Der Tag nach der Plus-One-Party
Ich schlief nicht. Nachdem ich ins Gästehaus zurückgekommen war, saß ich am Fenster, taub, wartete, dass irgendetwas Sinn ergab. Aber die Welt hatte sich verändert, und nichts war wiederzuerkennen. Die Zeit verging sprunghaft in Fragmenten. Mitten in der Nacht hatte ich aus dem Fenster Grant und Bianca zurückkehren sehen. Mehrere Streifenwagen kamen und fuhren wieder vor Tagesanbruch. Aber meine Gedanken wanderten immer wieder zurück zu Sadie, wie sie in meinem Türrahmen stand. Ich hörte sie meinen Namen rufen, ein Echo in meinen Gedanken.
Ich sah die beiden Männer kommen, bevor sie klopften, sie sprachen leise miteinander, während sie näher kamen.
Die Polizei. Sie waren hier, mich wegen der Nacht davor zu befragen. Über Sadie.
Wir saßen an meinem Küchentisch, vier Stühle an die saubere weiße Fläche geschoben. Ich setzte mich gegenüber von Detective Ben Collins und Officer Paul Chambers; so hatten sie sich vorgestellt, wobei der Detective den jüngeren Kollegen Pauly nannte, als sie ihre Notizblöcke herausholten.
»Avery, das mag Ihnen unnötig vorkommen«, sagte Detective
Collins. »Vielleicht sogar grausam, wenn man die Umstände betrachtet.« Seine Stimme wurde leiser, als könne jemand lauschen. »Aber es ist hilfreich, die Dinge sofort durchzugehen, bevor die Leute vergessen. Oder bevor sie mit anderen sprechen und die Geschichten anfangen, sich zu vermischen.« Er wartete, dass ich antwortete, und ich nickte. »Wann haben Sie Sadie gestern zuletzt gesehen?«, fragte er.
Mein Blick wanderte zum Flur, zu meiner offenen Schlafzimmertür. Ich wusste die Antwort, aber meine Gedanken hinkten hinterher, als müssten sie erst noch durch einen anderen Raum reisen. »So um Mittag herum. Sie kam vorbei, als ich noch arbeitete.«
Er nickte. »Hat sie Ihnen irgendetwas über ihre Pläne für den restlichen Tag erzählt?«
Ich sah sie vor mir, wie sie sich im Türrahmen drehte. Nach meinem Pulli griff. Wie sie an ihren Haarspitzen herumspielte. »Sie hat nichts gesagt, aber wir wollten uns auf der Party treffen. Wir gehen jedes Jahr dahin.« Wofür hätte sie sich fertig machen sollen, wenn nicht dafür?
»Sie hat also nie gesagt, dass sie zur Party kommen würde.«
Das hatte sie nicht, aber es war eigentlich selbstverständlich. Hätte sie es mir sonst nicht erzählt? »Sie hat Parker gesagt, er solle nicht auf sie warten.« Meine Stimme klang rau, sogar in meinen Ohren. »Das hat er jedenfalls behauptet.«
»Und Ihnen? Hat sie Ihnen auch gesagt, sie bräuchten nicht zu warten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie wusste, dass ich früh hingehen würde, um das Haus aufzuschließen und alles vorzubereiten. Aber sie ist immer zu der Plus-One-Party gekommen. Ich hab ihr geschrieben. Sehen Sie?« Ich hielt ihm mein Handy hin, damit er die gesendeten Nachrichten sehen konnte – das Fehlen einer Antwort. »Sie war dabei, mir zurückzuschreiben. Ich habe die Punkte gesehen.« Officer Chambers schrieb meine
Nummer auf, machte sich Notizen zur Zeit und dem Inhalt meiner Nachricht.
»Wie viele Drinks hatten Sie da schon getrunken?«, fragte Detective Collins.
»Zwei«, sagte ich. Drei.
Sie wechselten einen schnellen Blick. »Okay. Wir haben ihr Handy bisher noch nicht orten können. Es scheint, als hätte sie es bei sich gehabt, als sie …« Hier brach er ab, aber ich beugte mich vor, versuchte zu verstehen. Als sie fiel? Sprang? Gestoßen wurde?
Officer Chambers notierte wieder etwas. Aber der Detective war der Einzige, der Fragen stellte. »Wie hat sie sich benommen, als Sie sie das letzte Mal gesehen haben?«
Ich schloss die Augen, versuchte, es vor mir zu sehen. Ihnen etwas an die Hand zu geben, irgendetwas. Als könnte ich sie hierher zurückholen, nur mit Worten. Wie sie sich auf den Absätzen drehte. Mit den Augen rollte. Meinen Schrank durchguckte. Meinen Pulli überwarf, vor Energie sprühend – »Wie Sadie«, sagte ich. Als wäre alles in Ordnung. Als würde ich sie bald wiedersehen.
Er lehnte sich auf meinem Holzstuhl zurück, es knarrte. Ich versuchte seine Notizen zu entziffern, aber sie waren von mir weggedreht. Das einzige Geräusch war das unseres Atmens.
»Sie, Luciana und Parker sind alle einzeln auf der Party erschienen«, sagte er. »Wie war das noch mal?« Als hätte er das bereits von jemandem gehört, und ich sollte nur die Details bestätigen.
»Ich kam zuerst. Luciana als Nächste. Parker zum Schluss.«
Hier, eine Pause. »Und Connor Harlow? Wir haben gehört, er war auch auf der Party.«
Das Gefühl, wie ich meine Hand an seinem Arm hinabgleiten ließ, ihn ins Schlafzimmer führte.
Ich nickte. »Connor war auch da.
«
Detective Collins riss in der Stille ein Blatt Papier ab, schrieb eine Liste von Namen, bat mich, die Ankunftszeiten einzutragen: Avery Greer, Luciana Suarez, Parker Loman, Connor Harlow.
Ich schätzte, so gut ich konnte, hielt dann beim letzten Namen inne. Ich runzelte die Stirn über dem Blatt, meine Augen trüb und vor Müdigkeit brennend. »Connor kam vor Parker an. Ich weiß nicht genau, wann«, sagte ich.
Detective Collins drehte das Blatt wieder zu sich, überflog die Liste. »Da ist eine große Lücke zwischen Ihnen und der nächsten Person.«
»Ja, ich habe aufgebaut. Diejenigen, die zum ersten Mal mit dabei sind, kommen immer früh.« Etwas in seinem Blick konnte ich nicht deuten, eine Linie, die ich gerade gezogen hatte – und wir standen auf entgegengesetzten Seiten. Ich räusperte mich. »Ich habe die Getränke hingebracht. Das Haus aufgeschlossen. Es ist mein Job, den Besitz der Lomans zu überwachen.«
»Das sagten Sie bereits. Wie sind Sie dorthin gekommen letzte Nacht?«, fragte er.
»Ich habe mein Auto genommen«, sagte ich. Der Kofferraum war voll mit der Kiste Alkohol, den Resten aus der Speisekammer.
»Und wo ist das Auto jetzt?« Er machte eine Show daraus, sich umzusehen, als wenn es irgendwo versteckt sein könnte.
Ich atmete zitternd aus. »Als die Polizei auf der Party auftauchte, bin ich mit Parker gegangen. Ich habe nicht nachgedacht. Ich bin ihm einfach hinausgefolgt. Mein Auto war zu der Zeit sowieso zugeparkt, vor dem Haus auf der anderen Straßenseite.« Ich sah aus dem Fenster auf meinen leeren Parkplatz. »Ich nehme an, da steht es noch.«
Er legte seinen Stift hin und sah mich eindringlich an, als wäre da ein Loch in meiner Geschichte, und er wäre im Begriff,
dieses aufzubohren. Aber dann machte er weiter. »Nachdem die Beamten auf der Party angekommen waren und Sie mit Parker hierher zurückgekehrt waren …« Er sah auf seine Notizen. »… sind Parker und Luciana ins Haupthaus gegangen. Und Sie?« Er schaute auf, die Antwort bereits wissend. Er war schließlich derjenige, der mich gefunden hatte.
»Ich bin wieder zurückgegangen.«
»Warum?«
Weil es mich dorthin zog. Ihr Leben war mein Leben. »Wegen der Polizei am Breaker Beach«, sagte ich. Ich schaute zu Officer Chambers und fragte mich, ob er einer von denen war, die uns vorbeigewinkt hatten, aber er hielt den Blick gesenkt. »Ein Beamter stand dort und ließ uns nicht dichter herangehen. Aber es gibt einen Weg von oben nach unten. Ich wollte es sehen.«
»Und haben Sie? Haben Sie etwas gesehen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«
Er beugte sich vor, sprach leiser, als wäre dieser Teil nicht fürs Protokoll, nur zwischen uns. »Sie wirkten panisch, als ich Sie dort gesehen habe.«
»Das war ich auch. Sie ist meine beste Freundin. Ich hab es nicht geglaubt. Aber …«
»Aber?«
»Ihre Schuhe. Ich hab ihre Schuhe gesehen. Und da wusste ich es.« Meine Hände fingen an zu zittern, und ich drückte sie fest zusammen, damit das aufhörte.
Während er mich anstarrte, wanderte mein Blick zu den Fenstern rechts. Durch die Bäume zum Meer, dessen erschreckender Weite. Die zusammenlaufenden Strömungen und endlosen Tiefen; die Geheimnisse, die es bewahrte.
»Okay«, sagte er und lehnte sich zurück. »Lassen Sie uns die Nacht noch einmal durchgehen.« Als er sprach, sah er sich die Liste an, die ich ihm gegeben habe. »Parker und Luciana
waren während der Party die meiste Zeit zusammen.« Er sah mich an, damit ich das bestätigte. Damals gab es keinen Grund, den Streit in der oberen Etage zu erwähnen. Oder die Zeit, die ich mit Parker allein war. Sie sind zusammen hingefahren. Sie sind zusammen gegangen. Sie waren den größten Teil der Nacht zusammen.
Ich nickte. »Geht es um die Party?«, fragte ich. Ich verstand nicht, warum die Details eine Rolle spielen sollten. Sie war nicht da gewesen. Die Party hatte am anderen Ende des Ortes stattgefunden.
»Nein, wir suchen hier«, sagte der Detective. Officer Chambers sah sich in meinem Wohnzimmer um, als könne dort ein Hinweis zu finden sein, der ihm entgangen war. »Das Haus, die Klippen, hinunter bis zum Breaker Beach. Das ist der Schauplatz. Der Grund, warum ich nach der Party frage« – er beugte sich vor – »ist, um herauszufinden, ob irgendjemand fehlte.« Er nahm seinen Stift in die Hand, hob eine Augenbraue. »Also. Kann jemand über die ganze Zeit für Sie bürgen, Avery?«
Ich schüttelte den Kopf, verwirrt, verzweifelt. »Parker, Luce, da war ein Haus voller Menschen. Sie haben mich gesehen. Ich war da.«
»Sie könnten gegangen sein. Sie können nicht für jeden einzelnen Moment bürgen.«
»Aber ich bin nicht gegangen. Und ich habe Ihnen erzählt, dass sie mir geschrieben hat. Es ging ihr gut.«
»Was ist mit Connor Harlow?«
»Was soll mit ihm sein?«
»Wissen Sie, wie es ihm gestern Nacht ging?«
Sein Shirt, das er sich über den Kopf zog. Wie er mich zum Bett führte …
»Ich weiß gar nichts. Connor und ich reden nicht mehr miteinander.«
»Aber Sie haben ihn dort gesehen.
«
Connors Gesicht, nur Zentimeter von meinem entfernt. Das Gefühl seiner Hände auf meinen Hüften.
»Ja«, sagte ich. »Ich hab ihn gesehen.«
»War er die ganze Zeit da?«
Die Macht dieses Moments, sie schnürte mir die Luft ab. Niemand konnte eigentlich sicher sein, wer dageblieben und wer gegangen war. Über eine Party wie diese konntest du nur das erzählen, wovon du hofftest, dass die anderen es auch über dich sagen würden. Ein tief sitzender Instinkt, deinesgleichen zu beschützen. »Ja. Keiner von uns ist gegangen.«
Später an dem Morgen, nachdem die Polizei zurück ins Haupthaus gegangen war, sah ich eine Gestalt neben der Garage stehen und auf ihr Handy starren.
Ich öffnete die Tür, rief ihren Namen fast flüsternd. »Luce?«
Sie fuhr zusammen, drehte sich dann zu mir um, und ich ging ihr entgegen. Von Nahem waren ihre Augen blutunterlaufen, ihr Gesicht ausgemergelt und ohne Make-up.
»Ich muss hier weg«, sagte sie und schüttelte den Kopf. Ihr Haar war straff zurückgebunden, streng. »Ich gehöre hier im Moment nicht her. Ich versuche …« Sie klopfte auf ihr Handy, verzweifelt. »Ich versuche gerade herauszufinden, wie ich zur Busstation gelange. Wenn ich nach Boston komme, schaffe ich es nach Hause.«
Da sah ich erst, dass sie eine Tasche in der anderen Hand hatte, deren braune Ledergriffe sie fest umklammert hielt. Sie suchte meinen Blick, als hätte ich eine Antwort.
»Ich würde dich fahren, aber ich habe mein Auto nicht hier. Es ist immer noch auf der Aussichtsfläche.« Ich schluckte. »Vielleicht kannst du Parkers Auto nehmen. Grant und Bianca sind ja jetzt hier.
«
Ihre Augen weiteten sich. »Das frag ich ihn doch jetzt nicht.« Sie sah über die Schulter zum Haus und schauderte. »Ich gehöre da nicht hin. Es ist nicht mein Zuhause. Es …«
»Okay, komm rein. Luce, komm.« Ich legte ihr die Hand an den Ellbogen, um sie zu überzeugen, und führte sie ins Wohnzimmer.
Sie saß auf der Couch, ihr Rücken Zentimeter von den Kissen entfernt, die Hände sorgfältig über den Knien gefaltet, das Gepäck auf dem Boden vor ihr. Ich gab ihr die Nummer eines Fahrservices, bei der sie es versuchen konnte; sie war völlig durch den Wind, nicht in der Lage, sich so weit zu konzentrieren, um selbst diese Information herauszufinden.
»Bleib hier. Ich hole meinen Wagen. Wenn du noch da bist, wenn ich zurückkomme, fahre ich dich selbst zum Bus.«
Sie nickte, starrte ins Nichts.
Ich setzte mich in Bewegung. Die Landing Lane entlang, am Breaker Beach vorbei, wo Polizeiautos den Parkplatz blockierten, der ganze Bereich war abgesperrt. Ich ging weiter bis ins Zentrum, wo eine bedächtige, schockstarre Atmosphäre herrschte, die wie dichter Nebel über allem hing.
Mein Hals zog sich zusammen, und ich beugte mich auf dem Gehweg nach vorn, die Hände auf den Knien.
»Avery?« Ein Mann, der gerade dabei gewesen war, etwas in den Kofferraum seines SUVs zu laden, drehte sich um, es war Faiths Vater. »Geht es dir gut?«
Ich streckte mich und rieb mir mit den Knöcheln über die Wangen. »Ich hab mein Auto stehen gelassen«, sagte ich, aber meine Stimme blieb stecken, als würde ich ersticken. »Auf der Party gestern Nacht.«
Er sah über seine Schulter, die Straße hinauf, in die Richtung. »Los, steig ein, ich bring dich hin.«
Sein Auto roch nach Kaffee und frischer Wäsche, die Welt drehte sich weiter mit oder ohne Sadie. Wir fuhren den Harbor
Drive hoch, an der Polizeiwache oben auf dem Hügel vorbei. »Wie schrecklich, das mit dem Loman-Mädchen. Ich hab gehört, dass ihr euch nahestandet.«
Ich konnte nur nicken. Konnte nicht an Sadie in ihrem blauen Kleid denken, wie sie am Abgrund stand. Barfuß, der Gewalt des Meeres unter ihr lauschend.
Er bog zum Point ab, räusperte sich. »Hast du einen Ort, wo du wohnen kannst?«
»Ja«, sagte ich, ich verstand die Frage nicht. Dann wurde mir klar, dass ohne Sadie auch das ganze Fundament meines Lebens im Begriff war, sich zu verschieben.
»Also«, fuhr er fort, »sonst lass es uns wissen. Saisonende, wir haben genug Platz.«
Ich drehte mich um, um ihn mir genau anzusehen – die tiefen Furchen in seinem wettergegerbten Gesicht, das längere, grau werdende Haar, zurückgeschoben, als würde er sich dem Wind entgegenstellen, und seine scharf geschnittene Nase, wie die von Faith. »Ich glaube nicht, dass Faith das gefallen würde.«
»Na ja«, sagte er, als er an der Pension vorbeifuhr, zu den Häusern auf der Aussichtsfläche, »das ist lange her.«
»Es war ein Unfall«, sagte ich.
Erst antwortete er nicht. »Du hast uns allen Angst gemacht damals. Aber du bist da wieder rausgekommen, Avery.« Er bog in den Overlook Drive ein, wo sich das Blue Robin befand.
»Hier ist okay«, sagte ich, als mein einsames Auto in Sichtweite kam. Ich wollte allein sein. Nicht zu sehr darüber nachdenken, was ich getan hatte und was ich hatte tun wollen. Wozu ich fähig war, wenn die Zügel, die mich unter Kontrolle hielten, sich lösten.
»Bist du sicher?«
»Ja. Danke.«
Er zeigte die baumgesäumte Straße von hier bis zum Sunset Retreat und dem Blue Robin entlang. »Kommen hier überall
Ferienhäuser hin? Auf jedes Grundstück? Sie werden weiterbauen?«
»Nicht gleich. Aber ja, das ist der Plan.« Ich stieg aus dem Auto. »Danke fürs Fahren.« Er nickte, hielt den Blick aber auf die lange Reihe unbebauter Plätze gerichtet.
Ich ging die Straße entlang, stellte mir den Strom der Leute vor, die in der Nacht zuvor zur Party gekommen und dann nach dem Eintreffen der Polizei wieder weggestürmt waren. Ich hatte verpasst, was auch immer danach passiert war, aber es war offensichtlich, dass die Leute in Eile die Party verlassen hatten. Reifenspuren, da, wo der Rasen an die Straße grenzte. Müll und Schutt, auf dem Randstreifen zurückgelassen. Eine leere Flasche. Eine kaputte Sonnenbrille.
Mein Auto stand in der Auffahrt zum Sunset Retreat, Schnauze nach vorn. Aber es sah aus, als wäre jemand über den Rasen gefahren: Reifenspuren führten den ganzen Weg nach unten. Wahrscheinlich hatte es eine Schlange von Autos gegeben, und jemand Ungeduldiges war an allen anderen vorbeigefahren.
Die Vordertür des Blue Robin auf der anderen Straßenseite stand offen, Dunkelheit lauerte dahinter.
Ich trat über die Schwelle und sah mir alles an. Die Luft pulsierte, als wäre das Haus lebendig.
Halbleere Flaschen standen auf dem Tresen, ein Ventilator, der zu stark eingestellt war, tickte, es roch nach Schweiß und verschüttetem Alkohol. Und die Kerzen, bis zum Stumpf heruntergebrannt, in Wachspfützen stehend. Die meisten waren von allein ausgegangen, aber eine brannte noch am hinteren Fenster, sie stand direkt unter dem Netz von Rissen. Ich blies sie aus, sah zu, wie der Rauch nach oben zog, der Himmel zerteilt hinter der Scheibe.
Oben im ersten Zimmer waren noch einige Jacken auf dem Bett liegen geblieben. Und ausgerechnet ein Schuh
.
Meine Finger zuckten vor fehlgeleiteter Energie. Zu viel lag außerhalb meiner Kontrolle. Zu viel, was ich niemals würde ändern können.
Ich nahm mein Telefon und rief die Reinigungsfirma an. Bat sie, so schnell wie möglich zu kommen und die Rechnung direkt an mich zu schicken; ich wollte nicht, dass so etwas momentan bei den Lomans landete. Sie sollten dieses Chaos nicht sehen, das wir veranstaltet hatten, während ihre Tochter starb.
Unten steckte ich die Badezimmerhandtücher in die Waschmaschine, sie waren schwarz vor Dreck. Aber das war der Vorteil an weißen Handtüchern, weißen Laken – die offene, luftige Atmosphäre eines Raumes, die Sauberkeit. Es war eine Illusion, leicht zu erhalten mit einem halben Becher Bleiche.
Im Schlafzimmer war die Truhe mit den zusätzlichen Decken geöffnet, aber es schien nichts zu fehlen oder benutzt worden zu sein – nur ein Stapel gefalteter Decken –, also schloss ich sie.
Und dann – je mehr ich die Kontrolle übernahm, desto mehr fühlte ich mich wie ich selbst – suchte ich die Nummer der Fensterfirma heraus und hinterließ eine Nachricht. Dass wir einen Ersatz für ein kaputtes Fenster benötigten, in Nummer 3, Overlook Drive, und dass sie mich anrufen sollten, wenn sie zum Messen ins Haus mussten.
Danach zog ich die Vordertür zu, schloss sie aber nicht ab – ich hatte keinen Schlüssel. Ich würde wiederkommen und alles überprüfen müssen nach der Reinigung.
Ich ging über die Straße zu meinem Auto, meine Augen brannten. Jeder Ort, an den ich ging, war einer, wo Sadie nie mehr sein würde, alles, was ich sah, war etwas, was sie nie mehr sehen würde. Sogar mein Auto kam mir irgendwie unvertraut vor. Die Sandkörner unter dem Fahrersitz, die schon wer weiß wie lange dort lagen – aber alles, was ich sah, war Sadie, die ihre Beine abbürstete nach einem Lagerfeuer am Breaker
Beach. Die Zettel, die in das Seitenfach der Tür gesteckt waren – ich sah sie vor mir, wie sie einen Kassenbon zerknüllte und ihn dahin stopfte. Meine Sonnenbrille, die an die Blende geklemmt war – ich sah, wie sie sie hinunterklappte, um in den Spiegel zu schauen, und sagte: Mein Gott, könnte ich noch blasser sein?
Ich konnte den Geruch des Hauses nicht abschütteln, während ich fuhr. Der Alkohol, der Schweiß, etwas fast Animalisches. Also ließ ich die Fenster herunter, und die frische Luft von Littleport wehte herein.
Ich fuhr auf die sich windenden Bergstraßen zu, wo die Sonne ein Muster durch die Bäume warf, während der Wind blies, als würde er eine große Finsternis ankündigen.