Die Plus-One-Party
22 Uhr 30
Die Bedrohung durch die Polizei war inzwischen eine ferne, vom Alkohol getrübte Erinnerung. So unwichtig wie der Stromausfall oder der Sturz in den Pool oder deine bei einem Spiel an der Kücheninsel vor allen enthüllten Geheimnisse. Die zweite Runde hatte begonnen.
Ich war gespannt, was Parker nach der Szene oben wohl tun würde – als Luce überschäumend vor Wut aus dem Zimmer gestürzt war.
Parker spielte das Spiel nie mit, wurde mir bewusst. Ließ nie zu, dass seine Geheimnisse offenbart wurden, sodass alle sie hören konnten. In all den Jahren, die ich ihn kannte, nicht. Immer zu beschäftigt damit, von einer Person zur nächsten zu springen.
Oder vielleicht hatten wir anderen alle Angst vor ihm. Davor, was er tun würde. Es gab genug Gerüchte über seine Vergangenheit, seine rastlosen Teenagerjahre. Wie er in Schlägereien geraten war – jedenfalls hatte Sadie das behauptet. Er hatte diese Narbe und so ein Feuer in den Augen, das, anders als bei mir, seine Anziehungskraft nur noch steigerte. Es loderte immer noch, irgendwo in seinem Kern.
Parker kam schließlich um die Ecke aus der Eingangshalle, allein. Er sah mich, wie ich ihn beobachtete, und blieb stehen. Dann änderte er seine Richtung und stellte sich neben mich in
den Eingang zur Küche, seine Hände rastlos ohne einen Drink, den sie hätten halten können. Er ließ seine Knöchel einen nach dem anderen knacken. Ich stellte sie mir als Faust vor.
»Was ist da oben passiert?«, fragte ich und nickte in Richtung Eingangshalle, wo die Treppe gerade außerhalb unserer Sichtweite nach oben führte.
Er suchte mit den Augen den Raum ab und ignorierte die Frage. »Wo ist sie?« Das hier war nicht die Art von Ort, wo man ein Taxi oder eine Uber-Mitfahrgelegenheit anrufen und nach Hause fahren konnte. Luce steckte hier fest.
Parker ging weg von mir, mischte sich unters Volk.
»Parker«, sagte ich, laut genug, um seine Aufmerksamkeit zu erregen – kurz davor, eine Szene zu machen. »Was zum Teufel ist passiert? Da war doch was. Ich hab euch beide gehört.«
Er sah mich erstaunt an, seine Augen blitzten, die Narbe durch seine Augenbraue reflektierte das Licht von oben. »Sie ist betrunken. Sie wird sich schon wieder abregen.«
Als würde eine heiße, kochende Wut in uns allen brodeln. Ich lachte. »Ich soll also glauben, dass Luce – Luce
– Schuld hat?«
Ich versuchte, es vor mir zu sehen. Luce in hochhackigen Schuhen, die etwas an die Wand warf. Oder auf ihn zustürmte, ihn schubste. Luce, außer Kontrolle.
Er atmete langsam ein. »Glaub, was du willst. Mir egal.« Als hätten meine Gedanken keine Bedeutung. Weil seine Geschichte die entscheidende war.
Ich entdeckte sie durch die Glastüren auf der Terrasse, sie saß auf einem Stuhl neben dem Pool, das Licht der Unterwasserlampen ließ ihre Haut krankhaft bleich wirken. Die Schuhe hatte sie weggekickt, die Füße zu sich rangezogen. Parker schien sie gleichzeitig zu bemerken. Er ging los, aber ich griff nach seinem Ellbogen. »Hat sie es gesehen?«, fragte ich. Und meinte uns. Im Bad
.
Parker verzog das Gesicht. »Was
soll sie gesehen haben?«, fragte er, als sei es mir nicht erlaubt, Dinge zu erwähnen, die in der Vergangenheit passiert waren. Als sei es an ihm zu entscheiden, ob etwas existierte oder nicht; als ginge die Geschichte seines Lebens niemanden etwas an außer ihn selbst, und er konnte sie löschen, wie er wollte.
»Nichts.« Denn es war
nichts. Mit Luce in Littleport, mit Sadie hier könnte so ein Moment mit Parker nie geschehen.
Vielleicht war das mein Fehler gewesen. Vielleicht war alles, was ich Sadie wegen Connor hätte sagen müssen Tu’s nicht
. Aber wer könnte ihr so etwas sagen?
Sadie Loman zu sein hieß, genau das zu tun, was man wollte. Wenn es Sadie gewesen wäre, die Faith geschubst hätte, zugesehen hätte, wie sie zu Boden fiel, den Arm ungeschickt vorgestreckt, um den Aufprall zu stoppen – würde alles vergeben werden. Wenn ich diejenige gewesen wäre, die Geld von der Firma der Lomans gestohlen hätte, wäre ich sofort aus ihrer Welt verstoßen worden. Aber sie nicht. Ihr wurde nur ein neuer Job gegeben. Ein besserer. Und was war mit dem Geld passiert? Wer weiß. Sie hatte es vermutlich ausgegeben.
Sie nahm sich, was sie wollte, und tat, was sie wollte – das taten sie alle. Parker, Grant, Bianca, Sadie. Leben wie die Breakers, über alles hinwegblicken.
Die Menge um mich bewegte sich weiter, verschwommene Gesichter, Schweiß und Hitze, das Prickeln in meinem Nacken – dieses Gefühl, hier rauszumüssen. Aber ich hatte keine Ahnung, wo ich hinsollte.
Wie lange hatte ich vollkommen stillgehalten, zugesehen, wie sich das Leben der anderen um mich herum abspielte? Mich an eine Wand gelehnt, getrunken, was vom Whiskey der Lomans übrig war?
Das Haus der Lomans, die Regeln der Lomans, die Welt der Lomans
.
Wie in Connors Boot zu sitzen und von draußen reinzusehen. Egal, wie nah ich kam, ich blieb doch immer die, die zusah.
Da war Parker, der Luce etwas ins Ohr flüsterte, neben sie gekauert, während sie in einem Liegestuhl am Poolrand saß. Den Blick irgendwo in die Ferne gerichtet.
Da waren Ellie Arnold und ihre Freundinnen in einer Ecke des Arbeitszimmers auf dem Boden, im Schneidersitz, wie eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten – Mädchen auf einer Übernachtungsparty wie Faith und ich sie früher gefeiert haben, der Rest der Welt ohne Bedeutung.
Ich brauchte einen Moment, bis ich merkte, dass eins der Mädchen in der Gruppe ohnmächtig war, ihr Kopf fiel nach hinten gegen die Wand, und ihre Freundinnen waren hier bei ihr geblieben. Eine große Salatschüssel stand neben ihr – für den Fall, dass sie sich übergeben musste wahrscheinlich. Ellie legte dem Mädchen einen nassen Waschlappen auf die Stirn, und ich sah weg.
Da war Greg Randolph auf dem Sofa, den Arm um ein Mädchen gelegt, das aussah wie gerade erst achtzehn, ihr Blick war ihm zugewandt, als wäre er alles, was man kennen musste.
Und dann war da Connor, der gerade den Raum durchquerte, auf dem Weg zur Tür, sein Telefon in der Hand.
»Connor«, rief ich, bevor ich mich eines Besseren besinnen konnte. Als er sich umdrehte, sah ich ihn, wie Sadie ihn vielleicht gesehen hatte, ohne die Schichten und Jahre, die zwischen uns geraten waren. Ich sah ihn wie ein Mädchen, das vom Balkon des Harbour Club schaute, einem Mann zusah, der von seinem Boot stieg, souverän und ganz er selbst. Ein Mann, der sich genau gleich verhielt, ob ihm nun jemand zusah oder nicht. Etwas sehr Seltenes.
Es war ihm egal, wer Sadie war, wer sie alle waren. Aber er war jemand, den sie kannte, der einmal mir gehört hatte. Das
Einzige, was hier noch übrig war, das immer noch mir gehörte, nur mir allein. Und da wusste ich, sie musste ihn haben.
Ich stieß mich von der Wand ab, erwischte ihn an der Eingangstür. »Geh noch nicht«, sagte ich.
Er neigte den Kopf zur Seite, sagte aber nicht Nein. Wir hatten eine gemeinsame Geschichte, ich kannte seine Schwächen, genau wie er meine. Connor glaubte an ein lineares Leben. Er wusste schon, was er tun würde, als er noch ein Kind war: Er würde die Schule beenden, er würde in den Sommern für seinen Vater arbeiten und für jeden Fischer, der noch einen zweiten Deckarbeiter suchte. Er würde sich in ein Mädchen verlieben, das er schon sein ganzes Leben kannte und sie sich in ihn, so wie es auch seine Eltern getan hatten.
Als sein Leben vom Kurs abkam, war er nicht darauf vorbereitet gewesen.
Ich lächelte, wie ich es schon einmal getan hatte, als er mich nach hinten gebogen und am Lagerfeuer geküsst hatte, vor unseren Freunden – sein Mund, ein Grinsen.
Ich wusste, genau wie er das damals gewusst hatte: Solche Dinge erforderten ein forsches Herangehen. Ich in dieser Menschenmenge – vor Parker Loman und seiner ganzen Welt – flüsterte Connor etwas ins Ohr, bat ihn, mir den Flur entlang zu folgen.
Meine Hand wanderte seinen Arm hinunter, bis meine Finger sich mit seinen verschränkten, er widerstand nicht. Ich ging langsam, falls jemand zusehen wollte. Falls Greg Randolph sich auf dem Sofa umdrehen, eine Augenbraue heben und sagen würde, Das ist der Typ, mit dem ich Sadie gesehen habe.
Aber niemand tat das, und es war mir auch egal. Ich war high von dem Wissen, dass er mich noch immer wollte, auch nach all der Zeit.
Im unteren Schlafzimmer war es dunkel, und ich schloss ab. Sagte nichts aus Angst, dass es die Trance durchbrechen würde
.
Ich zog sein Gesicht zu mir, doch der Kuss überraschte mich doch. Ich schmeckte den Alkohol an ihm. Er folgte mir geschmeidig, als ich ihm das Shirt über den Kopf zog. Wie mühelos ich mich wieder in sein Leben gleiten lassen konnte. Die Macht, die ich hatte – dass ich den Kurs von allem, was folgte, ändern konnte.
Aber er war derjenige, der mich zum Bett führte. Der mir ins Ohr flüsterte – Hi
–, als hätte er die ganze Zeit gewartet, das zu sagen.
In der Dunkelheit war ich mir nicht sicher, ob er sich mich oder Sadie vorstellte, doch es spielte keine Rolle. Seine Finger direkt über meiner Hüfte strichen über ein Tattoo, das er nicht sehen konnte.
Nichts hält ewig.
Alles ist vorrübergehend. Du und ich und das hier.
Connor war nicht mehr der Connor, den ich kannte – und ich war auch nicht mehr dieselbe. Sechs Jahre waren vergangen, und wir waren etwas Neues geworden. Sechs Jahre mit neuen Erfahrungen, gelebtem Leben und Lernen. Sechs Jahre, um die Person, die man werden würde, zu schärfen. Aber da waren Schatten der Person, die ich kannte: In dem Arm um meine Taille, mit dem er mich an sich drückte. Und in seinen Fingern, mit denen er hinterher sachte auf meine Haut klopfte, bevor seine Hand ruhig wurde.
Keiner von uns sprach. Wir lagen da, Seite an Seite, bis ein Geräusch von draußen im Flur uns beide hochschrecken ließ. Eine Hand am verschlossenen Türgriff. Ich saß senkrecht.
»Avery …«, sagte er, aber ich stand auf, sammelte meine Kleider ein, um die Entschuldigung nicht zu hören. Ich ging geradewegs in das angrenzende Bad, damit ich das Bedauern auf seinem Gesicht nicht sehen musste. Stand im Bad, das immer noch feucht war von vorhin, als ich das Handtuchchaos und das Wasser zusammen mit Parker beseitigt hatte
.
Ich wartete, bis Connor genug Zeit gehabt hatte, sich umzuziehen und zu gehen. Er klopfte einmal an die Badezimmertür, aber ich antwortete nicht. Ich stellte die Dusche an, tat so, als hörte ich nichts. Starrte weiter in den Spiegel, versuchte durch den Nebel die Person zu sehen, die aus mir geworden war.
Als ich schließlich rauskam, war er weg. Ich wusste nicht, wohin er danach verschwunden war. Konnte ihn im Meer der Gesichter im Wohnzimmer, die alle vor meinen Augen verschwammen, nicht finden.
Ich stellte mir vor, wie er zurückfuhr, um Sadie zu treffen, es ihr sagte, ich stellte mir vor, wie sie herausfand, was ich getan hatte. Was ich sagen würde: Du hast mir nie gesagt, dass du mit ihm zusammen bist. Tut mir leid
, ein Schulterzucken, wusste ich nicht
. Oder: Ich war betrunken
– mich freisprechend. Er hat sich nicht beschwert
– um ihr wehzutun. Oder die Wahrheit: Connor Harlow ist nicht für dich.
Was ich schon vor Langem hätte sagen sollen: Tu’s nicht.
Vergiss nicht, dass ich einst mein eigenes Leben Stück für Stück und bis auf den Grund niedergebrannt habe. Glaub nicht, ich würde es nicht wieder tun.
Beim zweiten Mal ist alles leichter.
Da, als ich gerade in meinem Kopf dieses Gespräch führte – all die Dinge, die ich ihr sagen würde, fest entschlossen –, fing Parker meinen Blick auf und neigte den Kopf in Richtung Vordertür. Warnte mich.
Zwei Männer in der offenen Tür, Mützen in den Händen.
Die Polizei war doch noch gekommen.