Wäre Connie nicht gewesen, hätte Mike die Berge direkt verlassen, wäre auf dem Highway Richtung Süden nach Manhattan gefahren, um dort die fünf Stockwerke zu seiner Wohnung hinaufzugehen und hinter sich die Tür zu verriegeln. Aber er hatte den Dackel im Motel zurückgelassen, eine Entscheidung, die er jetzt bereute. Nach allem, was im Gefängnis passiert war, fühlte sich nichts mehr sicher an, und das Starlite bot nicht gerade viel Schutz. Es war ihm zwar gelungen, den Kerl im Tesla abzuschütteln, aber er hatte so ein Gefühl, dass sie noch nicht fertig miteinander waren.
Seine Intuition erwies sich als richtig, sobald er auf den Parkplatz des Starlite einbog. Die Tür zu seinem Zimmer war aufgebrochen worden, der Rahmen zersplittert, und zahlreiche Stiefelabdrücke überzogen die Tür.
Er sprang aus dem Pick-up und stürmte in sein Zimmer. Wer auch immer die Tür aufgebrochen hatte, würde vielleicht noch dort sein und auf ihn warten, aber das war ihm egal. Seine Hündin war womöglich in Gefahr. »Connie!«, rief er und suchte den Raum ab. »Connie, wo steckst du?«
Das Zimmer war verwüstet – das Bett umgeworfen, das Bettzeug von der Matratze gerissen –, aber wer immer dafür verantwortlich war, war bereits wieder weg. Und auch seine Hündin schien verschwunden zu sein. Was war mit ihr geschehen? Mike betrat das Bad, wo die Toilettenartikel des Motels – winzige Shampooflaschen und eine kleine Tube Zahnpasta – auf den Boden entleert worden waren. Sogar Connies Futter- und Wassernäpfe waren umgestoßen worden. Er verstand es nicht. Was glaubten die, was er versteckte? Einen Computerchip in einer Tube Zahnpasta? War er etwa in einem Spionageroman gelandet? Welch Ironie – bis vor zwei Stunden, bis zum Fund seines Rätsels in Jess’ Tagebuch, hatte er nicht gewusst, dass er überhaupt etwas zu verbergen hatte.
Selbst wenn es so wäre, würde er es doch niemals in seinem Motelzimmer zurücklassen! Wer schon mal einen Spionagefilm gesehen hatte, wusste, dass man dort zuerst suchen würde. Andererseits war er ja auch leichtsinnig genug gewesen, sein persönliches Passwort in einem Onlinerätsel zu veröffentlichen, also war er vielleicht doch nicht so ausgebufft, wie er meinte.
Plötzlich hörte er das Kratzen kleiner Pfoten auf Asphalt, dann ein vertrautes Kläffen. Er drehte sich um und sah Connie über den Parkplatz springen. Große Erleichterung überkam ihn. Er ging in die Hocke und zerzauste ihr Fell, während sie sein Gesicht ableckte und vor Freude bellte. Er bewunderte ihre Intelligenz. Irgendwie war sie dem Kerl entkommen, der in ihr Zimmer eingebrochen war, hatte sich aus der Tür geschlichen und im Wald versteckt. Sie musste alles von den wilden Brombeersträuchern aus beobachtet haben, die den Parkplatz säumten. »Ich wette, du weißt, wer das war, stimmt’s?«
Er hob Connie hoch, trug sie ins Zimmer, füllte ihren Napf mit frischem Wasser, nahm das restliche Hackfleisch aus dem Minikühlschrank und stellte es vor sie hin. Während sie fraß, lehnte er an der Wand und dachte darüber nach, was er als Nächstes tun sollte. Wenn er an einem Rätsel arbeitete, ging er immer vom einfachsten Punkt aus und arbeitete sich zu den komplizierteren Teilen vor, um einen klaren Angriffsplan zu entwickeln, aber er hatte sich noch nie so verloren gefühlt. Als er in den Ruinen des Motelzimmers stand, wusste er, dass er kurz davor war, sich die Finger zu verbrennen. Er musste reagieren, einen kühnen Schritt unternehmen, und zwar schnell. Nur welchen?
Nun, für den Beginn gab es eine Reihe von Möglichkeiten. Da war der USB-Stick in seiner Hosentasche, auf dem sich Raythes Akten befanden; da war das Tagebuch in seiner Tasche. Er konnte Thessaly anrufen. Mike wusste, der Eintritt in ein Labyrinth entscheidet auch über den Ausgang, aber er war wie gelähmt.
Plötzlich erschien eine Reihe von Punkten vor seinem geistigen Auge. Es fing mit einem gefüllten schwarzen Kreis an, dann folgten neun weitere, die sich zu einem Dreieck anordneten, bis die Tätowierung des Gefängniswärters erschien. Nach dem, was Thessaly über das gelöschte Überwachungsmaterial gesagt hatte, und in dem Wissen, dass ihn jemand im Gefängnis beobachtet hatte, vermutete er, dass der blonde Wärter dahintersteckte.
Das Dreieck hatte Mike vom ersten Moment an beunruhigt. Irgendetwas daran – die Anordnung der Punkte, die elegante, geordnete Struktur – zog ihn in seinen Bann. Es war dasselbe Gefühl, das er auch sonst immer hatte, wenn er auf eine neue Art von Rätsel stieß: Er spürte den Reiz der Herausforderung, das narkotisierende Gefühl, sich in der Suche nach den Geheimnissen des Rätsels zu verlieren, und wenn er es dann gelöst hatte, ein Schwall der Euphorie, ein mächtiger Serotoninausstoß.
Mike ging hinaus zu seinem Pick-up und holte den Laptop unter dem Beifahrersitz hervor. Wenigstens war er klug genug gewesen, ihn nicht in seinem Zimmer zu lassen. Ansonsten wäre er jetzt kaputt oder gestohlen. Er klappte ihn auf, tippte das Passwort ein und ging online. Er gab eine Beschreibung der Tätowierung in eine Suchmaschine ein und sah sich bald mit Dutzenden von Bildern des Dreiecks konfrontiert, die in Form und Aufbau variierten, aber alle die gleiche Bezeichnung hatten. Es war ein Tetraktys, ein aus zehn Punkten bestehendes gleichseitiges Dreieck, das Pythagoras zugeschrieben wurde.
Es war die geometrische Repräsentation der vierten Dreieckszahl und, was vielleicht dem Grund näherkam, warum der Wärter es sich hatte tätowieren lassen, ein Symbol der heiligen Geometrie. Mike gab »heilige Geometrie« und »Tetraktys« ein und fand sich auf einer Website mit esoterischen Informationen über das Dreieck wieder. Der Website zufolge stand das Symbol für den Namen Gottes, das Tetragrammaton – der aus vier Buchstaben bestehende hebräische Name für Jehova. In der Neuzeit wurde das Symbol, sofern man der Seite trauen konnte, am häufigsten von Freimaurern verwendet. Aber nach allem, was Mike über die Freimaurer wusste – was zugegebenermaßen nicht viel war –, war ein Gefängniswärter nicht direkt die Sorte Mann, die in einer solch elitären Geheimgesellschaft willkommen war. Warum also sollte ein Gefängniswärter ein pythagoreisches Dreieck auf seinem Körper tragen? Konnte es noch eine andere Bedeutung haben? Die amerikanische Kultur hatte sich über die rund letzten zehn Jahre ins durchgeknallte Reich der Verschwörungsmythen, Geheimgesellschaften und Endzeitpolitik verirrt. Es würde ihn nicht überraschen, wenn dieser Typ auch ein Tattoo der Bundeslade auf dem Hintern trug.
Trotz der Machenschaften um Gary Sand glaubte Mike nicht an Verschwörungsmythen. Er glaubte nicht an gestohlene Wahlen, an die bevorstehende Apokalypse oder daran, dass Außerirdische die Erde seit Jahrzehnten besuchten. Er glaubte an Zahlen und Fakten, dass zwei plus zwei immer gleich vier war und die Schwerkraft einen Apfel nach unten fallen ließ. Er glaubte an logische Lösungen und dass sich mit der richtigen Methode die Wahrheit herausfinden ließ. Die Geheimnisse der Welt unterschieden sich nicht sonderlich von einem Puzzlespiel. Sie waren allgegenwärtig, und es lag an uns, die Teilchen zusammenzusetzen.
Nachdem er seinen Laptop eingepackt hatte, lud Mike Connie in den Pick-up und fuhr davon, bis er auf dem Highway 87 nach Süden war, wobei er ständig nach dem schwarzen Tesla Ausschau hielt. Etwa eine Stunde später bog er auf einen Rastplatz ab. Als er aus dem Truck stieg, blickte er zurück auf den Highway und sah sich dann auf dem Parkplatz um. Soweit er es beurteilen konnte, war ihm niemand gefolgt. Er hatte etwa alle zehn Minuten in den Spiegel geschaut und nichts Verdächtiges bemerkt.
Er nahm Connie an die Leine, holte Dr. Trevers’ TEU-Bescheinigung aus dem Handschuhfach, für den Fall, dass ihm jemand Schwierigkeiten machen wollte, und überquerte den Parkplatz. Das Rasthaus war ein einstöckiger Backsteinbau mit mehreren Fast-Food-Restaurants auf der einen Seite, Toiletten am anderen Ende und einem Lebensmittelgeschäft auf der linken Seite. Es roch nach Pommes frites und Industrieseife, und von dem ekelerregenden Gestank bekam er leichte Kopfschmerzen. Die Klimaanlage war unangenehm kalt, aber es gab kostenloses WLAN, und er war mehr oder weniger allein in dem Lokal, wie es freitags um sechzehn Uhr zu erwarten gewesen war.
Er besorgte sich bei Subway ein Truthahnsandwich mit extra Mayo und Gewürzgurken und einen Caffè Grande vom Starbucks-Kiosk und setzte sich dann an ein Fenster mit Blick auf die Straße. Er musste wachsam sein. Er war sich zwar sicher, dass ihm niemand gefolgt war, aber das bedeutete nicht, dass nicht doch jemand kommen würde. Sein tomatenroter Pick-up war nicht schwer zu finden.
Er nahm Jess’ Tagebuch aus seiner Kuriertasche und begann zu lesen.