Als er durch das Gefängnistor fuhr, versuchte Mike, sich einen Reim auf das zu machen, was geschehen war. Der vergangene Tag war, gelinde gesagt, eine Achterbahnfahrt der Gefühle gewesen. Er war ohne jegliche Erwartung im Gefängnis eingetroffen und hatte für die kommenden Tage nichts Wichtigeres zu tun gehabt, als sich um Connie zu kümmern und sein wöchentliches New York Times-Rätsel einzureichen. Jetzt verspürte er eine überwältigende Verpflichtung, einer Frau zu helfen, die er kaum kannte. Er verstand es nicht – nicht den Traum, nicht das Rätsel, nicht das seltsame Muster auf ihrer Haut –, aber seine Beziehung zu Jess war anders als alles, was er bisher erlebt hatte. Was als Rätsel begonnen hatte, war zu einer zutiefst persönlichen Aufgabe geworden. Es ging um mehr als die verwirrende Zeichnung, um mehr als Raythes geheime Akte, sogar um mehr als die Wahrheit über Noah Cookes Tod. Die Begegnung mit Jess hatte etwas in ihm verändert, Gefühle in ihm geweckt, die er nie zuvor empfunden hatte, und er musste verstehen, warum.
Nach allem, was Thessaly ihm erzählt hatte, wusste er ohne jeden Zweifel, dass sie in Gefahr waren. Jess hatte versucht, ihn zu warnen; ihr verschlüsselter Text hätte nicht klarer sein können: Raythe wusste es, darum ist er tot. Doch er hatte ihr nicht ganz geglaubt. Er hatte ihre Ängste abgetan, hatte bei Thessaly nach Antworten gesucht, und das, so wusste er jetzt, war ein großer Fehler gewesen. Wenn er Jess’ Warnung ernst genommen hätte, wäre er vorsichtiger gewesen. Er hätte seine Anwesenheit im Gefängnis auf ein Minimum reduziert. Er hätte sich stärker angestrengt, Raythes Akten zu lesen, solange er die Gelegenheit dazu hatte. Er musste wissen, wer dahintersteckte und was sie von Jess wollten. Wenn er das wüsste, bekäme er vielleicht ein Gespür dafür, womit er es zu tun hatte. So wie es aussah, hatte er nicht viele Anhaltspunkte. Thessalys Vorgesetzter hatte angerufen, sein Besuchsrecht war annulliert worden, und er würde verhaftet werden, falls er zurückkehrte. Da war das Rätsel, das Jess gezeichnet hatte, und Thessalys USB-Stick mit den gescannten Dateien. Aber was hatten all diese Elemente gemeinsam? Handelte es sich um Hinweise oder um Sackgassen?
Und dann war da noch der Kerl mit dem Tesla. Er war ganz sicher nicht gekommen, um das Gefängnis zu besichtigen. Er hatte Mike auf dem Parkplatz entdeckt, ihn beim Einsteigen in seinen Wagen beobachtet und dann allem Anschein nach begonnen, ihn zu verfolgen. Mike war überzeugt, dass er das Gefängnis seinetwegen aufgesucht hatte. Aber warum? Was könnte er wollen? Hatte es etwas mit Jess Price zu tun? Oder mit dem Rätsel, das er in ihrem Tagebuch gefunden hatte? Falls ja, was war der Zusammenhang? Und wie war Jess in alles verwickelt? Er fragte sich, ob Raythe aufgrund von Informationen, die er über Jess besaß, getötet worden war, wie ihre geheime Botschaft behauptete, oder ob es nicht doch ein Unfall gewesen war. So wie es aussah, hatte Mike mehr Fragen als Antworten. Er konnte sich in keiner Hinsicht sicher sein. Nur eines stand fest: Es war unmöglich, sich dem Geheimnis um Jess Price zu entziehen.
Ein paar Meilen vom Gefängnis entfernt bog er auf eine kurvenreiche Landstraße ab, die in die Berge führte. Er suchte im Rückspiegel nach dem Tesla. Bis zum Starlite waren es zehn Minuten mit dem Auto, und er wollte keinen Ärger. Er musste zurück zum Motel und in Ruhe die Dateien sichten, die Thessaly gescannt hatte. Je eher er wusste, was sich auf dem USB-Stick befand, desto besser.
Er gab Gas, um so schnell wie möglich den Berg hinaufzukommen. Aus dem Fenster sah er Wälder mit Weymouthskiefern, deren Höhe alles andere klein erscheinen ließ. Er öffnete das Fenster, um die kühle Bergluft hereinzulassen, roch feuchte Erde und Moos und sagte sich, dass alles, was er eben erlebt hatte – die unheimliche emotionale Beziehung, die er zu Jess gespürt hatte, all die Fragen, die unbeantwortet geblieben waren –, ihn in eine logische Richtung führte. Er war in ein Rätsel hineingeraten, und wie bei jedem Rätsel gab es auch hier eine Lösung. Er musste sich lediglich auf das Muster konzentrieren, den Hinweisen folgen und es lösen.
Bei einem weiteren Blick in den Rückspiegel sah er den Tesla in einem gleißenden Sonnenstrahl hinter sich auftauchen. Mike umklammerte das Lenkrad, während er seine Möglichkeiten auslotete: Er konnte versuchen, dem Tesla davonzufahren, oder sich verstecken. Er wusste, sein Pick-up wäre nicht in der Lage, es mit dem Tesla aufzunehmen, und außerdem hatte er auf dem Footballfeld schmerzhaft gelernt, dass ein gutes Ausweichmanöver allemal besser ist, als von hinten zu Boden geworfen zu werden.
In einer Kurve der Landstraße bog er auf einen Feldweg ab, rollte in ein Dickicht aus Immergrün, stellte den Motor ab und wartete, bis der Tesla vorbeigerauscht kam. Erschöpft lehnte er sich auf dem Vinylsitz zurück. Sein Herz raste. Im Schutz der Kiefern, durch die sich das Nachmittagssonnenlicht in hellen Fraktalen brach, atmete er lange und tief ein, zählte bis zehn und atmete dann langsam wieder aus. Für den Moment war er in Sicherheit.
Irgendwie hatte Jess gewusst, was passieren würde. Sie wusste, dass Thessaly ihn aus der Bibliothek eskortieren würde. Sie wusste, dass er aus dem Gefängnis geworfen und sein Zugang blockiert werden würde. Sie hatte damit gerechnet. Aber sie wusste auch, dass er kein Mann war, der einfach so aufgab, dass er, je schwieriger das Rätsel war, desto härter daran arbeiten würde, es zu lösen. Genau deshalb hatte sie ihn ja auserwählt. Wenn er sich einmal ein Rätsel vorgenommen hatte, brachte er es auch zu Ende.