Am nächsten Morgen holte Dr. Thessaly Moses Mike am Eingang der Haftanstalt ab.

Er hatte Connie mit ausreichend Futter und Wasser bis zum Mittagessen im klimatisierten Motel zurückgelassen. Zwar hätte er sie gern mitgenommen, aber es wäre kompliziert gewesen, die nötige Genehmigung für einen Hund zu bekommen, selbst bei ihrem Status als ausgebildeter Begleithund. Als er Dr. Trevers von Connie erzählt hatte, hatte er Mikes Zuneigung zu Connie als therapeutisch eingestuft und sie zu einem »emotionalen Begleithund« ernannt. Anfangs hatte Mike diese Bezeichnung gestört. Warum musste Dr. Trevers alles medikalisieren? Konnte man nicht mal ein Haustier haben, ohne es gleich mit einem Trauma in Zusammenhang bringen zu müssen? Doch als Dr. Trevers ihm eine medizinische Bescheinigung zuschickte, aus der hervorging, dass Conundrum ein »Tier zur emotionalen Unterstützung« war und Mike das Recht hatte, seinen Dackel überallhin mitzunehmen – in Flugzeuge, Regierungsgebäude, Restaurants, Kinos –, war er froh. Er ließ Connie nicht gern allein zurück.

Thessaly führte Mike durch den zentralen Korridor bis ans hintere Ende des Gefängnisses und blieb vor einer verstärkten Stahltür stehen, auf der ein Schild verkündete: Sperrbereich. Rechts neben der Tür befanden sich ein Sensor und ein Tastenfeld. »Ich musste einen Berg Formulare ausfüllen, um eine Freigabe zu bekommen«, sagte sie, zog einen Plastikausweis heraus und zeigte ihn Mike. Er sah einen Code-39-Barcode mit einer Folge von dreiundvierzig Zeichen,

»Ich habe eine Stunde lang Zugang, dann muss ich die Karte wieder bei meinem Vorgesetzten abliefern. Anscheinend ändern sie den Code alle achtundvierzig Stunden. Demnächst werden sie mich noch nach meinem erstgeborenen Kind fragen. Wie dem auch sei …« Thessaly tippte den Code ein. »Wir sollten uns auf die Socken machen.«

Das Tastenfeld piepte, die Tür wurde entriegelt. Mike lehnte sich dagegen und hielt sie Thessaly auf.

»Ich bewundere die Entscheidung des Staates, diese alten Gebäude zu erhalten und weiter zu nutzen«, sagte sie, während sie ihn einen langen dunklen Flur mit abblätternder Wandfarbe und abgewetztem Linoleumboden hinunterführte. »Dass uns Patientenakten zur Verfügung stehen, hat bestimmt auch seine Vorteile. Allerdings sollte man zusätzlich doch genügend Mittel für die Instandhaltung bereitstellen.«

Sie betraten einen vernachlässigten Gang, dessen abgehängte Decke an mehreren Stellen beschädigt war. Einige der Deckenverkleidungen fehlten und gaben den Blick auf die ursprüngliche Decke des alten Ziegelgebäudes frei, dessen Gewölbe und Fenster hoch oben einen Raum aus Licht und Schatten erzeugten.

»Dieser Bereich ist an allen Zugangspunkten gesichert«, sagte Thessaly, »aber es stimmt schon: Wenn es einer Gefangenen gelänge, dort hinaufzukommen, wäre es schwer, sie zu finden. Und sehen Sie«, sagte sie und zeigte nach oben, sodass Mike in etwa sechs Metern Höhe eine altersschwache Stelle des Daches sah, wo Lichtstrahlen hereinfielen. »Das Dach ist beschädigt, was den Schimmel erklärt. Das Wasser sickert einfach durch. Die Justizvollzugsverwaltung verspricht die nötigen Reparaturen schon seit Jahren, aber Gott allein weiß, wann es dazu kommen wird.«

»Das hier sind sämtliche Akten dieser Einrichtung von vor 2019«, sagte Thessaly und führte ihn in ein Labyrinth von Registraturen. Sie waren nach Jahren geordnet: 1993, 1999, 2004. »Jeder Einzelne, der jemals in dieser Einrichtung behandelt wurde, ob an Tuberkulose erkrankt oder als Empfänger einer psychiatrischen Versorgung, hat hier unten irgendwo eine Akte. Es ist wirklich eine Schande, dass so viele Informationen nicht in unserer Behandlungsdatenbank zur Verfügung stehen. Es muss doch möglich sein, eine Finanzierung für die Digitalisierung all dieser Akten auf die Beine zu stellen.«

Schließlich blieb Thessaly vor einem Aktenschrank mit der Aufschrift 2018 stehen.

»Eigentlich müsste ich einen schriftlichen Antrag stellen, um Ihnen oder sonst wem diese Akten zu zeigen«, sagte sie. »Da wir aber keine Zeit für noch mehr Papierkram haben, werden wir so tun, als ob Sie nichts davon gesehen hätten.«

Sie öffnete eine Schublade, blätterte durch die Akten und zog eine dicke Fächermappe heraus, auf der oben der Name Price, Jessica mit Maschine geschrieben stand. Sie warf einen Blick hinein. »Na, sieht so aus, als gäbe es hier unten doch noch was.« Sie führte ihn zu einem Tisch in einer Ecke, wo sie die Mappe ausleerte und den Inhalt vor ihnen ausbreitete. Es waren Hunderte von Seiten, viele Schnellhefter und einige braune Umschläge.

»Wenn er so pedantisch war, warum hatten Sie dann keine Kopie dieser Akten?«

»Das ist die große Frage«, sagte Thessaly und warf ihm einen schiefen Blick zu. »Wollen wir mal sehen, was wir hier haben?«

Thessaly nahm einen Stapel Unterlagen, Mike einen anderen. Eine der Eigenschaften einer räumlichen und mechanischen Inselbegabung war die Fähigkeit, schnell lesen und sich jede einzelne Seite buchstabengetreu einprägen zu können. Diese Fertigkeit interessierte die Menschen ganz besonders, und Mike wurde in Interviews immer danach gefragt. Ihn selbst faszinierte es auch, aber hauptsächlich wegen der weitverbreiteten Missverständnisse darüber. Zum Beispiel liebte er Thriller und Agentenfilme mit Helden, die ein eidetisches oder fotografisches Gedächtnis besaßen, aber meist wurde es völlig falsch dargestellt. Es funktionierte nicht wie ein Scan oder Foto, sondern war vielmehr ein abstrakter konzeptueller Prozess, eine Frage der Auflösung des Bewusstseins, die eine Erinnerung preisgab. Es war unerklärlich, selbst für Mike, aber wenn man ihm einen Stapel von einhundert Seiten vorlegte, hatte er sie in neunzig Sekunden gelesen und behielt jede einzelne Information.

Dr. Trevers hatte diese Fähigkeit gemessen und herausgefunden, dass er 18000 Wörter pro Minute bei einem hundertprozentigen Verständnis lesen konnte und sich perfekt an zufällig aus dem Text ausgewählte Sätze erinnern konnte. Es war kein Schnellleserekord für das Guinnessbuch – der lag bei 25000 WpM und wurde von Howard Stephen Berg gehalten –, aber nicht schlecht für jemanden, der keinerlei Bedürfnis hatte, schnell zu lesen. Seine Fähigkeit, Gelesenes wiederzugeben, hatte ihm allerdings dabei geholfen, beim Zulassungstest für Universitäten eine perfekte Punktzahl zu erhalten und damit eine Fahrkarte zum MIT.

Mike blätterte die Seiten schnell durch und nahm die

»Hier steht eine Menge über Jess’ Behandlung.« Er schob den Stapel beiseite und nahm einen weiteren. »Aber nichts daran scheint außergewöhnlich zu sein.«

Thessaly warf einen Blick auf den Papierstapel, ganz offensichtlich skeptisch, dass er so viele Informationen in so kurzer Zeit erfasst haben konnte. »Es ist ungewöhnlich, dass dies alles hier unten liegt«, sagte sie. »Dr. Raythes Akten sollten sich eigentlich alle in seinem Büro befinden. Warum sollte er hier unten etwas lagern, das er möglicherweise benötigte? Es ist beinahe, als ob Raythe das alles hier absichtlich von seinen offiziellen Akten getrennt gehalten hat.«

»Können Sie sich vorstellen, warum er das getan hat?«, fragte Mike, während er weitere Papiere durchging – Listen mit Arzneiverordnungen, die Jess erhalten hatte, Notizen einer Gruppensitzung, der Bericht eines Wärters über einen Zwischenfall, der mit einer Disziplinarmaßnahme geendet hatte.

»Es ergibt alles keinen Sinn«, sagte Thessaly. »Aber ihre Beziehung ist mir seltsam vorgekommen. Wie gesagt, ich bin erst nach Dr. Raythes Unfall in diese Einrichtung gekommen. Bei meiner Ankunft schien mir Jess deswegen ganz schön aufgewühlt zu sein. Sie weinte, als ich die Sache erwähnte, was sich dann sogar zu einer Panikattacke steigerte, sodass sie sediert werden musste. Ich war überrascht, weil ich mir aufgrund meiner Erfahrungen mit ihr nur

Während Thessaly das erzählte, bemerkte Mike eine glänzende blaue Aktenmappe. Er zog sie unter dem Papierstapel heraus, streifte das Gummiband ab und öffnete sie. Der Inhalt schien so gar nicht zu den übrigen Akten zu passen. Einer von Raythes Berichten war mit einer Klammer an einem dicken weißen Umschlag befestigt, der auf der Vorderseite in Rot gestempelt den Aufdruck vertraulich trug, dazu in der oberen linken Ecke das Logo des Columbia County Sheriff’s Department. In der Seitentasche der Mappe steckte ein braunes ledernes Notizbuch mit einem roten Leseband.

»Was ist das?«, fragte Thessaly und deutete auf die Mappe.

»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Mike. Er nahm den großen weißen Umschlag mit dem Bericht heraus und reichte ihn Thessaly. Sie warf einen kurzen Blick darauf, löste die Klammer und las. »Das hier ist wirklich … merkwürdig«, sagte sie.

Er griff nach dem Bericht, wollte selbst lesen, doch Thessaly hielt ihn fest.

»Dr. Raythe schreibt hier, dass Jess bei ihrer Ankunft Albträume hatte«, sagte sie. »Anscheinend wurde sie zweimal verlegt, weil ihre Schreie die anderen Häftlinge störten, nämlich von Schlafsaal C1 zu Schlafsaal A. Und offenbar hat Dr. Raythe ausgerechnet wegen der Albträume mit ihr kommunizieren können. Hören Sie sich das an.«

Thessaly begann vorzulesen: »Die Patientin schreit nachts. Sie hat Angst vor einer namenlosen Frau, von der sie, wie sie behauptet, verletzt worden sei. Sie wachte in mehreren Nächten auf und flehte das Wachpersonal an, diese Frau fernzuhalten. Es ist das einzige Mal, dass sie in den Monaten seit ihrer Ankunft gesprochen hat, und da ich dies als eine Chance ansah, begann ich, nachts zu arbeiten, um sofort bei ihr zu sein, falls sie mich brauchte. So ist es mir gelungen, mit ihr zu kommunizieren. Sie beschreibt die Ereignisse nicht als Albträume, sondern als Heimsuchungen. Die diensthabenden Wärter berichten jedoch, dass die anderen Häftlinge nicht mal in der Nähe von Jess Price

Thessaly sah ihn an, sichtlich bestürzt, und er erinnerte sich, was sie bei ihrem ersten Treffen zu ihm gesagt hatte: Wenn ich mit ihr zusammen bin, gibt es Momente, in denen ich … Ich weiß nicht, wie ich es genau ausdrücken soll, Angst habe. Mehr als nur Angst. Panik. Als befände ich mich in der Gegenwart von etwas, das größer ist als ich. Etwas Gefährlichem.

»Wow«, sagte er. »Keine leichte Kost, was er da schreibt. Gibt es noch mehr?«

Thessaly drehte Dr. Raythes Bericht um, zeigte eine leere Seite. »Mehr hat er nicht geschrieben. Aber vielleicht wird uns das hier weiterhelfen.« Thessaly nahm den weißen Umschlag und riss ihn auf. Als er sah, dass sie abgelenkt war, blätterte Mike in dem braunen Lederbuch und hielt unwillkürlich die Luft an. Er erkannte Jess’ Handschrift sofort. Bevor Thessaly es bemerkte, ließ er das Tagebuch in seine Gesäßtasche gleiten.

»Was zum Teufel …«, sagte Thessaly und musterte mit gerunzelter Stirn den Inhalt des weißen Umschlags.

»Irgendwas Interessantes?« Mike trat neben sie und versuchte, etwas zu erkennen. Er sah den Rand von etwas, das wie ein Polizeibericht aussah, doch bevor er etwas lesen konnte, schob Thessaly es zurück in den Umschlag.

»Ich bin mir nicht ganz sicher, was das ist«, sagte sie steif, aber ihre Reaktion bezeugte das genaue Gegenteil: Sie hatte etwas gefunden, das sie über alle Maßen interessierte.

Er griff nach dem Umschlag. »Kommen Sie, lassen Sie mich mal sehen. Vielleicht kann ich helfen.«

»Warten Sie kurz, ich hatte gehofft, mir auch noch den Rest von dem hier ansehen zu –«

»Ich denke, das geht leider nicht«, sagte sie, sammelte die Akten ein und drückte sie an ihre Brust.

»Kommen Sie, Thessaly«, erwiderte er in lockerem Tonfall und hoffte, so seine wachsende Verzweiflung kaschieren zu können. Was immer sich in dieser blauen Aktenmappe befand, es könnte ihm helfen zu verstehen, was Jess ihm zu sagen versuchte. »Können Sie mir vielleicht wenigstens verraten, was sich in diesem Umschlag befindet?«

Thessaly sah ihn kühl an. »Ich werde es Ihnen selbstverständlich mitteilen, falls es von irgendeiner Relevanz ist. Aber vorläufig werde ich diese Akten in mein Büro mitnehmen und sie gründlich sichten. Ich muss verstehen, was ich vor mir habe, bevor ich es mit jemandem teile, der nichts mit dieser Haftanstalt zu tun hat.«

Mike nahm das verärgert zur Kenntnis. Sie hatte ihn ins Gefängnis geholt, damit er helfe, und jetzt schloss sie ihn aus. Sie hatten einen Haufen Dokumente gefunden, und er musste sie sehen. Ob gerechtfertigt oder nicht, er glaubte, dass er ein Recht auf diese Informationen hatte. Vielleicht, weil Jess ihm ihre verschlüsselte Nachricht anvertraut hatte, vielleicht auch wegen der intimen Vertrautheit mit ihr in seinem Traum, jedenfalls spürte er eine tiefe Verbindung zu ihr, wie er sie nicht oft erlebt hatte. In nicht einmal vierundzwanzig Stunden war ihm diese Frau wichtig geworden.

»Außerdem«, sagte Thessaly mit einem Blick auf ihre Uhr, »habe ich die Erlaubnis bekommen, dass Sie Jess ein zweites Mal treffen können. Sie wird heute Mittag in der Bibliothek sein. Das ist in genau fünfzehn Minuten. Sie werden pünktlich sein wollen.«