Kapitel 22
Sadie hatte mal gesagt, sie wisse nie, wem sie trauen könne. Ob die Leute nur wegen ihrer Stellung mit ihr befreundet sein wollten. Ob sie sich zu dem Mädchen oder dem Namen hingezogen fühlten. Dieses Leben, das ich von außerhalb Littleports beobachtet hatte. Wie ein Versprechen.
Sie hatte mal einen Jungen geliebt, auf dem Internat. In diesem ersten Sommer erzählte sie mir von ihm. Aber er lebte im Ausland, und nach dem Abschluss hatten sie sich getrennt; er ist nicht zu ihr zurückgekommen. Ich hörte andere Namen über die Jahre, während des Colleges. Aber nie mehr hatte sie diesen Glanz in ihren Augen, den Glauben daran, dass sie liebte und geliebt wurde.
Ich habe Glück, dass ich dich gefunden habe , hatte sie am Ende dieses ersten Sommers gesagt.
Ich fand, dass ich diejenige war, die Glück hatte. Eine Münze in die Luft geworfen, eine von Hunderten, von Tausenden, und ich war am nächsten dran an ihrem Zuhause gelandet. Ich war die, die sie aufgesammelt hatte, als sie eine brauchte.
Wie viel Glück ich doch hatte, dieses Mädchen zu finden, das mich ansah, als sei ich eine andere als die, die ich immer gewesen war. Die mir am Geburtstag ein Geschenk schickte oder einfach so. Die anrief, sogar wenn noch andere Leute bei ihr waren oder auch spät in der Nacht, wenn ich nur die Stille und ihre Stimme hörte. Die sich mir anvertraute und meine Meinung wissen wollte – Was halten wir davon ?
Sie war meine Familie geworden. Eine stetige Erinnerung, dass ich nicht mehr länger allein war und sie auch nicht. Ich wusste es besser, als darauf zu vertrauen, dass etwas so Gutes dauerhaft sein könnte, aber mit ihr war es so leicht gewesen, das zu vergessen.
Jeden Sommer, Jahr für Jahr, war sie alles, was ich brauchte. Und dann kam Luciana Suarez.
Als ich mich zu der Familie draußen am Pool gesellte, die in dieser ersten Nacht auf den Sommer anstieß, bemerkte ich jedes Mal, wenn ich aufschaute, dass Luce mich ansah.
Sie erzählte mir, sie kenne Sadie und Parker schon seit Jahren, ihre Familien seien miteinander befreundet, seit sie Teenager waren, obwohl sie alle nicht zusammen zur Schule gegangen seien. Als wolle sie mich wissen lassen, dass ihre Beziehung mit den Lomans meine eigene überragte, schlicht wegen des Zeitfaktors.
Luce hatte gerade ihren Master gemacht, als sie am Anfang des Sommers zusammen mit den Lomans ankam. Sie hatte den Beginn ihres neuen Jobs bis Mitte September hinausgezögert. Sie würde sowieso umziehen, hatte sie gesagt. Aus dem Studentenwohnheim näher ans Krankenhaus heran, wo sie als Ergotherapeutin arbeiten würde.
Sie hatte mir alles erzählt, was ich wissen musste. Ich brauchte nur zehn Minuten, um die Mitarbeiterlisten verschiedener Krankenhäuser in Connecticut zu durchsuchen und auf ihren Namen zu stoßen – Luciana Suarez, Behandlungszeiten, Montag bis Freitag, 8 Uhr 30 bis 16 Uhr 30.
Ich suchte die Adresse des Krankenhauses heraus, fand ein Hotel in der Nähe, buchte mir das billigste Zimmer, das ich in einer Hotelkette, die ich kannte, bekommen konnte – alles von dem Fahrersitz meines Autos aus, das sich so beständig anfühlte wie jeder andere Ort.
Ich hielt noch nicht einmal am Sea Rose an, bevor ich Littleport verließ. Alles, was ich bei mir hatte, waren die Dinge in meiner Handtasche – der Zettel mit der Namensliste und den Kontonummern sowie Sadies USB-Stick. Die Kartons, die Taschen, meinen Laptop, die Schlüssel ließ ich zurück. Vielleicht war zu gehen sowieso das Beste.
Ich konnte mir vorstellen, wie jemand diese Dinge nächste Saison finden würde, falls ich nicht zurückkehrte. Sich fragte, was wohl mit mir passiert war. Die Gerüchte über das Mädchen, das von den Lomans besessen gewesen war. Sie musste etwas zu verbergen gehabt haben.
Auf die gleiche Weise hatten wir eine Geschichte über Sadie fabriziert – eine Person, die sterben wollte.
Dieser Gedanke brachte mich dazu, Connor noch einmal anzurufen – nur damit jemand Bescheid wusste –, aber es klingelte und klingelte. Ich überlegte erst noch, lieber keine Nachricht zu hinterlassen, denn ich wusste, wie das aussehen würde, aber die Anrufe hatten ja sowieso schon Spuren hinterlassen. Und Detective Collins hatte uns zusammen gesehen.
Es war nichts Verfängliches daran, der Wahrheit auf den Grund zu gehen.
»Hi. Ich hab dich heute Morgen am Hafen nicht gefunden, wollte dir aber Bescheid geben, dass ich Littleport verlasse.« Ich wusste nicht, wie viel mehr ich sagen sollte – über die Zahlungen und die Bankkonten auf dem USB-Stick in meiner Handtasche. Ich wusste nicht, ob ich meinen Instinkten oder ihm vertrauen sollte. Aber Connor kannte meine Großmutter. Er kannte meine Familie. Und er war immer, immer besser darin gewesen – noch einmal hinzuschauen und etwas Neues zu sehen. »Ich hab versucht herauszufinden, zu welcher Bank die Konten gehören.« Ich holte Luft. »Eins davon war das meiner Großmutter.«
Und dann fuhr ich aus Littleport heraus – durch die vollen Straßen des Ortszentrums, die nach oben und weg vom Hafen führten; sich durch die Berge wanden, das Pflaster wie Serpentinen in Teile geschnitten; vorbei an Hecken und kahlen Straßenrändern, mit nichts als Haschkneipen und Eisläden und Tankstellen mit nur einer Zapfsäule – bis zum Highway.
Ich fuhr nach Süden so wie alle, die den Ort verließen, saß fest im Verkehr zurück in die Städte bis wir auf die 95 stießen und die Straßen sich nach Portland öffneten, die Highways sich wie ein Spinnennetz in verschiedene Richtungen aufteilten.
Es war Dinnerzeit, als ich auf den Hotelparkplatz fuhr in einer Stadt, die wie jede andere aussah, durch die ich gekommen war. Connor hatte mir eine Nachricht hinterlassen, die ich mir noch im Auto anhörte, als könne sonst jemand lauschen.
»Bin gerade wieder am Hafen und hab deine Nachricht erhalten. Ruf mich zurück, wenn du das hörst. Egal wie spät.«
Das Hotelzimmer war einfach, ein schlichter Raum wie Tausende andere im ganzen Land. Ich hatte vergessen, wie in Littleport allem eine Erinnerung daran anhaftete, wo man gerade war, sogar den Motels die Küste hoch und runter, mit den Muscheln und den im Sand schwimmenden Kerzen. Hummerfallen, die zu Bänken und Kunst aufgemöbelt wurden. Netze und Bojen als Dekoration in den Lobbys und Restaurants sogar noch weiter im Inland. Hier gab es nichts als elfenbeinfarbene Wände und ein Standardblumenbild.
Vielleicht war das die Lösung. So lebte man ein Leben in wohltemperierter Sicherheit. Wo einen nichts verletzte, aber auch nicht begeisterte. Wo man nichts riskierte .
Ich nahm das hier – aus Littleport herauszutreten und wieder hineinzuschauen –, um mein Zuhause mit den Augen einer Fremden zu sehen. Um endlich ein Gespür für meine Mutter in meinem Alter zu kriegen. Nicht für das, was sie zum Bleiben bewegt, sondern was sie überhaupt hatte anhalten lassen.
In Littleport waren wir von den Extremen abhängig geworden. Egal, wo du dich wiederfandst, du passtest dich den Höhen oder den Tiefen an. Alles war vorrübergehend, und so war auch deine Stellung darin. Wir verstanden das. Es war immer da, in der Kraft des Meeres und dem Ansteigen der Berge. Im überfüllten Chaos des Sommers und der kahlen Einsamkeit des Winters. Die süßen Seerosen starben, die zarte Schneeschicht schmolz. Alles markierte eine Zeitspanne und darin eine neue Chance für dich.
Ich rief Connor zurück, sobald ich mich in meinem Zimmer eingerichtet hatte. Als er abnahm, hörte ich Geräusche im Hintergrund, als wäre er irgendwo draußen. »Ist es gerade schlecht?«
Die Geräusche entfernten sich. »Eine Sekunde«, sagte er. Ich hörte, wie eine Tür sich quietschend schloss.
»Bist du feiern?« Wie konnte er jetzt nur alles außer Acht lassen für eine Partynacht mit Freunden? Er hatte mir gesagt, ich solle aufhören zu suchen, und offensichtlich hatte er direkt weitergemacht mit seinem eigenen Leben.
»Nein, ich bin nicht feiern. Ich bin gerade nach Hause gekommen. In der Wohnung nebenan ist eine Party. Leute auf dem Flur.«
»Oh.« Ich wusste nicht einmal mehr, wo er wohnte.
»Hör mir zu.« Seine Stimme wurde leiser. »Dieser Detective war am Hafen, als ich ging, und dann auch, als ich wiederkam. Er war den ganzen Tag dort. Und er hat mich gefragt, ob ich dich gesehen habe.«
»Was hast du gesagt? «
»Was denkst du? Ich habe Nein gesagt. Aber er hat uns gestern gesehen und wollte wissen, was es damit auf sich hatte. Ich habe ihm gesagt, wir seien alte Freunde, haben Neuigkeiten ausgetauscht. Nichts, was ihn etwas anginge.«
Ich lehnte mich gegen das Kopfteil des Bettes, zog die Knie hoch und starrte mein Bild im Spiegel über der Kommode gegenüber an. »Er glaubt, es war jemand von der Party, Connor. Einer von uns. Und ich habe das Konto meiner Großmutter auf diesem USB-Stick gefunden, ich weiß nicht, was ich denken soll.«
»Wo bist du?«, fragte er.
»Connecticut. Ich will noch mit einer anderen Person sprechen, die auch die Lomans kennt.«
»Du hättest warten sollen. Ich wäre mitgekommen.«
»Connor«, sagte ich, denn wir mussten hier ehrlich miteinander sein. Nichts hielt ewig, und auch dies nicht. Eine Zweckallianz, weil wir festgestellt hatten, dass wir beide mit drinhingen. Aber wir würden uns wieder entzweien, sobald wir frei davon waren. »Ich bin hier, um mit Luciana Suarez zu sprechen. Es ist besser, wenn ich das allein tue. Du hast doch gesagt, dass sie gesehen hat, was in der Nacht auf der Party passiert ist, oder? Mit dem Fenster?«
Stille. Ich hörte etwas knacken. Sah vor mir, wie er den Kiefer hin und her schob, und plötzlich hielt ich die Luft an. Fragte mich, ob ich mein Vertrauen in den falschen Menschen gesetzt hatte, ob meine Instinkte trogen. »Lass mich wissen, was sie gesagt hat«, antwortete er schließlich. Seine Stimme leise und kühl.
»Natürlich«, sagte ich. Obwohl er, wenn er meine Tonlage so gut deuten konnte, wie ich seine, wissen würde, dass dies eine Lüge war.