Er wachte schweißgebadet auf, immer noch gefangen in der Gewalt des Traums. Sein Herz schlug heftig, und einen Moment lang spürte er eine lebendige Präsenz ganz in seiner Nähe, die ihn so sehr erschreckte, dass er kaum atmen konnte. Er fühlte sich ausgeliefert, wie nach einer Invasion. Er setzte sich im Bett auf und sah sich verwirrt um. Wo zum Teufel war er? Der Raum war dunkel, bis auf einen Streifen roten und blauen Neonlichts, das auf dem Vorhang blinkte. Er erkannte weder den schmuddeligen Teppich noch die leeren Bierflaschen oder den Geruch von abgestandener Pizza. Dann fiel es ihm wieder ein: Er war in einem alten Motel in einer winzigen Stadt hoch oben in den Adirondack Mountains. Er war eingeschlafen und hatte einen Wahnsinnstraum gehabt.
Connie stand neben dem Bett und knurrte. Sie war scharfsinnig, scharfsinniger als manche Menschen, die er kannte. Sie spürte, dass etwas Ungewöhnliches in der Luft lag, und sie rannte um das Bett herum und bellte wie verrückt, als würde sie Beute jagen. Er stand auf, nahm sie in den Arm und kraulte sie hinter den Ohren, um sie zu beruhigen. »Alles gut, mein Mädchen«, sagte er. »Es war nur ein Traum.«
Er warf einen Blick auf den digitalen Wecker und sah, dass es kurz nach drei Uhr morgens war. Zu früh, um aufzustehen, also atmete er tief durch, ließ sich aufs Kissen zurücksinken und versuchte wieder einzuschlafen. Schlaflosigkeit war etwas, woran er gewöhnt war. Seit seiner Verletzung hatte er Methoden entwickelt, um seinen Geist zu beruhigen. Doch egal, wie sehr er sich in Meditation übte, egal, wie erschöpft er sein mochte – wenn er das Licht ausschaltete, leuchtete sein Gehirn auf. Muster schwebten hinter seinen Augen, ein riesiges Geflecht geometrischer Formen – Gitter, Netze, kristalline Fraktale – und Zahlen, endlose Zahlenreihen. Zuerst hatte er versucht sie einfach zu ignorieren, aber dann bemerkte er, dass er sein Gehirn nur dann in den Griff bekommen – und einschlafen – konnte, wenn er sich der Flut der Muster ergab. Er ließ sich auf die Formen ein, berechnete Gleichungen, stapelte Buchstaben in Spalten und Diagonalen, bildete Wörter und stellte sie dann zu Anagrammen und Palindromen um, konstruierte im Kopf kunstvolle Logikrätsel, bis er alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatte und einschlief.
Er erinnerte sich an jene Nacht, als er seiner Mutter von der Gabe erzählt hatte. Er war von Angst und Verwirrung überwältigt worden. Es war der Tiefpunkt seines Lebens gewesen, ein Moment, in dem er sich nicht sicher war, ob er weiterleben konnte. Es hatte ihn erschreckt, dass sein eigener Körper sich so rücksichtslos gegen ihn wendete. Und dann zeichnete er das Lo Shu für seine Mutter. Er beschrieb, was geschah, all die chaotischen Dinge, die er sah, und sie hatte ihm geglaubt.
Diese Nacht war der Wendepunkt gewesen. Am nächsten Tag begannen er und seine Mutter, sich nach Hilfe umzusehen. Innerhalb eines Monats fanden sie Dr. Trevers, den renommierten Neurowissenschaftler, der sich auf Hirntraumata spezialisiert hatte. Mike unterzog sich einer Reihe von Tests und erfuhr, dass seine Hirnverletzung zu einem extrem seltenen Zustand geführt hatte, dem sogenannten Savant-Syndrom. Nur etwa dreißig Menschen auf der Welt besaßen eine solche Inselbegabung, und die meisten von ihnen verfügten in unterschiedlichem Maße über außergewöhnliche Fähigkeiten. Bei Mikes Tests wurde festgestellt, dass er besondere räumliche und mechanische Begabungen besaß. Er verfügte über ein fotografisches Gedächtnis, das es ihm ermöglichte, Bilder und Strukturen perfekt wiederzugeben, und besaß die Fähigkeit, in Sekundenschnelle numerische Berechnungen durchzuführen, einschließlich der Zuordnung eines beliebigen Datums zu einem Wochentag, des Aufsagens von Tausenden Nachkommastellen der Zahl Pi und des Abrufens numerischer Lösungen für komplexe Gleichungen binnen weniger Sekunden. Seine Verletzung hatte eine Tür geöffnet, die ihm den Zugang zu Bereichen des Gehirns ermöglichte, die den meisten Menschen verschlossen waren. »Sehen Sie sich nicht als geschädigt«, sagte Dr. Trevers. »Verstehen Sie sich als jemanden, der eine Superkraft besitzt. Wenn Sie lernen, sie zu kontrollieren, können Ihre Fähigkeiten die Welt verändern.«
Mit Hilfe von Dr. Trevers erkannte Mike, dass er mit seiner neuen Realität leben und gedeihen konnte. Mit etwas Training, so versicherte ihm Dr. Trevers, würde er in der Lage sein, die eher beängstigenden Aspekte seiner Gabe in den Griff zu bekommen – zum Beispiel ließen sich Schlaflosigkeit und fieberhaftes Denken durch Meditation bändigen. Mike las die Memoiren eines Briten, der sich in der gleichen Lage befand. Er schrieb Sätze wie Ich wusste Dinge, die über meine eigene Existenz hinausgingen und Irgendwie wusste ich Dinge, die ich nicht wusste. Dieser Mann hatte weder höhere Mathematik noch Chiffren studiert, und er war nie gut darin gewesen, sich Daten oder Gelesenes zu merken. Und doch empfing er Informationen, als kämen sie aus einer anderen Dimension.
Diese Beschreibung stieß bei Mike auf große Resonanz. Er wusste nicht, woher er die Dinge wusste, die er wusste; er wusste sie eben. Formen und Muster tauchten einfach in seinem Kopf auf. Seine Verletzung war wie eine Spitzhacke, die eine Wand durchbrochen hatte und eine Wissensflut freisetzte. Es strömte in ihn hinein und füllte ihn mit einer schwindelerregenden Fülle an Informationen. Er lernte nicht. Er empfing lediglich.
Mike spielte nie wieder Football. Er stürzte sich in das Sammeln von Rätselbüchern aller Art: Kreuzworträtsel, Worträtsel, Knobelaufgaben, mathematische Spiele, Labyrinthe, Sudoku. Und er begann, selbst Rätsel zu entwickeln. Die Konstruktion eines Rätsels half ihm, den Wildwuchs an Mustern auf ein einziges Problem zu konzentrieren, und lieferte ihm ein Ventil für seine Phantasie. Er erstellte ein Kreuzworträtsel, das um das Thema Profifootball kreiste, und schickte es an die Rätselseite von The Plain Dealer. Sie veröffentlichten es, schickten ihm einen Scheck über fünfzig Dollar und nannten ihn als Verfasser. Er versuchte nicht, sich an die Person zu klammern, die er hätte sein können. Er lenkte sein Leben um, so wie Wasser, das von einem Felsbrocken abgelenkt wird, seinen Lauf ändert, schnell und vollständig weiterfließt, zu sehr gefangen in seiner Dynamik, um über das nachzudenken, was verloren ging.
Statt mit einem Football-Stipendium aufs College zu gehen, ging er ans MIT, wo er seine Begabung für sich nutzte. Er studierte Mathematik mit Schwerpunkt Topologie und stellte fest, dass seine Fähigkeiten ihm umgehend einen Vorteil verschafften. Am MIT wimmelte es von den brillantesten Köpfen der Welt, und doch entdeckte er, dass er schneller war als andere Studenten – er lernte selten, beendete Tests als Erster und merkte sich mühelos lange Passagen aus Lehrbüchern und Vorlesungen. Seine Dozenten erkannten, dass er außergewöhnlich war, und er wurde in Eliteprogramme aufgenommen, durfte schon im vorletzten Studienjahr Graduiertenkurse belegen und beendete das Studium mit summa cum laude und der Aufnahme in die Phi Beta Kappa, verbunden mit der Einladung, als Doktorand zurückzukehren.
Während ihm die intellektuellen Erfolge leichtfielen, war es jedoch schwieriger für ihn, persönliche Beziehungen zu knüpfen. Dieselbe Gabe, die ihm ein blitzschnelles Gedächtnis und die Fähigkeit verlieh, komplexe Gleichungen in Sekundenschnelle zu lösen, behinderte seine Fähigkeit, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Gesichtsausdrücke waren für ihn zum Beispiel schwer zu deuten, und manchmal übersah er einfache körperliche Hinweise, missverstand die Bedeutung eines Blicks, verwechselte einen Witz mit einer boshaften Bemerkung oder eine Geste der Zuneigung mit Unmut. Während er ein fotografisches Gedächtnis besaß, soweit es um Muster ging, wurden andere Arten von Erinnerungen mit der Zeit diffuser und verschwanden schließlich ganz. Er konnte sich an bestimmte Einzelheiten von Menschen erinnern – an ihre Telefonnummern, an zwanzig Anagramme ihres Namens, daran, dass das Muster der Sommersprossen auf ihrer linken Hand dem Sternbild der Kleinen Wasserschlange ähnelte –, aber es gab Momente, in denen er Probleme hatte, Gefühle zu erkennen. Was Menschen über sich selbst ausdrücken wollten, was sie von ihm wollten.
Es war eine subtile Herausforderung, von der nur Mike wusste, eine Achillesferse, mit der er umzugehen lernte. Er beobachtete seine Kommilitonen und Professoren sorgfältig und merkte sich, wie sie ihre Gedanken und Gefühle ausdrückten, um sie besser deuten zu können: Ein Freund berührte immer sein Kinn, wenn er nervös war; ein Mädchen in einem seiner Seminare blähte die Nasenflügel, wenn sie herausgefordert wurde; eine Literaturdozentin schnalzte mit der Zunge, um ihre Bestürzung auszudrücken. Er begann, Gefühlsäußerungen als Symbole zu sehen. Er katalogisierte sie in seinem Kopf und schuf eine Art Lexikon, in dem er Ausdrücke und emotionale Gesten festhielt, als wären sie Schlüssel zu einem Rätsel. Sehnsucht, Angst, Liebe, Unsicherheit – menschliche Gefühle waren eine grammatikalisch komplexe Fremdsprache, die er unbedingt beherrschen wollte.
Meistens bemerkte niemand, dass er sich schwertat, eine zwischenmenschliche Beziehung herzustellen. Wenn doch, dachten sie, er sei abgelenkt oder einfach ein typischer zerstreuter Mathestudent. Aber das Gefühl der Ausgeschlossenheit war bitter für ihn, und er bemühte sich sehr, Freunde zu finden. Er wünschte sich eine romantische Beziehung, jemanden, dem er nahe sein konnte, jemanden, der ihm etwas bedeutete und umgekehrt. In der Highschool war er beliebt gewesen und hatte nie Probleme gehabt, Mädchen um ein Date zu bitten, aber damals war alles einfacher gewesen. Als er wieder einmal eine Gelegenheit vermasselte, mit einer Frau auszugehen, die er begehrte – er lud sie zum Essen ein, und sie reagierte auf eine Art und Weise, die für ihn nicht zu lesen war –, fragte er sich unwillkürlich, ob er wohl für immer allein bleiben würde.
Er schilderte das Problem Dr. Trevers, zu dem er noch immer Kontakt hatte; wöchentlich telefonierte er mit ihm, und wann immer er nach Ohio kam, schaute er in seiner Praxis vorbei. Der Neurowissenschaftler vermutete, dass Mike an einer häufigen Nebenwirkung eines Schädelhirntraumas litt: einer Störung seiner Fähigkeit, Gefühlsäußerungen zu erkennen und zu verarbeiten. Vielleicht lag ja eine Schädigung des frontalen Kortex vor, die bei den ersten Untersuchungen nicht entdeckt worden war. Er schlug ein weiteres MRT vor und überwies ihn an einen Spezialisten in Boston. Als die Ergebnisse zurückkamen, zeigte das MRT, dass sein Frontallappen völlig in Ordnung war. Dennoch wurde Mike von der Möglichkeit einer Abkopplung geplagt und drängte sich selbst dazu, sich der Gefühle anderer Menschen extrem bewusst zu sein, wobei er die Emotionen anderer oft überanalysierte.
Mike wusste, wie viel Glück er gehabt hatte. Seine Verletzung hätte ihn lähmen oder Schlimmeres zur Folge haben können. Irgendwie hatte er seinem Schicksal getrotzt und war mit leichten Verletzungen davongekommen. Er hatte überlebt. Und doch wollte er mehr als nur überleben. Es gab Zeiten, in denen ihm andere Menschen unerreichbar schienen. Nach einem Date wusste er nicht, ob sie ihn wiedersehen wollte. Er kam aus einer Besprechung mit einem Redakteur bei der New York Times und hatte keine Ahnung, ob der mit seiner Arbeit zufrieden war. Er versuchte, Anschluss bei Kollegen zu finden, aber es gelang ihm nicht. Er hatte die freie Wahl, was Freundinnen betraf – seine Bekanntheit und sein gutes Aussehen eröffneten ihm endlose Möglichkeiten –, aber der Funke sprang nie über. Es war, als würde er hinter einer dicken Glasscheibe zwischen sich und der restlichen Welt leben: Er sah jeden klar und deutlich, und sie sahen ihn ebenfalls, aber seine Fähigkeit, andere zu erreichen, war abgestumpft, verzerrt. Und es fiel ihm schwer, überhaupt irgendeine Art Beziehung zu Menschen auf der anderen Seite der Barriere aufzubauen. Doch bei Jess Price hatte er nicht so empfunden. Es hatte keine Barriere gegeben. Es war überhaupt nichts zwischen ihnen gewesen.