Kapitel 29
Rauch stieg aus dem Mülleimer auf, die Luft gefährlich und lebendig. »Sie wussten es«, sagte ich und trat zurück.
Detective Ben Collins stand zwischen mir und der Tür, sah mich nicht an. Systematisch ließ er Seite um Seite in den Mülleimer fallen. Jedes Beweisstück, das ich ihm gegeben hatte, alles. Eins nach dem anderen wanderte in den brennenden Abfall. Er hatte mein Handy. Meinen USB-Stick. Die Beweise für die Zahlungen …
Die andere Zahlung, die Sadie gefunden und kopiert hatte, gesichert auf dem USB-Stick neben der an meine Großmutter. Sie war an ihn gegangen. »Die Lomans haben auch Sie bestochen«, sagte ich.
Endlich sah er mich an. Ein Mann, in Teile geschnitten, wie aus einem Negativraum. »Es war ein Unfall. Wenn das hilft – er hat es nicht mit Absicht getan. Ein Jugendlicher, der an mir vorbeiraste, wie eine Fledermaus aus der Hölle, mitten in der Nacht. Ich wusste nicht, dass es Parker Loman war, als ich ihn verfolgte – er sah das andere Auto nicht kommen. Die Lichter müssen sie geblendet haben. Beide kamen von der Straße ab, aber das andere Auto …«
»Das andere Auto
…«, ich keuchte. Meine Eltern
. Da waren Menschen drin gewesen. Menschen, die mir genommen worden waren.
Wie lange hatte er gewartet, bis er den Krankenwagen rief, nachdem Parker Loman aus dem Auto gestiegen war? Hatte
Parker ihn gebeten zu warten, während er seine Hand auf den Schnitt auf seiner Stirn gepresst hatte, sah, was er getan hatte? Oder war Grant Loman gekommen, hatte alles erklärt, ihn überzeugt, seinen Sohn gehen zu lassen – dass nichts mehr zu machen sei, es keinen Sinn habe, noch ein Leben zu ruinieren –, eine Bitte, aber auch eine Drohung?
Waren meine Eltern verblutet, während er wartete? Hatten Sie dagegen angekämpft, gegen die Dunkelheit, während ein junger Ben Collins sein eigenes Leben gegen ihres aufgewogen und seine Wahl getroffen hatte?
Der Mülleimer knisterte, Hitze breitete sich zwischen uns aus, während wir auf entgegengesetzten Seiten des Schreibtischs standen.
»Avery, hören Sie zu, wir waren alle jung.«
Das verstand ich, oder? Die schrecklichen Entscheidungen, die wir trafen, ohne klar bei Verstand zu sein. Instinktiv, emotional oder in einem drastischen Schritt, einfach, damit die Dinge aufhörten. Sich änderten.
»Ich denke oft daran«, sagte er. »Ich glaube, das machen wir alle. Und jetzt tun wir unser Bestes, jeder von uns. Es war furchtbar, aber die Lomans sind mit diesem Ort durch dick und dünn gegangen, haben ihn unterstützt, haben wo immer sie konnten, etwas zurückgegeben. Ich habe eine Entscheidung getroffen, als ich dreiundzwanzig war, und ich versuche seitdem, damit Frieden zu schließen.« Er streckte eine Hand zur Seite aus. »Ich habe diesem Ort alles
gegeben.«
Seine Augen waren jetzt geweitet, als würde er mich anbetteln, es zu sehen – den Menschen, der sich in seinen Augen spiegelte. Den besseren Menschen, der er geworden war. Es stimmte, wenn ich darüber nachdachte – er war immer überall dabei, freiwillig. Organisierte die Paraden, die Veranstaltungen. War der, den die Menschen baten, einem Komitee beizutreten. Aber das Einzige, was ich sehen konnte, war die
Lüge. Alles, was er jetzt war, sein ganzes Wesen, baute darauf auf.
»Sie sind tot
!«, schrie ich da. Endlich etwas, auf das ich meine Wut richten konnte. Statt noch tiefer in mich selbst zu versinken.
Er zuckte zusammen. »Was wollen Sie, Avery?« Sachlich. Als wäre alles im Leben eine Verhandlungssache.
Ich schüttelte den Kopf. Er war so ruhig, und das Knistern der Flammen fraß die Luft, zerstörte alles noch einmal.
Ich musste aus diesem Zimmer raus, aber er versperrte den Weg.
Ich wich instinktiv zurück an die Wand.
»Wir reden mit Grant, finden eine Lösung. Okay?«, sagte er.
Doch natürlich konnte er das nicht tun.
»Sadie«, sagte ich und verstand endlich. Ihr Fehler war auch meiner – sie hatte der falschen Person vertraut. Mein Leben war ihr Leben. Sie muss genau denselben Weg gegangen, auf seinen Namen gestoßen sein – und geglaubt haben, er würde ihr die Wahrheit erzählen. »Sie haben sie umgebracht«, flüsterte ich und schlug mir bei dieser Erkenntnis vor Grauen die Hand vor den Mund.
Er war der Mann gewesen, der sie zur Party gebracht hatte. Der Mann, den niemand gesehen hatte.
Seine Augen schlossen sich, und er schreckte zurück. »Nein«, sagte er. Aber voller Verzweiflung, wie eine Bitte.
Vor meinem inneren Auge sah ich noch einmal alles vor mir – drei Schritte zurück, sie fand Ben Collins in dem Artikel, genau wie ich. Fragte ihn, ob er sie abholen könne, lotste ihn zur Party. Sadie, voller Macht durch das, was sie entdeckt hatte, in dem Glauben, sie hätte alle da, wo sie sie haben wollte – für einen letzten vernichtenden Schlag. Sie hatte die Spur des Geldes versteckt; sie brauchte nur noch ihn. Das Geld, das
sie von der Firma gestohlen hatte – dafür. Für ihn. Die Gefahr hatte sie nie gesehen. »Alles, was sie von Ihnen wollte, war die Wahrheit«, sagte ich.
Er blinzelte zweimal, das Gesicht stoisch, bevor er sprach. »Was soll das jetzt noch bringen? Ich würde uns alle zugrunde richten. Und wofür? Wir können die Vergangenheit nicht ändern.«
Wofür?
Wie konnte er das fragen? Für Gerechtigkeit. Für meine Eltern. Für mich.
Um endlich die Wahrheit auszusprechen: Parker war verantwortlich für den Tod meiner Eltern. Denn in dieser Familie hatte es einen immerwährenden Machtkampf gegeben, und Sadie musste endlich einen Weg gefunden haben, ihren Bruder zu Fall zu bringen. Ein kalkulierter, fataler Schritt.
Aber noch etwas war hinter der verschlossenen Tür auf der Party passiert. Sie hatte Ben Collins falsch eingeschätzt. Hatte sie ihm ihre Sichtweise dargelegt, ihm das Geld angeboten, geglaubt, er sei auf ihrer Seite – bevor er zugeschlagen hatte? Oder hatten sie gestritten, hatte sich die Gefahr langsam von Worten in Gewalt verwandelt, bis es zu spät war?
»Das Blut im Bad. Sie haben sie verletzt
«, sagte ich flüsternd. Kein Auto, das ein anderes unabsichtlich von der Straße gedrängt hatte. Sondern Hände und Fäuste auf Fleisch und Knochen.
»Sie ist ausgerutscht«, sagte er. »Es war ein Unfall«, wiederholte er. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und bin in Panik geraten. Nichts hätte sie zurückgebracht.«
Aber seine Worte waren leer, hohle Lügen. Sadie hatte geatmet. Er musste gewusst haben, dass sie noch lebte. Warum hätte er sie sonst zu den Klippen bringen sollen? Das Wasser in ihrer Lunge, die Tatsache, dass es wie Selbstmord aussehen könnte, das Platzieren ihrer Schuhe – der letzte Schritt seiner Vertuschung. Mit kühlem, klarem Verstand hatte er das Ende
eines Lebens geplant, um das zu retten, was von seinem noch übrig war.
Hatten die Lomans ihn schon vor Jahren zum Mörder, zum Komplizen gemacht? Die Grenzen seiner eigenen Moral verschoben, bis er auch das hier rechtfertigen konnte?
Er drehte den USB-Stick noch einmal in der Hand, steckte ihn dann in die Tasche. »Sie hat mir erzählt, dass noch jemand Beweise haben würde. Ich hab mir immer gedacht, dass Sie das sind.«
Nur dass ich es nicht war. Es war Connor, auch wenn er es nicht wusste. Deshalb wollte Sadie ihn auf der Party haben, hatte sie beide dorthin gebracht. Sicherheit durch Wissen, durch eine Mehrheit. In einer Menge.
Auf dem Schreibtisch lag nichts mehr außer dem Artikel über den Unfall meiner Eltern. Als würde er alle Spuren von Sadie noch einmal löschen.
»Sie war wach«, sagte ich. »Sie hat versucht, aus dem Kofferraum zu entkommen. Ich hab Beweise.« Die zumindest konnte er in diesem Zimmer nicht vernichten.
Da veränderte sich alles. Sein Gesicht, der Rauch, das Knistern der Flammen.
»Ihr Kofferraum«, sagte er monoton. »Das Telefon, das Sie
gefunden haben, die Person, mit der Sie
gekämpft haben, Beweise in Ihrem
Kofferraum. Die Tochter der Familie, die Sie gerade gefeuert
hat. Sie wollen das nicht tun, glauben Sie mir.« Als wäre ich ein Niemand. Machtlos, damals und heute. Die Person, die er beschuldigen würde. Die Person, die bezahlen würde.
Nun verstand ich, warum er uns immer wieder über die Party befragt hatte. Er wollte herausfinden, wer ihn oder Sadie gesehen haben könnte. Wer vielleicht beobachtet hatte, wie er ihren schlaffen Körper nach draußen brachte. Wie er ihn von den Klippen geworfen oder hinterher mein Auto
zurückgebracht hatte oder allein zum Parkplatz der Pension gegangen war.
Und dann war ich da. Er sah mich auf den Klippen, als er ihre Schuhe »fand«. Seine Fingerabdrücke mussten darauf sein, wenn er derjenige war, der sie gefunden hatte. Er hatte dasselbe von mir gesagt, als ich ihm Sadies Handy gebracht hatte.
Deshalb hatte er mich befragt, immer wieder, über die Nacht. Mich in den Verhören so intensiv angesehen, er suchte nach dem, was ich verbarg. Er fürchtete, dass ich mehr wusste, als ich sagte.
Das letzte Puzzleteil. Die unausgesprochene Frage, die er in der Nacht stellte: Hatte ich ihn
gesehen?
»Sagen Sie mir einfach, was Sie wollen«, sagte er und griff nach dem Artikel auf dem Schreibtisch.
»Halt«, sagte ich und langte selbst danach – was für ein blödsinniges Teil, um sich daran festzuhalten. Ich könnte ein anderes gedrucktes Exemplar oder eine Datei davon finden. Aber es ging um die Tatsache, dass mir schon wieder etwas weggenommen wurde, ohne meine Erlaubnis.
Ich hatte das Blatt in der Hand, aber er langte in meine Richtung, griff nach meinem Arm.
Kristallklar.
Dieser Mann hatte Sadie umgebracht, weil sie die Wahrheit kannte. Ich würde keine Chance bekommen, meine Unschuld zu beweisen, meine Seite des Falls zu präsentieren. Er hatte getötet, um sich zu schützen – aus keinem anderen Grund. Und nun war ich die Bedrohung.
Ich riss mich los und rannte um den Schreibtisch herum zur Tür. Er langte wieder in meine Richtung, stieß den Mülleimer um, die Papiere kippten aus, in einer Spur aus Glut und Flammen. Griffen auf den Teppich über. Seine Augen weiteten sich.
Ich rannte. Stolperte aus dem Zimmer, Ben Collins’ Schritte hinter mir. Er rief meinen Namen, der Geruch von Rauch
folgte. Auf der Treppe würde er mich zu leicht schnappen – dieser offenen, luftigen Spirale. Also tauchte ich im nächsten Raum unter, schlug die Tür hinter mir zu.
Sadies Zimmer.
Es gab keine Schlösser. Und keine Verstecke. Alles war dazu bestimmt, die sauberen Linien zu betonen. Der kahle Holzfußboden unter dem Bett. Der offene Raum. Kein Platz für Geheimnisse hier.
Der Feueralarm ging los, ein gleichmäßiges hohes Heulen.
Vielleicht würde die Feuerwehr kommen. Aber nicht schnell genug.
Ich zog ihre Glasbalkontüren auf, ließ den Stoff hineinwehen. Es war zu tief, um zu springen. Das einzige Zimmer, aus dem man gefahrlos springen konnte, war das große Schlafzimmer, mit dem Grashang unter dem Balkon – an dem Connor, Faith und ich vor Jahren hochgeklettert waren.
Alles, was ich tun konnte, war, mich gegen die Wand neben ihrer Zimmertür zu pressen, bevor diese aufflog. Ben Collins ging geradewegs zu den offenen Türen über der Terrasse, beugte sich vor – spähte hinunter. Und diesen Moment nutzte ich, um den Flur hinunter in die andere Richtung zu rennen.
Er muss meine Schritte gehört haben – alles hallte hier –, denn er rief wieder meinen Namen, seine Stimme donnerte über den Feueralarm hinweg.
Aber ich war am anderen Ende des Flurs, aus dem Büro zwischen uns drang Rauch.
Ich knallte die Tür des großen Schlafzimmers hinter mir zu und rannte zum Balkon. Schwang ein Bein über das Geländer, hing an meinen Fingerspitzen, stellte mir Connor unter mir vor, meine Füße auf seinen Schultern. Ein Fall aus zwei Metern Höhe. Ich konnte das.
Als ich losließ, hörte ich, wie die Tür sich öffnete, der Aufschlag stauchte mich zusammen. Ich stolperte, richtete mich
auf und rannte zum Klippenpfad. Ich schrie um Hilfe, aber meine Rufe wurden vom Tosen der Wellen geschluckt.
»Halt!«, rief er, zu nah – nah genug, dass ich nicht nur seine Worte, sondern auch seine Schritte hören konnte. »Nicht weglaufen!«
Zeugen. Alles, an was ich denken konnte war: Zeugen
. Sadie war hinter einer verschlossenen Tür gewesen, in einem verschlossenen Kofferraum. Niemand hatte sie kommen oder gehen sehen.
Ich war keine Kriminelle, die vor der Polizei wegrannte. Ich war nicht das, was seine Geschichte aus mir machen würde.
Die Umrisse eines Mannes tauchten am Endes des Klippenpfades auf, und ich stieß fast mit ihm zusammen, dann erkannte ich ihn. Parker. »Was ist …«
Ich stolperte zurück, und Detective Collins blieb stehen, nur ein paar Schritte von uns beiden entfernt. Das Wasser schlug an die Felsen hinter uns. Die Stufen zum Breaker Beach waren so nah, schon in Sichtweite …
»Er hat sie umgebracht!«, brüllte ich. Ich wollte, dass noch jemand uns hörte, jemand uns sah.
»Was?« Parker sah von mir zum Detective, zurück zum Haus – von wo das Heulen des Feuermelders uns nur schwach erreichte.
»Sie weiß von dem Unfall«, sagte Detective Collins schwer atmend. Lenkte ab, konzentrierte sich neu. Ich sah zwischen beiden hin und her, fragte mich, ob ich die Gefahr wohl nur verdoppelt hatte. Wozu jeder von ihnen in der Lage wäre, um seine Geheimnisse zu bewahren. Der Detective hatte die Hände in seine Hüften gestemmt, während er sich anstrengte, wieder zu Atem zu kommen. Er schob seinen Mantel zur Seite, und eine Waffe kam zum Vorschein.
Parker wandte sich mir zu, seine dunklen Augen forschend. »Ein Unfall«, sagte er, die Worte undeutlich. Das Gleiche, was
Detective Collins gesagt hatte, was auch Parkers Eltern gesagt haben mussten – die Zeilen, an die Parker sich hielt. Und doch fiel mir vor allem auf, was er nicht sagte: Weder er noch seine Schwester waren je zu einer Entschuldigung fähig gewesen.
Parker sah den Detective an. »Haben Sie es ihr erzählt?«
»Sadie wusste es«, sagte ich, bevor er antworten konnte. Mir hatte es niemand gesagt. Sadie hatte mich dahin geführt. Meine Schritte in ihren Schritten. Aber nun waren nur wir drei hier und das brutale Meer unter uns, die ganzen schrecklichen Geheimnisse, die es barg. »Sie hat die Wahrheit herausgefunden, und er hat sie ermordet.«
Der Detective schüttelte den Kopf, trat näher. »Nein, hören Sie zu …«
Parker blinzelte, als eine Welle unter uns brach. »Was hast du gesagt, Avery?«
Aber ich bekam keine Chance mehr zu antworten.
Der Detective muss es in Parkers Augen gesehen haben, genau wie ich. Das plötzliche Aufwallen des Zornes, die sich sammelnde Wut, bis etwas Fremdes in seinem Blut brannte. Detective Collins griff nach seiner Waffe, gleichzeitig stürzte Parker sich auf ihn.
Ich konnte nicht sagen, wer sich zuerst bewegt hatte. Was die Aktion und was die Reaktion war. Nur dass Parker auf ihm war in dem Moment, als der Detective die Pistole in der Hand hatte – aber er schaffte es nicht mehr, sie richtig festzuhalten, zu zielen, wo immer er hinzielen wollte.
Es brannte in Parkers Knochen – sein Leben balancierte auf einem Angelpunkt, als er Ben Collins nach hinten stieß, dem die Waffe aus der Hand fiel.
Sie traf den Felsen, ein Schuss löste sich. Der Knall ließ uns alle innehalten. Ein Schwarm Vögel flog auf, als unser aller Leben sich änderte – die entscheidende Wende. Ich sah es zuerst in den geweiteten Augen von Ben Collins. Verzweifelt versuchte
er, sich mit seinen leeren Händen an mir festzuhalten. Er stolperte einmal, zweimal, bis die Wucht ihn nach hinten warf, in die Luft.
Ich sah zu. Sein farbiges T-Shirt, wie es hinter der Klippenkante verschwand. Dann nichts, nichts, nichts mehr. Nur das Geräusch des Wassers, das unten gegen die Felsen schlug.
Und dann hörte ich den Schrei.
Die Bewohner von Littleport waren unten am Strand versammelt, wandten sich uns zu, um Zeugnis abzulegen.