Kapitel 25
Ich wartete auf der anderen Straßenseite, an die Seitenwand des Blue Robin gepresst, beobachtete das Haus. Versuchte zu verstehen. Faith war letztes Jahr auf der Party gewesen, hatte sich mit Parker gestritten. Jetzt war sie in einem der Loman-Häuser. Ich versuchte, diese Information mit der Vorstellung von dem Mädchen, das ich einmal gekannt hatte, in Einklang zu bringen.
Ich erinnerte mich an Connor, Faith und mich zusammen in dem leeren Loman-Haus. Wie sie die ganzen Schränke geöffnet und hineingespäht hatte – wir alle hatten dieses Leben, das nicht unseres war, genau unter die Lupe genommen. Detective Collins hatte recht – da gab es eine Person, die über die Jahre immer besessener geworden war. Die beobachtet und einen Riss gefunden hatte – einen Weg in dieses Leben. Nur dass nicht ich diejenige war.
Ich hatte keinen Fuß mehr ins Sunset Retreat gesetzt seit ich das Gasleck entdeckt hatte. So kurz danach war ich nicht sicher, ob es schon ungefährlich war.
Ich schlich über die Straße, hielt mich wenn möglich unter den Bäumen und stellte mich auf Zehenspitzen, um durch das vordere Fenster zu schauen. Hinter den luftigen Vorhängen fuhr Faith mit den Händen über die Oberflächen, öffnete die Schranktüren, so wie sie es all die Jahre getan hatte. Sie wirkte sowohl verändert als auch vertraut. Irgendwie kleiner, ja, wie Connor gesagt hatte – stiller in ihren Handlungen. Und doch dieselbe Faith, die dreist genug war, sich in ein Haus zu schleichen, das ihr nicht gehörte, im Ort durchzudrehen, als wäre sie Teil dessen, was er hervorbrachte. Jetzt unsichtbar, so wie es uns gelehrt worden war.
Ich beobachtete sie immer noch, als sie etwas von einem Schrank nahm. Ich musste meine Stirn an die Scheibe pressen, bevor ich verstand, was sie da tat – die Streichhölzer in einer Hand.
Nein. Nein . Ich hatte ihren Namen auf der Zunge, er steckte in meinem Hals. Das Drücken und Ziehen. Bleiben oder wegrennen. »Faith!«, rief ich, die Augen weit aufgerissen und tränend, aber sie sah nicht hoch.
Ich klopfte an die Scheibe, gerade als sie ein Streichholz anriss, aber es kam kein Funke. Da sah sie mich, doch ihr Gesicht veränderte sich nicht. Sie nahm noch ein Holz, und ich schlug wieder gegen das Fenster. »Stopp! Warte!« Ich konnte an nichts als den Gasgeruch denken.
Sie sah mir direkt in die Augen, als sie das Streichholz entzündete, und ich zuckte vor Schreck zusammen. Eine Flamme loderte auf, sie hielt das brennende Holz zwischen ihren Fingern, starrte in meine Richtung. Ich hielt die Luft an, die Schultern angespannt. Aber nichts passierte, als sie es langsam an eine Kerze hielt.
»Faith«, rief ich wieder, doch ich wusste, dass meine Stimme von der Scheibe gedämpft wurde, mein Gesicht weich und verschwommen aussah. Wieder schlug ich mit beiden Händen gegen das Glas. »Komm da raus.«
Sie hörte nicht zu, aber sie hielt mich auch nicht auf, als ich die Veranda hoch und ins Haus rannte. Ich stand im Türrahmen, die Hände zu Fäusten geballt, lehnte mich zurück – als könnte der zusätzliche Abstand mich schützen. »Puste sie aus«, sagte ich, aber sie stand nur da und sah mich an. »Hier ist Gas. War. Ein Gasleck … «
»Ich hab gehört, das wurde repariert«, sagte sie und blies das Streichholz aus. Die Kerze flackerte auf dem Tresen.
Ich stürzte an ihr vorbei, rannte praktisch quer durch das Zimmer und löschte selbst die Kerze. Meine Hände zitterten. »Es hätte eine Explosion geben können. Ein Feuer. Faith, du hättest …« Ich schüttelte den Kopf, hörte wieder Sadies Stimme. Die sämtliche Arten, auf die ich sterben könnte, aufzählte.
Faith blinzelte langsam, betrachtete mich. »Das Gas ist abgestellt worden. Es ist absolut sicher.«
Und dann standen wir uns gegenüber, zwischen uns der aufsteigende Rauch. Ihr Gesicht war kantiger – scharf geschnittene Nase, hohe Wangenknochen, ein spitzes Kinn. Die Jahre haben das herausgemeißelt, sie ernst und entschlossen gemacht.
»Hast du die Polizei gerufen?«, fragte sie ruhig, leise. Sie versuchte nicht wegzulaufen. Nun, da sie erwischt worden war, suchte sie nicht einmal Ausflüchte. Als hätte sie darauf gewartet, dass ich durch die Tür käme.
Aber ich war erschüttert, zu viel Adrenalin schoss durch meine Adern und konnte nirgendwohin. »Mein Gott, Faith, was machst du denn hier?«
Sie zuckte mit den Schultern, holte dann langsam und kontrolliert Luft. »Ich weiß nicht. Ich komm hier manchmal ganz gern her. Es ist friedlich. Eine ruhige Straße.«
»Du hast einen Schlüssel?«
Sie verdrehte die Augen. »Du sagst den Gästen immer, sie sollen die Schlüssel im Briefkasten lassen. Stundenlang kommt niemand. Nicht die beste Geschäftspraktik, Avery. Kannst du mir das vorwerfen? Es würde mich nicht wundern, wenn es noch andere gäbe. Du weißt doch, wie die Leute hier im Winter drauf sind.« Sie starrte mir direkt in die Augen, forderte mich heraus, das zu verneinen. Erinnerte mich daran, dass ich einmal eine von ihnen gewesen war, und sie wusste genau, was wir zusammen getan hatten .
Ich dachte an die anderen Häuser, die Zeichen, dass jemand darin gewesen war. Nicht nur das Gasleck hier, sondern der kaputte Fernsehbildschirm im Trail’s End; die Spuren im Blue Robin; die Kerzen, die überall im Sea Rose gebrannt hatten. Wie viele gab es noch? »Du hast auch andere Schlüssel nachmachen lassen, oder?«
Sie zuckte wieder mit den Schultern. »Klar, warum nicht?«
Ich machte die Küchenfenster auf, nur für alle Fälle. Für mich würde es hier immer gefährlich sein. »Ist es wegen Parker?«, fragte ich.
Ihre Augen wurden schmal, die Haut darum spannte sich. Sie biss sich auf die Lippen, schüttelte aber den Kopf. »Der kann mich mal.«
Also war sie immer noch wütend. Und jetzt in der Lage, etwas dagegen zu tun. »Ich weiß, dass du letztes Jahr da warst. Auf der Party. Du hast dich mit ihm gestritten.« Ich ging auf sie zu, um die Kücheninsel herum. »Ich weiß auch, dass du das Fenster zerbrochen hast.«
Faith machte einen Schritt zurück und legte sich automatisch die Hand auf ihren Ellbogen. Da war eine Narbe von der OP. Ich blieb stehen, und sie betrachtete mich wachsam.
»Ich war wütend«, sagte sie und starrte mich an, ohne zu blinzeln. Als würde uns dieses Gefühl verbinden. Als wären wir gleich. »Er ist ein Arschloch, aber das weißt du wahrscheinlich schon.« Sie blickte zur Seite. »Wir sollten das alle wissen, oder? Wir sollten es besser wissen.« Dann sah sie mir in die Augen, und ich verstand. Wie du in die Umlaufbahn einer Welt gezogen werden und denken konntest, dass du einen Platz darin hattest, auch wenn du in Wirklichkeit nicht Teil davon warst.
»Was ist zwischen euch vorgefallen?«, fragte ich.
»Parker Loman ist vorgefallen. Du solltest es wissen, oder? Kam in die Pension gewalzt, als gehöre ihm der Laden. Ich wusste, wer er war, hatte ihn jedes Jahr gesehen, aber plötzlich sah er mich.« Sie lächelte bei der Erinnerung daran. »Im ersten Sommer machte es Spaß, es geheim zu halten. Aber dann tauchte er im Jahr danach mit ihr auf.«
»Luce.«
Sie winkte ab, als hätte der Name keine Bedeutung. Stützte eine Hand in die Hüfte, lehnte sich dagegen. »Er hörte nicht auf, weißt du. Erzählte mir immer wieder, es sei ein Fehler gewesen, sie mit nach Littleport zu bringen. Dass er sie nicht mehr dahaben wolle, sie aber auch nicht nach Hause schicken könne … Er kam sogar in der Nacht , um mich zu treffen. Setzte seine angebliche Freundin bei der Party ab und kam mich besuchen.«
Ich konnte es mir vorstellen. So wie er über mir gestanden hatte in diesem Badezimmer, während Luce irgendwo da draußen war. Sadies Worte – dass er mit allem davonkomme. Wie er es brauchte, dieses Gefühl, das Idol Parker Loman zu sein.
»Also warst du es müde, ein Geheimnis zu sein?«, fragte ich.
»Ich dachte, es wäre lustig, das Geheimnis in der Öffentlichkeit auszuleben. Wo etwas auf dem Spiel stand, weißt du? Er wurde so wütend, als ich sagte, wir sehen uns später auf der Party. Als gäbe es da Regeln, von denen ich nichts wusste. Er dachte, er könnte alles bestimmen. Aber so ist es nicht. Es ist nicht nur seine Entscheidung. Wir stritten bei mir darüber, aber dann sagte er, er müsse los. Es war noch ein Auto auf den Parkplatz vor der Pension gefahren, das hatte ihn erschreckt. Meinte, er wolle nicht gesehen werden.« Sie schüttelte den Kopf. »Im Ernst, schon der Gedanke daran, mit mir gesehen zu werden, war zu viel … Tja, auf einmal war es nicht mehr so lustig.«
Parker Loman, der so viele Leben lebte. Seine Lügen, damals und heute, so mühelos. Hatte er die ganze Zeit gewusst, dass sie es war? Hatte er sie verdächtigt herumzuschleichen, die Häuser zu beschädigen, und hatte den Mund gehalten, um sein Gesicht zu wahren? Damit er nicht zugeben musste, dass er etwas mit einer Einheimischen gehabt hatte, die sich seltsam verhielt?
»Aber du bist ihm gefolgt«, sagte ich. »Zur Party. Luce hat dich da gesehen, weißt du.«
Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Nun ja. Ich bin nicht sofort hingegangen. Hab mich ein bisschen in meinem Ärger gesuhlt. Aber dann, ja. Ich folgte ihm. Ich wusste, wo er hinging. Wo ihr alle wart. Auch wenn ich nicht mit Connor gerechnet hatte.« Ihre Augen weiteten sich. »Dieser Ort lässt euch alle glauben, ihr wäret etwas Besseres, als ihr es wirklich seid.«
»Faith«, sagte ich und riss sie zurück in die Realität. »Hast du aus Rache seine Häuser beschädigt?«
»So kleinkariert bin ich nicht. Eine erzürnte Frau. Im Ernst , Avery?« Sie schritt durch den Flur, warf die Haustür auf und zeigte die leere Straße entlang. Ich trat hinaus, guckte zu den Bäumen, aber ich sah nichts. »Weißt du, was hier passiert, während du dich aufführst, wie die kleine Marionette von Grant Loman? Weißt du, was mit dem Rest von uns passiert, während er mehr und mehr und mehr aufkauft?«
Ich schüttelte den Kopf, weil ich es nicht wusste. Ich kannte Grants Konten genau. Kannte seine Hoffnungen und Ziele für diesen Ort und meine Rolle darin. Ich wusste, dass viele Leute sauer waren, als ich das Haus meiner Großmutter an ihn verkauft hatte, aber ich hatte keine Ahnung, wovon Faith jetzt sprach.
»Ich hab meinen Abschluss diesen Mai gemacht, komme nach Hause, um zu arbeiten, und stelle fest, dass unsere Pension fett in den roten Zahlen steht. Nicht nur ein bisschen. Unrettbar. Meine Eltern haben eine zweite Hypothek aufgenommen für die Erweiterung von vor zwei Jahren, in dem Glauben, sie könnten das Geld mit den neuen Einheiten wieder hereinbekommen. Aber wir können es nicht. Nicht bei den ganzen anderen Möglichkeiten, die es hier gibt.« Sie sah aus dem Fenster. »Wir hatten vor, hier zu expandieren, wusstest du das? Wir haben für die Grundstücke geboten, wollten hier einen Anbau an das Hauptgebäude errichten. Aber wir haben sie nicht bekommen. Die Grundstücke sind alle unter Vertrag – bei irgendeiner Firma namens LLC.« Sie schürzte die Lippen.
»Ich arbeite nicht mehr für sie. Glaub mir, ich …«
»Und du.« Sie trat näher, konzentrierte ihre Wut auf mich. Stieg die Verandastufen hinunter und trieb mich damit weiter zurück. »Du, dieses komplette Wrack …« Sie zuckte, schüttelte den Kopf über sich selbst. »Tut mir leid, aber das warst du. Dieser vollkommene Niemand . Du hältst nun den Laden am Laufen? Während Menschen wie ich, die alles richtig gemacht haben, einen Abschluss gemacht haben, ihre Zeit gedient haben – hierher zurückkommen, und dann ist da nichts? Tut mir leid, dass ich dagegen etwas getan habe. Ich will nur zurück, was mir gehört.«
»Wie denn?« Und dann verstand ich. Sie wollte die Gäste verschrecken. Die Lomans da treffen, wo es wehtat. Uns treffen, was sie anging. Ich wusste nicht, auf wen sie wütender war – auf sie oder mich. Oder vielleicht hing alles zusammen, speiste sich gegenseitig. Ich, die Person, die sie physisch verletzt hatte; Parker, der ihr Herz gebrochen hatte; die Lomans, die ihre Zukunft zerstörten. Alles war kaputt.
»Warst du da oben? Bei den Lomans?«
Sie warf die Hände in die Luft, als sei das alles völlig klar. »Ich versuche nur etwas zu finden. Irgendetwas. Ich brauche nur etwas, was ich benutzen kann. Ich will sie hier weghaben.« Sie zitterte inzwischen. »Ich wollte dich hier weghaben. Es ist nicht fair.« Ihre Stimme brach beim letzten Wort.
Die Nächte, als der Strom ausgefallen war, und ich dachte, ich sei allein. Schritte im Sand, die Hintertür offen und das Gefühl, dass jemand mit mir im Haus sei. Die Taschenlampe auf den Klippen. »Du könntest ins Gefängnis kommen«, flüsterte ich. »Sie könnten dich ruinieren.« Das war die Wahrheit. Sie konnten jeden ruinieren.
Sie setzte sich auf die erste Stufe, sah die noch unbebaute Straße hinunter, die Beine vor sich ausgestreckt und die Knöchel überkreuzt. »Wirst du es der Polizei melden?«
Ich war hierhergekommen, um Faith wegen Sadie zu fragen, hatte gedacht, dass ich es wissen würde, wenn ich ihr in die Augen sah. Stattdessen gestand sie etwas anderes. Was vielleicht nicht damit in Verbindung stand. Inzwischen hatte ich der Polizei das Handy gegeben, hatte ihnen alles erzählt, was ich wusste, aber das hatte nur bewirkt, dass sie sich nun auf mich konzentrierten. Ich wusste nicht, was ich ihnen sonst noch schuldete. Oder ihr.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. Das zumindest war die Wahrheit.
»Und was ist mit ihnen?«, fragte sie. »Wirst du es den Lomans sagen?«
»Ich rede gerade nicht mit ihnen. Sie reden nicht mit mir. Ich arbeite nicht mehr für sie. Ich wurde gefeuert.« Ich schuldete den Lomans gar nichts. Vielleicht hatte ich das nie.
Ihre Augen zuckten wegen eines Gefühls, das ich nicht einordnen konnte. »Ich will, dass er weiß, dass ich es war«, sagte sie.
Sie hatte keine Ahnung von den Tiefen meiner eigenen Wut. Oder vielleicht doch. Sie neigte den Kopf zur Seite, sah mich aufmerksam an.
»Niemand hält dich auf«, sagte ich. »Tu, was du willst. Aber die Lomans, sie glauben, dass sie alles kontrollieren. Leute, Grundstücke, diesen ganzen Ort. Sie denken, dass sie ganz selbstverständlich das Recht dazu haben. Sie denken, sie verdienen es, alles zu wissen. Vielleicht tun sie das aber gar nicht. «
Wenn ich es wäre, würde ich sie im Ungewissen lassen. Würde sie von Schritten aufwachen lassen, verunsichert. Ließe diesen Bruch ihre Nächte zerreißen, ihre Leben.
»Du musst gehen«, sagte ich. »Du musst hier weg. Bitte, hör auf. Du hast fast … dieses Haus war voller Gas. Du hättest jemanden verletzen können.«
»Nein, es sollte niemand verletzt werden. Nur – niemand hatte es auch nur bemerkt. Nicht einmal du, erst bei den Kerzen. Niemand tat irgendetwas
Ein Schauer durchlief mich. All diese unsichtbaren Leben, gerade außerhalb der Sichtweite verborgen. Sogar diese Nacht auf der Party, als sie genau da war , blieb sie außerhalb des Rahmens, versteckt im Schatten und hinter zerbrochenem Glas.
»Hast du gesehen, was auf der Plus One vor einem Jahr passiert ist?«, fragte ich sie.
Sie sah mich aus den Augenwinkeln an. Presste dann die Lippen zusammen. Was glaubte sie, war geschehen? Glaubte sie wie die Polizei, dass ich etwas mit Sadies Tod zu tun haben könnte?
»Nein. Connor hat mir gesagt, dass ich lieber gehen sollte. Ich sollte danach nicht weiter da herumhängen.«
Waren das die Schritte, die ich in der Nacht im Wald gehört hatte? Als ich Sadies Namen gerufen hatte? Vergessen hatte, dass so viele von uns sich wie Geister bewegen konnten, unentdeckt und unsichtbar.
Dennoch war es ihre Aussage. Dass sie die Party verlassen hatte und nach Hause gegangen war. Ich starrte in ihr Gesicht, versuchte etwas zu erkennen …
Das Geräusch eines Automotors in der Ferne riss mich aus meinen Gedanken. Ich spähte die Straße hinunter, konnte aber nicht an den Bäumen vorbeisehen.
»Faith, lass uns zurück zu dir gehen.« Ich zog sie am Ärmel, damit sie aufstand, aber sie starrte nur meine Hand an, wie sie den Stoff ihres Shirts umklammerte. »Die Polizei hat das Haus auf der anderen Straßenseite im Auge.« Ich nickte in Richtung Blue Robin. Fragte mich, ob das Auto eben auch der Detective gewesen war. Ob er uns finden würde, hier und jetzt.
Sie stand auf, ihr Blick folgte meinem die Straße entlang. »Ich sehe niemanden«, sagte sie.
»Trotzdem. Wir müssen gehen.«
Wir gingen ruhig, Seite an Seite, am Blue Robin vorbei, zurück zu dem Pfad zwischen den Bäumen wie zwei Freundinnen. Von außen musste es jedem wie ein netter Spaziergang vorkommen. Ich wartete, bis wir außer Sichtweite des Blue Robin waren und ich sicher war, dass wir allein waren, dann fragte ich. Ich hielt meine Stimme leise. »Das alles – die Kerzen, die Schäden –, das hat doch nichts mit Sadie zu tun?«
Sie blieb einen Moment stehen und ging dann weiter. »Sadie? Nein. Nein. Du denkst, ich hätte ihr wehtun können?«
Hätte sie? Ich schloss die Augen und schüttelte den Kopf, aber das war eine Lüge, und das wusste sie. Jeder könnte das. Das war hier nicht die Frage. »Wenn ich jemandem wehtun wollte«, sagte sie, ohne langsamer zu werden, »wäre sie die letzte Loman auf meiner Liste.«
Ich hatte Faith vermisst. Sie war wild und ehrlich – wie konnte ich sie da im Schatten nicht gesehen haben? Was dieses Jahr in den Häusern passiert war, hatte alles nur mit Parker und mit dem, wofür die Lomans standen, zu tun – nicht mit Sadie.
Als wir auf der Lichtung des Parkplatzes herauskamen, lief sie auf den hinteren Teil des Hauses zu, der zum Meer hinausging.
»Faith. Bitte. Du kannst sie so sehr hassen, wie du willst, aber sie haben letztes Jahr ihre Tochter verloren. Reicht das nicht? «
Sie sah die Klippen hinunter, aber ich wusste, wie es sein konnte – wie man sich so in seiner eigenen Wut und Trauer und Bitterkeit verlor, dass man kaum etwas anderes sehen konnte. Als sie sich umdrehte, waren ihre Augen nass, doch vielleicht kam das auch vom salzigen Meerwind. »Ich weiß, dass du ihr nahestandst, und es tut mir leid. Es tut mir leid, dass sie tot ist.«
Sie ging zurück zum Haus und ich zu meinem Auto, der Rest des Parkplatzes war gerade leer. Alles, an was ich denken konnte, war, dass Parkers Auto hier stand, in der Nacht, in der Sadie starb. Er konnte weggefahren, nach Hause geschlichen und wiedergekommen sein.
»Faith«, rief ich, kurz bevor sie aus meinem Blickfeld verschwand. »Du meintest doch, dass noch ein Auto hier auf den Parkplatz fuhr, in der Nacht, nachdem Parker hier war. Wer war das?« Ich fragte mich, ob Connor dort geparkt hatte.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich konnte es nicht richtig sehen. Es waren zwei Personen, die Richtung Party gegangen sind. Ich weiß nur, dass die eine einen blauen Rock anhatte. Das konnte ich im Mondlicht sehen.«
Faith ging weiter nach drinnen, ihre Schritte hallten auf den hölzernen Stufen.
Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wer in der Nacht einen blauen Rock anhatte. Die meisten trugen Jeans, Khaki-Shorts, manche Sommerkleider mit Jacken. Es war unmöglich sich zu erinnern, welche Kleidung die Leute getragen hatten. Ich konnte mich kaum an meine eigene erinnern. Da war nur eine Person, die ich auswendig wusste.
Ich schloss die Augen und sah, wie Sadie sich im Eingang zu meinem Zimmer drehte. Was halten wir davon? Ihr blaues Kleid, glänzend. Du wirst erfrieren, das weißt du, oder? Dann hatte sie meinen braunen Pullover übergezogen.
Ich bekam eine Gänsehaut .
Von hinten, von da, wo Faith gestanden hatte, hätte es ausgesehen wie ein Rock.
Und plötzlich sah ich vor mir, wie Sadie ihr Handy herausnahm, die Nachricht von mir las: Wo bist du? Und dann:???
Ich sah sie mit der Klarheit einer Erinnerung statt meiner Fantasie. Mit einer Inbrunst, die es wahr werden ließ. Wie sie stirnrunzelnd ihr Handy betrachtete, mir diese Nachricht schickte – die letzte, die, die ich nie bekommen hatte. Die Punkte, die mein Telefon hatten aufleuchten lassen:
Ich bin schon hier.