Kapitel 27
Hier ist ein neues Spiel: Wenn ich gewusst hätte, dass die Lomans verantwortlich für den Tod meiner Eltern sind, was hätte ich getan?
Die ganze Nacht spielte ich dieses Spiel in der Dunkelheit des Hauses. Was ich sagen würde, was ich tun würde – wie ich sie dazu bringen würde, die Wahrheit zu sagen. Nein: Was ich stattdessen von ihnen nehmen würde.
Ich fühlte es, während ich da saß – nicht die kriechenden Ranken der Trauer, die mich hinunterzogen. Sondern dieses andere. Die brennende weiß glühende Wut, die ich in meinem Knochenmark spüren konnte. Die Welle, die sich auch in mir immer weiter aufbaute.
Ich wollte schreien. Wollte die Wahrheit in die Welt schreien und sie deswegen fallen sehen. Ich wollte, dass sie für das bezahlten, was sie getan hatten.
Aber dieses Wissen hatte eine Kehrseite. Denn was diese Zahlung auch lieferte war: ein Motiv. Mein Motiv. Alle Beweise fielen auf mich zurück. Das Handy, das ich gefunden hatte. Ihre Leiche mit Spuren eines Kampfes in meinem Kofferraum. Ich, die ich in der Nacht hinter dem Haus der Lomans herumgelaufen bin, nach zurückgelassenen Beweisen suchend. Und die Nachricht auf dem Tisch. Es war meine Handschrift. Meine Wut. Meine Rache. Es war meins .
Es klopfte an der Vordertür, und ich spähte durch den Spalt zwischen den Vorhängen, erwartete, dass Grant oder Parker mich irgendwie gefunden hatten. Oder Bianca, die mich wieder wegschicken wollte. Aber es war Connor. Ich sah seinen Jeep am Kantstein stehen, so auffällig an der halb leeren Straße. »Avery? Bist du da drin?«, rief er.
Scheiße, scheiße. Ich schloss die Tür auf, und er marschierte herein, als hätte ich ihn eingeladen.
»Woher wusstest du, wo ich bin?«, fragte ich, als er sich in dem unbekannten Haus umsah. Sein Blick blieb an dem Stapel Familienalben und Briefen auf dem Tresen hängen.
Er hielt einen Moment inne und starrte den Artikel oben auf dem Stapel an, ein Schwarz-Weiß-Foto des Autowracks – Paar aus Littleport bei Alleinunfall getötet .
»Connor?«
»Sie hat mir gesagt, was passiert ist«, sagte er und zwang sich, mich anzusehen. »Faith.« Er atmete schwer, vollgepumpt mit Adrenalin.
»Woher weißt du, dass ich hier bin?«, wiederholte ich. Ich dachte, ich wäre so vorsichtig gewesen, aber hier stand er unangekündigt. Es gefiel mir nicht, wie sein Blick über meine Sachen wanderte. Es gefiel mir nicht, wie er da so stand – nervös.
»Was?« Er schüttelte den Kopf, als wollte er das Gespräch abschütteln. »Das ist nicht schwer herauszufinden, wenn man weiß, wonach man sucht.« Ich trat einen Schritt zurück, und er runzelte die Stirn, seine Augen verengten sich. »Du hast mir gesagt, dass du nicht mehr bei den Lomans wohnst. Aber bei Faith bist du auch nicht, die meisten Hotels sind noch voll … Einige Leute haben erwähnt, dass sie dich hier gesehen haben. Ich hab an ein paar Ferienhäusern nachgeguckt und dann dein Auto im Zentrum gesehen. Das hier war das Nächste.« Er fing an, im Zimmer herumzulaufen, als wüsste er nicht, wohin mit se iner Energie. »Faith hat Sadie nichts getan, das hab ich dir doch gesagt. Du glaubst ihr doch, oder?«
»Warte.« Ich schloss die Augen, streckte die Hand aus. Ich konnte nicht beiden Gesprächsthemen auf einmal folgen. »Leute haben dir erzählt, dass sie mich gesehen haben?« Hatte ich das in letzter Zeit nicht auch bemerkt? Die Art, wie die Menschen mich ansahen, wie sie mich beobachteten. Als würden sie etwas an mir erkennen. Ich dachte, das wäre wegen des Falls, neue Gerüchte, die vielleicht umgingen. Doch vielleicht war es auch schon immer da gewesen. Und wie die Lomans war ich desensibilisiert, der Blicke nicht bewusst. »Ach so«, sagte ich und hielt mich am Tresen vor mir fest, dehnte die Entfernung zwischen mir und Connor aus. »Die Frau, die da oben mit den Lomans rumvögelt. Ist es das, was sie reden?«
Sein Hals bewegte sich, als er schluckte, aber er verneinte es nicht. »Die Frau, die irgendwas da oben macht.«
Ich blickte zur Seite, zu den verdeckten Fenstern und der dunklen Nacht dahinter. Ich verstand nicht, warum er hier war, was er wollte. Wie viele Menschen wussten, dass ich mich hier versteckte? War ich inzwischen nicht klüger, als immer noch zu denken, ich sei unsichtbar?
»Es war nicht Faith«, wiederholte er.
»Ja, ich weiß, dass Faith es nicht war. Ich weiß jetzt, wofür das Geld war.« Ich ballte die Hände zu Fäusten. Mein ganzes Erwachsenenleben war auf einer Lüge aufgebaut. Auf einem furchtbaren Geheimnis. Geformt von Menschen, von denen ich dachte, sie hätten mir so viel gegeben, aber stattdessen hatten sie mir alles genommen.
Connor blieb stehen und sah mich wachsam an. Vielleicht war das mein Verhängnis – am Ende war ich immer zu vertrauensselig; wählte Kontakt anstatt Einsamkeit. Immer wieder glaubte ich daran, dass Menschen sich, außer um ihre eigenen Interessen, doch noch um etwas anderes scherten. Wir waren allein im Haus, niemand sonst war hier. Er hatte mir schon einiges verschwiegen, und wir beide wussten das. Aber Connor war hier . Und er war wegen mir gekommen in jener Nacht vor einem Jahr, als Sadie ihm von meinem Handy aus geschrieben hatte. Mit ihm war es ein einziges Ziehen und Stoßen. Logik gegen Instinkt. Ich wusste nicht, welche Motive ihn an meine Tür gebracht hatten mitten in der Nacht, aber ich hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es nur zählte, wenn man die Eigenheiten von jemandem kannte und sich trotzdem für ihn entschied.
»Die Lomans – sie haben meine Großmutter bezahlt, nachdem meine Eltern gestorben sind.«
Er blinzelte, und ich konnte sehen, wie sein ganzer Ausdruck sich veränderte. »Was?«
Ich sog die Luft ein, dachte, ich müsste heulen. Dann hörte ich auf, dagegen anzukämpfen, denn was zum Teufel sollte das bringen? »Sie haben meine Eltern getötet. Irgendwie waren sie verantwortlich.«
Connor sah über die Schulter zur verschlossenen Tür, und ich fragte mich, ob jemand vorbeiging. »Wer? Wie?«
Und dann sah ich es, von Anfang an, jeden Moment mit ihnen – bis es, langsam und grauenhaft, alles deutlich wurde:
Das Bild von Parker im Wohnzimmer – sein Gesicht jugendlich und unversehrt. Die Art, wie Sadie ihn wegen seiner Narbe geärgert hatte, nicht damit aufhörte. Der finstere Blick, den er Sadie zugeworfen und den Luce bemerkt hatte. Bohrend und bohrend, bis etwas sich Bahn brach.
Der zweite Blick, den Parker mir zugeworfen hatte, als er mich in Sadies Zimmer sitzen sah, an dem Tag, als wir uns kennenlernten – er wusste, wer ich war. Natürlich wusste er das. Avery Greer, Überlebende.
»Parker«, sprach ich leise in die Nacht. »Es war Parker.«
Die Narbe durch seine Augenbraue, seine persönliche Erinnerung daran. Kein Kampf, sondern ein Unfall – Sadie hatte das selbst herausgefunden. Ein Unfall, den er verursacht hatte. Aber Parker Loman war unantastbar. Irgendwie war er davongekommen. Hunderttausend Dollar – der Preis für die Leben meiner Eltern. Gezahlt für unser dauerhaftes Schweigen. Eine von zwei Zahlungen, die Sadie entdeckt hatte. Ich war nicht sicher, ob die andere auch damit zusammenhing – noch jemand, der die Wahrheit kannte – oder ob die Lomans mehr als eine grauenhafte Tat vertuschten.
Parker kommt buchstäblich mit allem davon.
Sie würden alles für den König opfern.
Das war es, was wir ihnen wert waren. Zwei Leben. Alles verloren. Die ganze Zukunft der Person, die ich hätte sein sollen – einfach weg.
Ich lag falsch. Dieser Ort war es nicht, der mir etwas nahm. Es waren nicht die Bergstraßen, das Fehlen der Straßenlampen, die brutalen Extreme. Es waren die Menschen oben auf den Klippen, die über alles hinwegblickten. Sich gegenseitig deckten. Wie alt musste er da gewesen sein – vierzehn? Fünfzehn? Zu jung zum Fahren. Daraus hätte er sich nicht herausreden können, egal mit welchen Entschuldigungen. Manche Gesetze konnte man nicht beugen oder umgehen.
Seine Frage in der Nacht, als er auf der Party im Badezimmer über mir stand – ob ich glaubte, dass er ein guter Mensch sei. Er wollte, dass ich ihm Absolution erteilte. Nein. Nein , da war nichts an ihm gut. Nichts in seinem Innersten als der Glaube daran, dass er jedes kleine bisschen wert war, was ihm gegeben wurde.
Aber die simple Wahrheit, das Einzige, was zählte, war: Parker Loman hatte meine Eltern umgebracht.
»Ich soll mich morgen mit Detective Collins treffen«, sagte ich. »Wenn ich ihm das erzähle, kann ich nicht mehr kontrollieren, in welche Richtung die Ermittlungen gehen.« Ich sagte das wie eine Warnung. Ich sagte es, um zu sehen, was Connor tun oder sagen würde. Ich wäre nicht in der Lage, die Polizei daran zu hindern, Connor oder mich genauer zu überprüfen.
Connor blickte wieder zur Haustür, und ich begann mich zu fragen, ob noch jemand mit ihm hier war. Oder vielleicht sah ich nur plötzlich die Gefahr in jedem – alles, wozu wir fähig waren. »Parker hat auch Sadie etwas angetan?«, fragte er.
»Ich weiß es nicht«, sagte ich. Ich dachte wieder an das, was Luce über die Dunkelheit zwischen Sadie und Parker gesagt hatte. Sadie hatte geglaubt, dass ich ein Geheimnis war, und das war ich. Der Grund, warum sie mich aufgenommen hatten, der Grund, warum es das Richtige war – der Grund, warum Parker zweimal hingesehen hatte, als er mich das erste Mal traf. Er wusste genau, wer ich war. Und sie hatte endlich das in ihm erkannt, was er in Wahrheit war.
Ich wusste nicht, wer Sadie etwas angetan hatte und warum. Nur dass sie ein Geheimnis im Herzen unserer beiden Familien aufgedeckt hatte und nun tot war. Von der Party zurück zu sich nach Hause transportiert in meinem Auto.
Wir waren alle da gewesen in jener Nacht. Es könnte jeder gewesen sein.
Plötzlich wollte ich nur noch, dass Connor ging. Ich musste meine Gedanken sortieren, mich beschützen. Ich verschränkte die Arme.
Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Gehst du morgen zu der Gedenkfeier?«, fragte er.
»Ja. Und du?«
»Alle gehen hin«, sagte er und hielt meinen Blick fest.
Ich schüttelte den Kopf, sah weg. »Wir sprechen dann.« Scheinwerfer schienen durch die Vorhänge, dann verschwanden sie wieder. »Du musst jetzt gehen«, sagte ich.
»Du kannst mit mir kommen, ich kann auf dem Sofa schlafen … «
Doch ich wusste genau, was ich zu tun hatte. Nur mit Worten konnte ich die Lomans nicht zu Fall bringen. Diese Sorte Macht konnte man nicht mit Glauben allein bekämpfen. Man brauchte Beweise.
»Wir sehen uns morgen bei der Gedenkfeier, Connor«, sagte ich und öffnete die Tür. Hielt den Atem an. Bei Connor war ich immer gespannt darauf, was er tun würde.
Im Eingang drehte er sich um, um noch etwas zu sagen. Besann sich dann eines Besseren. Er spähte die dunkle Straße hinunter, die Augen verengt. »Du solltest eigentlich nicht hier sein, oder?«
Ich antwortete nicht, langsam schloss ich die Tür, während er zurückwich. Durch den Spalt zwischen den Vorhängen sah ich ihn zu seinem Jeep gehen, ein Schatten in der Nacht. Und dann schaute ich den Bremslichtern nach, wie sie in der Ferne verblassten, bis ich sicher war, dass er weg war.
Mit dem neuen Verständnis meiner Vergangenheit nahm Littleport mitten in der Nacht eine andere Form an. Nicht mehr länger bestand es aus den gewundenen Straßen mit ihren Verkehrsunfällen, aus zu wenig Straßenlaternen, aus dem Von-der-Straße-abkommen, während du schliefst. Sondern es war ein Ort, in der dreist die Schuldigen umgingen. Einer, der Menschen zu Mördern machte.
Ich war nervös, schaute immer wieder in den Rückspiegel, versuchte, nicht gesehen zu werden, als ich zurück zum Blue Robin fuhr.
Hier, so glaubte ich, war der Schauplatz des Verbrechens. Nicht das Haus der Lomans oder die Klippen oder der Strand, wie die Polizei letztes Jahr verkündet hatte. Sondern hier, auf der anderen Seite des Ortes .
Nachdem ich alles der Polizei erzählt hätte, würden sie dieses Haus durchsuchen müssen, es abriegeln, die Zivilisten fernhalten. Und ich brauchte Beweise, um die Geschichte zu untermauern, an die ich glaubte.
Ich benutzte die Taschenlampe an meinem Handy, um den Pfad vor mir zu beleuchten, während ich von der Auffahrt zur Haustür ging. Hier oben, wo das ganze unerschlossene Land lag, wurde jeder Windhauch bedrohlich, und immer wieder richtete ich den Lichtstrahl auf die Bäume, die leere Straße hinunter, bis ich sicher allein im Haus war. Licht machte ich keins an. Falls jemand mich beobachtete. Ich konnte sie alle im Schatten meiner Erinnerung spüren: Faith, die Polizei, Parker an der Seite der Garage. Es gab so viele Menschen, die Dinge gesehen hatten, Dinge wussten. Jetzt waren auch Grant und Bianca hier, und genau wie Luce war mir klar – sie würden alles tun, um den König zu beschützen.
Ich bewegte mich nach meinem Gedächtnis, strich mit der Hand an der Couch entlang, an einem Stuhl, dem Küchentresen, während ich vorbeiging. Den Lichtstrahl richtete ich nach unten, weg von den Fenstern. Das Bild meiner Mutter an der Wand, ihre Stimme in meinem Ohr: Sieh noch einmal hin. Sag mir, was du siehst.
Das war der Trick, das verstand ich nun. Nicht den Blickwinkel oder die Geschichte zu verändern oder einen Schritt vor oder zurück zu machen – sondern sich selbst zu verändern. Ich erinnerte mich an die Nacht, als ich hinter meiner Mutter stand, während sie die Fotos auf dem Boot der Harlows machte, die schließlich zu diesem Bild führten. Das Werk, an dem sie sich immer und immer wieder versuchte, als würde sie etwas jagen. Nun sah ich alles außerhalb des Rahmens, alles, was diesem Bild einen Kontext gab – das Boot, auf dem sie stand, wie Connor und ich ein Spionagespiel hinter ihr gespielt hatten. Die krasse Klarheit des Moments, während die Schatten vor uns immer weiter verblassten, in der Nacht verschwanden. Als wäre das Leben, das sie lebte, und das Leben, nach dem sie jagte, die ganze Zeit ein und dasselbe gewesen.
Nun trat ich davon zurück, ging zu der geschlossenen Tür am Ende des Flurs. Luce und ich hatten in der Nacht versucht, die Klinke herunterzudrücken, aber die Tür war abgeschlossen gewesen. Ich hatte mit der Hand gegen das Holz gehämmert – in der Hoffnung, dass, wer immer da drin war, sich erschrak.
Jetzt ging die Tür knarrend auf, die Schatten von Möbeln lauerten in der Dunkelheit. Bei vorgezogenen Gardinen schaltete ich hier schließlich doch das Licht an, beleuchtete den weißen Bettüberwurf, die dunkle Holztruhe, die Decken, die daneben aufgestapelt waren. Öffnete den Deckel und spähte hinein – der Geruch von Kiefer, altem Stoff, verstaubtem Dachboden.
Sie hatte offen gestanden, erinnerte ich mich, als ich am Tag nach der Party hier zum Putzen hergekommen war. War ihr Handy auch da schon dort drin gewesen?
Als Nächstes das Bett, ich fuhr mit der Hand über das weiche Material. Ich ging über den Holzboden am Schrank vorbei zum Bad, die Bodendielen knarrten.
Über der Toilette gab es ein hohes Fenster, um Licht hineinzulassen, aber es ließ sich nicht öffnen. Ein langer Spiegel, weiß umrandet. Ein Waschtisch vor den Kacheln, auf quadratischen Holzfüßen. Wir hatten den Boden gewischt, Parker und ich, nachdem Ellie Arnold hier mit ihren Freundinnen drin war, um sich aufzuwärmen. Das Wasser war überall gewesen, schmutzige Handtücher waren in den Ecken zurückgelassen worden.
Jetzt strich ich mit den Fingern über die Granitplatte auf dem Waschtisch, grau und weiß marmoriert. Die harten Ecken. Ich ließ mich auf die Knie fallen und erinnerte mich daran, wie nass der Boden in der Nacht gewesen war – an die Handtücher, die ich in eine Plastiktüte gestopft hatte .
Am nächsten Tag hatte ich sie mit Bleiche in der Waschmaschine gewaschen, um sie wieder sauber zu bekommen.
Ich spähte unter den Waschtisch, betrachtete den dunklen, unberührten Putz – schwerer zu sehen und zu säubern. Ich stand wieder auf, stemmte mich gegen den Tisch, bis er über die Fliesen kratzte, von der Wand abrückte. Ich schob weiter, Zentimeter für Zentimeter, bis er an die Duschkabine stieß, mein Atem raste. Der Platz darunter lag nun vollkommen frei, Dreck und Rückstände waren sichtbar, und der dunklere Putz, fleckig von zurückgelassenem Wasser.
Ich ging auf die Knie, strich über die kalkigen Rückstände.
In einer Ecke entdeckte ich einen rostbraunen Fleck. Eine übersehene Stelle. Ich warf mich zurück auf meine Hacken, Kälte stieg in mir auf, ich krabbelte aus dem Zimmer, sah diesmal alles deutlich.
Ein Kampf hinter verschlossenen Türen; das Handy, das ihr aus der Hand geschlagen wurde, der Sprung im Display. Ein Handgemenge, das sie weiter von der Tür wegführte, vom Ausgang. Ein Stoß im Bad. Sie fiel und schlug sich den Kopf an. Das Blut bildete eine Pfütze. Jemand versuchte verzweifelt, sauber zu machen. Nahm die übrigen Handtücher und wischte alles auf. Musste sie wegbringen.
Durchsuchte ihre Tasche, fand die Schlüssel. Schaute aus dem Fenster über der Toilette, drückte den Knopf auf dem Schlüssel – sah mein Auto auf der anderen Straßenseite aufleuchten.
Nahm eine Decke aus der Truhe, um sie zu verstecken. Verlor dabei ihr Handy, im Chaos. Wo es unten in die Truhe fiel und dort blieb – darauf wartete, gefunden zu werden.
Wickelte sie ein. Mein Gott, sie war so zierlich. Schaute in den Flur und stellte den Strom im Sicherungskasten ab. Aber wer?
War das alles passiert, um einen Aufruhr in der Dunkelheit zu verursachen? Eine Ablenkung, während jemand eine sterbende oder bewusstlose Sadie zum Auto getragen hatte?
Wenn dem so war, hatte ich es gedeckt, alles, als ich am nächsten Tag wiedergekommen war. Die Beweise mit Bleiche in der Waschmaschine weggespült, ein neues Fenster bestellt, die Truhe geschlossen – und ihr Handy darin gelassen. Ich hatte sie ausgelöscht, Stück für Stück, bis sie unsichtbar war. Und jetzt musste ich sie wieder in den Fokus rücken.
Meine Hände zitterten, ich machte mit der Kamera meines Handys von allem Fotos: der Stelle hinter dem Waschtisch mit dem rostfarbenen Blutfleck, der Truhe mit den Decken, dem Stromkasten im Flur, dem Abstand von dort zur Vordertür. Sammelte von allem Beweise, bevor ich aus diesem Ort ausgesperrt werden würde. Für die Geschichte, die ich sehen konnte, von der nur ich Zeugin war – ihr Geist, der sich in den Lücken meiner Erinnerungen bewegte.
Ich konnte vor meinem inneren Auge sehen, wie sich alles abgespielt hatte. Drei Schritte zurück, drei Schritte vor. Von einem Mädchen in Blau, das sich in meinem Zimmer drehte bis zu einem Farbblitz im Meer, einem blassen Bein, das am Felsen hängen blieb – sich festhielt, bis sie gefunden wurde.
Ich lenkte meinen Wagen weg vom Hafen, weg von der Küste. Stattdessen zu den Bergen. Fand mich wieder, wie ich mich eine kleine Nebenstraße hinunterschlängelte, die ich seit Jahren nicht gefahren war.
Es war eine lange, halb asphaltierte Straße, die sich in Sandauffahrten hin zu alten, von Bäumen umgebenen Häusern gabelte.
Ich fuhr langsamer, bis ich das letzte Haus an der Straße erreichte: ein Farmhaus, versteckt außer Sichtweite der Straße, der Boden bedeckt mit Gras und Sand. Die Harlows wohnten immer noch nebenan. Ich parkte mein Auto in der weiten Mündung meiner alten Auffahrt unter den tief hängenden Zweigen eines knorrigen Baumes.
Einzelheiten waren in der Dunkelheit nicht zu erkennen, deshalb konnte ich mir gut die farbigen Tonkrüge auf der Veranda und das handgemalte Willkommensschild, das früher an der Tür hing, vorstellen. Die Holzstühle, die meine Mutter gebaut hatte, die matte grüne Farbe abblätternd, und ein niedriger Tisch dazwischen.
Ich sah meine Mom lesend auf der Veranda sitzen. Meinen Vater mit einem Drink in der Hand und ihren Füßen auf dem Schoß. Beide alle paar Augenblicke aufschauend, um nach mir zu sehen.
Mein eigenes Leben hatte sich mitten in tiefster Nacht gegabelt, genau hier.
Aber das – das war das Leben, das ich hätte haben sollen. Meinen Dad, der mich um die Taille packte, als ich nach drinnen rannte – Du siehst ja wild aus , hatte er gesagt, lachend. Meine Mom mit den Schultern zuckend, Lass sie doch.
Erinnerungen und Träume. Alles, was von dem Leben blieb, das mir genommen worden war.
Ich muss im Auto eingeschlafen sein – das Brummen meines Handys ließ mich in Panik aufwachen.
Ich brauchte einen Moment, um mich zu orientieren, zusammengerollt auf dem Fahrersitz. Bei Tageslicht war dieses Haus nicht länger mein Zuhause. Windspiele statt farbiger Töpferwaren, das handgemalte Willkommensschild ersetzt durch einen Kranz aus Weinranken. Grellblaue Metallstühle auf der Veranda, Farbtupfer in der Berglandschaft .
Mein Telefon brummte wieder – zwei Nachrichten von Ben Collins.
Ich hole Sie in einer halben Stunde ab.
Brauche immer noch Ihre Adresse.
Ein Mann trat aus der Haustür, ging die Verandatreppe hinunter auf das Auto zu, das neben dem Haus geparkt war – aber er blieb stehen, als er mich sah. Änderte die Richtung, kam auf mich zu.
Ich antwortete Detective Collins: Tut mir leid, mir ist etwas dazwischengekommen. Treffe Sie auf der Gedenkfeier.
Der Mann kam langsam die Auffahrt hoch, und ich ließ das Fenster herunter, tausend Entschuldigungen auf der Zunge.
»Wir sind gerade eingezogen«, sagte er lächelnd. Er war vielleicht so alt wie mein Vater, als er starb. Aber in meiner Erinnerung erschien er mir immer jünger. »Es ist nicht mehr auf dem Markt.«
Ich nickte. »Ich hab als Kind hier gewohnt. Tut mir leid. Ich … wollte nur sehen, wie es jetzt aussieht.«
Er blickte über die Schulter. »Schön, oder? Viel Geschichte hat dieser Ort.«
»Ja. Entschuldigen Sie die Störung. Ich war gerade in der Gegend …«
Die Sonne spiegelte sich im Windspiel über der Veranda, und er wippte auf seinen Hacken. Ich kurbelte das Fenster hoch, ließ den Motor an.
Parker hatte mir alles genommen, und ich konnte immer noch nicht beweisen, dass er es war. Aber ich wusste, dass es noch eine Stelle gab, an der ich nachsehen konnte, und es gäbe nur eine einzige, letzte Chance, das zu tun.
Mein Herz hämmerte gegen meine Rippen. Es war Zeit zu gehen. Sadies Gedenkfeier würde bald beginnen.
Alle würden da sein.