Kapitel 21
Ich rannte im Wohnzimmer des Sea Rose im Kreis, mein Handy am Ohr. All die Informationen wollten sich ihren Platz erkämpfen. Das Konto meiner Großmutter. Sogar wie Sadie und ich uns kennengelernt hatten. Alles verschob sich.
Bei Connor klingelte es immer wieder, ich legte auf, kurz bevor die Mailbox ansprang. Er würde jetzt arbeiten, auch wenn Sonntag war. Die Leute müssen essen. Das hatte er immer gesagt, als wir jünger waren, wenn mich seine Arbeitszeiten nervten, und dass er sich stets daran hielt.
Das Meer war eine Sucht für ihn – ein Zittern, das durch ihn hindurchrollte wie der erste Schluck Alkohol in der Blutbahn.
Ich schloss die Tür zum Sea Rose ab, als ich ging, aber den USB-Stick nahm ich mit, ich hatte Angst, ihn aus der Hand zu legen. So nah hatte ich mich Sadie seit ihrem Tod nicht gefühlt. Meine Schritte verfolgten ihre Wege zurück, meine Hände da, wo ihre gewesen waren. Meine Gedanken versuchten mitzuhalten.
Die Geheimnisse, die sie nie mit mir geteilt hatte – bei diesem hier hatte sie jedoch falschgelegen. Wenn sie gefragt hätte, ich hätte es ihr gesagt: Ich war keine Loman.
Ich hätte erklärt, dass ich aussah wie meine Mutter, ja, das dunkle Haar und die olivfarbene Haut, aber die Augen hatte ich von meinem Vater. Dass meine Mutter hier angehalten und Wurzeln geschlagen hatte, nicht wegen der Dinge, denen sie nachgejagt war, wie sie behauptete, sondern weil sie einen Typen getroffen hatte, einen Lehrer, der es so ernst meinte mit seinen Ansichten, sich so sicher war, dass dies der Ort war, wo er hingehörte, und er tat, was ihm zu tun bestimmt war. Und seine Ernsthaftigkeit hatte bewirkt, dass sie ihre Deckung fallen ließ, die Welt durch seine Augen sah: Nichts passierte, was nicht geplant war – und dann war sie schwanger mit mir.
Es war keine perfekte Ehe, kein perfektes Leben. Es war immer da, in den unausgesprochenen Teilen jedes Streits – der Grund, warum sie geblieben war. Das Leben, das sie führte, und das, wonach sie immer noch zu suchen schien.
Die letzten vierzehn Jahre ihres Lebens hatte sie meinem Vater und Littleport und mir geschenkt. Sie hatten kein Geld, das wusste ich, denn es kam in ihren Streits vor, laut ausgesprochen. Die Grenze zwischen Kunst und Kommerz. Die Nebengeschäfte. Meine Mom arbeitete in der Galerie, in der ihre Bilder hingen, verdiente mehr hinter der Kasse als hinter der Staffelei.
Ich erinnerte mich, wie mein Dad mich einmal im Sommer, als ich noch klein war, auf seinem Weg zum Unterricht in der Galerie abgesetzt hatte. Meine Mom stand hinter dem Tresen, und sie schien überrascht, uns da zu sehen. Du hättest doch längst zu Hause sein sollen , sagte er. Ihr Gesicht war verkniffen, verwirrt. Wir könnten die Überstunden gebrauchen , antwortete sie. Dann als sie zu mir hinuntersah, entglitten ihr die Gesichtszüge, Tut mir leid, ich hab’s vergessen.
Es kam kein Schweigegeld rein. Es gab keinen Schattenmann, der Druck ausübte.
Es gab nur mich, ich lief frei herum im Wald hinter unserem Haus, lernte schwimmen gegen einen kalten Strom, mit der Salzwasserboje. Mit dem Schlitten raste ich kopfüber den Harbour Drive entlang, bevor der Schneeflug kam, in dem Glauben, dass diese Welt meine war, meine, meine.
Meine Art, die Welt zu sehen, war zur Enttäuschung meiner Mutter immer mehr wie die meines Vaters gewesen – pragmatisch und unerschütterlich. Deshalb war ich auch so sicher, dass Sadie ihr gefallen hätte. Da war jemand, der mich ansehen und etwas anderes, etwas Neues sehen konnte.
Erst jetzt verstand ich, was Sadie zu sehen geglaubt hatte bei diesem allerersten Mal.
Sechs Jahre lang glaubte sie zu wissen, wer ich war. Führte mich im Haus vor, ärgerte ihre Eltern damit, betrachtete mich als ihr Eigentum. Ein Schlag gegen ihre Mutter; ein Machtbeweis gegenüber ihrem Vater. Sechs Jahre, und schließlich fand sie die Wahrheit heraus.
Zu Beginn ihres letzten Sommers hatte sie zwei von diesen frei verkäuflichen DNA-Test-Kits gekauft, mit denen du deine Abstammung testen und außerdem nach ein paar vorbestehenden Krankheiten suchen konntest. Nur um sicher zu sein , hatte sie gesagt. Danach wird es uns so viel besser gehen. Wer weiß, vielleicht haben wir lange verlorene gemeinsame Verwandte.
Ich zögerte. Sosehr es mir auch gefiel, die Dinge Schritt für Schritt vorwärts und rückwärts zu durchdringen, ich wusste nicht, ob ich so etwas kommen sehen wollte. Etwas nicht zu Behandelndes, eine Unvermeidlichkeit, die zu stoppen ich keine Chance hatte. Aber wie sollte ich Nein sagen zu Sadie, die mir gegenüber auf dem Bett in meinem Haus saß, das eigentlich ihr Haus war, eigentlich ihr Bett? Ich spuckte in ein Teströhrchen, bis mein Mund trocken war und mein Hals brannte. Übergab ihr den innersten Kern meines Selbst.
Es dauerte mehr als einen Monat, bis die Ergebnisse kamen, und da hatte ich das Ganze schon fast vergessen. Bis sie hereinplatzte und mir sagte, ich solle meine E-Mails lesen. Gute Neuigkeiten, ich werde nicht sterben. Zumindest nicht an einer dieser achtzehn Krankheiten , sagte sie. Und welche Überraschung, ich bin sehr, sehr Irisch. Falls mein Sonnenbrand dich etwas anderes hat glauben lassen .
Sie sah mir über die Schulter, als ich nachguckte, zeigte mir dann, wie sie ihre Infos in die Abstammungsdatenbank eingegeben hatte. Vielleicht sind wir ja entfernte Cousinen , sagte sie. Wartete, hielt den Atem an, während ich das Gleiche tat.
Wir waren es nicht.
Ich sah die Spiegelung ihres Gesichts auf meinem Laptopbildschirm, ihre Augenbrauen, die sich zusammenzogen, die nach unten sinkenden Mundwinkel. Aber ich war zu beschäftigt mit der Tatsache, dass mein Familienstammbaum sich plötzlich verzweigte. Von den Verwandten, die ich kannte, war ich die einzige Verbliebene. Meine Mutter hatte den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen, bevor ich geboren worden war, und sie waren nicht einmal zu ihrer Beerdigung gekommen. Aber hier sah ich etwas Neues ausgebreitet vor mir – das Band des Blutes, das mich mit einer Welt von Leuten da draußen verband, von denen ich nie gewusst hatte, dass sie existierten.
Damals hatte ich nicht gemerkt, dass Sadie etwas anderes erwartet hatte. Sie wollte, dass ich die Wahrheit erfahre, und dies war ihr Weg gewesen, sie mir zu zeigen. Danach würde es kein Zurück geben. Keine Geheimnisse mehr. Alles und alle entlarvt.
Aber sie hatte falschgelegen.
Ich konnte die Zahlung an meine Großmutter mit nichts in Verbindung bringen, das Sinn ergab. Und es gab eine zweite Zahlung an jemanden, der die gleiche Bank benutzte.
Im Sommer nach ihrem ersten Collegejahr hatte Sadie ein Praktikum bei ihrem Vater gemacht – da hatte ich sie kennengelernt. Sie hatte in seinem Büro gearbeitet, mit seinen Konten. War sie darüber gestolpert und hatte mich deshalb gefunden?
Was hatte sie verstanden, als ihr klar wurde, dass sie doch unrecht gehabt hatte ?
Der Harbor Drive brummte vor morgendlicher Aktivität. Es war der letzte Sonntag vor dem Labor-Day-Wochenende – und so lange, wie ich brauchte, um einen Parkplatz zu finden, hätte ich vom Sea Rose aus auch zu Fuß gehen können.
Die Straßen waren voll, und es fühlte sich alles vage unbekannt an. Immer wieder andere Gesichter, Woche für Woche. Ich schlängelte mich durch die Menschenmassen auf den Gehwegen, lief Richtung Hafen, sah aber plötzlich eine vertraute Gestalt, die auf der anderen Seite mitten in all der Geschäftigkeit still stand. Dunkle Hose und Hemd, Sonnenbrille, die Füße hüftbreit auseinander, den Kopf langsam vor und zurückbewegend – Detective Collins war da.
Ich holte tief Luft und tauchte im ersten Laden zu meiner Rechten unter. Die Glocke über mir klingelte, und ich fand mich am Ende der langen geschwungenen Schlange in der Hafenbohne wieder – dem Lieblingscafé sowohl der Einheimischen als auch der Touristen. Im Herbst veränderten sich die Öffnungszeiten und die Preise. Im Moment war es mehr ein Ort für die Besucher. Niemand von uns wollte mehr für etwas bezahlen, als es wert war.
Ich sah unauffällig über meine Schulter, während die Schlange sich weiterbewegte, doch ich hatte den Detective durch das Ladenfenster aus den Augen verloren. Zu viele Leute gingen vorbei, zu viele Stimmen, zu viel Bewegung. »Die Nächste?«
»Kaffee«, antwortete ich, und der Teenager hinter dem Tresen hob eine Augenbraue. Er zeigte mit dem Kopf auf die Karte an der Tafel hinter ihm, aber die Schrift verschwamm vor meinen Augen. »Mir egal«, sagte ich. »Einfach irgendwas mit Koffein.«
»Name?«, fragte er, den Stift über einem Styroporbecher gezückt.
»Avery. «
Seine Hand schwebte eine Sekunde, bevor er weiterschrieb, und ich fragte mich, ob er etwas gehört hatte. Etwas wusste.
»Ach, hey, hallo!«, sagte eine Frauenstimme von einem Tisch neben der Backsteinwand. Es war Ellie Arnold, lächelnd, als seien wir Freundinnen. Ihr gegenüber Greg Randolph, grinsend wie über einen Witz. Mit dem Rücken zu mir saß ein dritter Mann.
Der Teenager gab mir meine Kreditkarte, und der dritte Mann stand auf, als ich näher kam. Und dann verstand ich: Es war Parker Loman mit einem leeren Becher in der Hand.
»Avery«, sagte er und ging an mir vorbei. Als wäre ich abgehakt. Als wäre ich nur jemand, der auf seinem Besitz erwischt worden war und dort nichts zu suchen hatte; als wäre ich nicht die beste Freundin seiner Schwester gewesen, hätte nicht jahrelang mit ihm zusammengearbeitet; als hätte er mich nicht vor zwei Nächten geküsst.
Das war eine Gabe der ganzen Familie, die Geschichte zu erschaffen und dann zu besitzen. Sadie selbst, die mich bei den Breakers willkommen geheißen hatte. Und nun Parker, der wahrscheinlich diese neue Geschichte über mich verbreitete. Ich fragte mich, ob jeder an dem Tisch, hinter dem Tresen, draußen am Hafen, wusste, dass ich gerade, vor einer Stunde, gefeuert worden war.
Und dennoch tat er mir fast leid, wenn ich daran dachte, was sein eigener Vater über ihn sagte. Parker wurde der Chance beraubt, etwas wirklich unbedingt zu wollen.
Ehrgeiz hatte nicht nur mit der Arbeit zu tun. Ehrgeiz, so glaubte ich, war eine Art Verzweiflung, etwas, was Panik näherkam. Wie ein schlummernder Schalter tief innen, der nur in der Not gewaltsam geweckt wurde. Etwas, gegen das man sich wehrte, bis es einen schließlich gefangen nahm.
»Hier, setz dich doch.« Greg Randolph schob Parkers jetzt leeren Stuhl mit dem Fuß zu mir herüber, das Metall kratzte über den Beton. Ich setzte mich auf die Kante und wartete auf meinen Kaffee. »Wie ist es dir ergangen?«, fragte er, das Grinsen immer noch wie festgetackert. »Ich meine, seit Freitag.«
Der Teenager hinter dem Tresen rief meinen Namen, und ich entschuldigte mich, um mein Getränk zu holen. Es war etwas mit Karamell Vermischtes, dampfend heiß, und ein Gewürz, das ich nicht einordnen konnte. Als ich mich wieder setzte, ignorierte ich seine letzte Frage.
Greg nickte Ellie zu. »Wir sprachen gerade über die Party übernächste Woche. Kommst du auch nach Hawks Ridge?« Er neigte den Kopf zur Seite, und ich nahm einen Schluck. Die Plus-One-Party fand also wohl dieses Jahr bei ihm statt. Hawks Ridge. Eine Gruppe exklusiver Anwesen auf einer Anhöhe in den Bergen mit entferntem Blick aufs Meer.
»Wahrscheinlich nicht«, sagte ich.
»Oh, komm schon«, sagte er und seufzte falsch. Ich wusste, warum ich erwünscht war. Wegen des Dramas, wegen der Szene, damit jemand sagen könnte: Guck mal, Avery Greer, kannst du es fassen, dass sie sich hier blicken lässt? Damit irgendwer mich mit einem Schnaps in die Ecke drängen und behaupten könnte: Ich kenne ein Geheimnis über dich.
»Es wird nicht dasselbe sein«, fuhr Greg fort und stopfte sich das letzte Stück schmierigen Muffin in den Mund. »Erst Ellie und jetzt du«, fügte er hinzu, während er noch kaute.
»Du gehst auch nicht?« Ich wandte mich überrascht an Ellie.
Sie schüttelte den Kopf, sah auf den Tisch hinunter, drückte ihren Zeigefinger auf einen Krümel und ließ ihn auf ihren Teller fallen. »Nicht nach dem letzten Jahr.«
Sadie , dachte ich. Endlich jemand, der ein Gespür dafür hatte, wie geschmacklos das war. Ein weiteres Jahr, eine weitere Party, als hätte sich rein gar nichts geändert .
Niemand sonst schien die Wahrheit zu erkennen: dass einer von ihnen Sadie etwas angetan hatte.
»Es war ein Unfall, meine Liebe«, sagte Greg leise zu Ellie. »Und ich habe einen Notstromgenerator. Der Strom wird da oben nicht ausfallen.«
»Warte mal. Du willst dieses Jahr nicht gehen, weil du in den Pool gefallen bist?«, fragte ich sie.
Sie warf mir einen Blick zu, hart und böse. »Ich bin nicht gefallen . Jemand hat mich gestoßen .« Sie war wütend darüber, dass ich anscheinend ihre Version der Geschichte vergessen hatte, und das hatte ich auch. Letztes Jahr hatte ich gedacht, sie hätte überreagiert, wollte Aufmerksamkeit wie Sadie schon angedeutet hatte. Aber nichts an dieser Nacht war, wie es schien.
»Tut mir leid«, sagte ich.
Aber noch nicht einmal Greg Randolph ging darauf ein. Er grinste, als er den Becher an die Lippen hob. »Hat dich wahrscheinlich im Dunkeln aus Versehen angestoßen.« Und dann mit einem Pseudoflüstern zu mir: »Sie hatte ganz schön was getrunken, wenn ich mich recht erinnere.«
»Fick dich, Greg«, sagte sie. »Ich weiß das ja wohl noch.«
Da veränderte sich alles. Meine Erinnerung an diese Nacht: Die Lichter, die ausgingen, der Stromausfall. Unruhe. Ein Schrei.
Ist in dem Chaos jemand gegangen? Ist jemand zurückgekommen?
Abrupt stieß ich mich vom Tisch ab. »Ich muss los.« Ich musste mit jemand anderem reden, der dort gewesen war, alle gesehen hatte. Vielleicht Connor. Obwohl er diese ganzen Feinheiten nicht verstand. Die Besonderheiten der Loman-Welt.
Doch da war noch jemand. Eine Person, die dort gewesen war und alles gesehen hatte. Sie war gefährlich, dachte ich, weil sie etwas bemerkt hatte.
Und sie war nach alldem nicht zurückgekommen.