und du gehörst hierher, zu mir.
Tu’s nicht,
sagte sie, als ihr Bruder vorbeiging.
Sie glaubte, ich war das Geheimnis. Und, wie es die Einheimischen tratschten, pflanzte sie mich geradewegs in die Öffentlichkeit. Guckt, was ich gefunden habe. Guckt, was ich getan habe.
Sie hatte geglaubt, ich sei eine Loman.