Es war früher Abend, als Mike auf den Parkplatz vor dem Bard’s Fisher Center einbog, einem kantigen, von Frank Gehry entworfenen Gebäude mit einem Exoskelett, das gefaltet und geknickt war wie ein riesiges metallisches Origami. Connie brauchte ein bisschen Bewegung, also ließ er sie auf dem gepflegten Rasen von der Leine, wo sie vor Freude über den strahlenden Sonnenschein und die frische Luft im Kreis rannte, herumsprang, tobte und bellte. Ihre Ausgelassenheit erregte die Aufmerksamkeit einer Gruppe von Kindern, die am anderen Ende der Fläche spielten. Ein vielleicht zehnjähriges Mädchen in einem gelben Kleid pustete Seifenblasen, und Connie, die unbedingt spielen wollte, hüpfte von einer Seifenblase zur nächsten und ließ sie mit ihrer Nase platzen. Mike beobachtete, wie die seifigen, schillernden Kugeln im Sonnenlicht aufstiegen und sich drehten, ihre changierenden Farben ein Wunder der ständigen Luftkrümmung. Er sah die Steradianten jeder Blase, sah ihre kantenlose Symmetrie. Als ihm Zahlen in den Kopf kamen, schüttelte er sie ab. Er hatte jetzt keine Zeit, sich in einem endlosen Strom von Ziffern zu verlieren. Anne-Marie Riccard wartete.
Als Mike Connie wieder an die Leine nahm, vibrierte das Handy in seiner Tasche. Er nahm es heraus und sah, dass eine Sprachnachricht von einer ihm unbekannten Nummer eingegangen war, höchstwahrscheinlich der verärgerte Manager des Starlite-Motels, nachdem er sein Zimmer entdeckt hatte. Er öffnete die Nachricht und blieb unvermittelt stehen, als er die Stimme von Thessaly Moses hörte:
Ich habe eine ziemlich beunruhigende Nachricht erhalten. Ich war gerade damit beschäftigt zu verstehen, was heute Nachmittag passiert ist, und jetzt hat mein Vorgesetzter angerufen und mir mitgeteilt, dass Jess aus Ray Brook in eine andere Einrichtung verlegt wird. Was für ein Albtraum. Wie dem auch sei, ich rufe an, weil ich wissen will, ob Sie schon Gelegenheit hatten, sich die Dateien auf dem Stick anzusehen. Rufen Sie mich zurück, wenn es passt. Wir müssen dringend miteinander reden.
Im Inneren des Instituts für Kunstgeschichte umhüllte ihn die klimatisierte Luft wie ein Eisbad. Als er auf der Suche nach Anne-Marie Riccards Büro den leeren Flur hinunterging, bemerkte er, dass er dem bevorstehenden Treffen mit einer gewissen Beklommenheit entgegensah. Es war völlig irrational, zumal er sich mit Dr. Gupta angefreundet hatte, aber in der Nähe von Akademikern ging er immer sofort in Verteidigungsstellung. Nicht jeder Lehrer oder Dozent hatte Mikes Talente so zu schätzen gewusst wie sein Mentor. Tatsächlich hatten die meisten seiner Professoren ihn bestenfalls wie einen Zirkusfreak und schlimmstenfalls wie einen Betrüger behandelt. Und er verstand durchaus den Grund. Er konnte innerhalb weniger Stunden Krieg und Frieden lesen und dann bei Bedarf ganze Passagen daraus rezitieren; er konnte schwierige mathematische Gleichungen lösen, nachdem er nur einen kurzen Blick ins Lehrbuch geworfen hatte. Selbst die Professoren, die seine Vorgeschichte kannten, betrachteten ihn mit Skepsis. Sie sprachen es nie offen aus, aber er spürte, dass hinter jeder Interaktion der Vorwurf lauerte, Mike besäße einen unfairen Vorteil. Irgendwie, auf eine Art und Weise, die sie nicht beweisen konnten, betrog er das System.
Mike hatte das MIT in nur drei Jahren mit den höchsten Auszeichnungen abgeschlossen. Er war zwar ein Musterschüler, aber kein Gelehrter. Akademische Arbeit war für ihn keine Herausforderung und auch nicht interessant. Als man ihm ein Vollstipendium für das Doktorandenprogramm des MIT anbot, lehnte er ab und zog nach Manhattan, wo er als Rätselentwickler für die New York Times zu arbeiten begann – eine Entscheidung, die seine Professoren verblüffte und bei seinen Kommilitonen, die renommierte akademische Stellen und hoch bezahlte Beraterpositionen in Unternehmen auf der ganzen Welt annahmen, nur Spott hervorrief. Auch Mike waren diese Stellen angeboten worden, aber er hatte sie abgelehnt.
Kaum jemand verstand, dass er keine Wahl hatte. Mike brauchte Prestige oder Geld nicht annähernd so sehr, wie er das Lösen von Rätseln brauchte. Er nahm die Spielkarten, die er bekommen hatte – ein Gehirn, das auf lebensverändernde Weise sowohl funktionierte als auch Fehlfunktionen aufwies –, und lernte, sie zu seinem Vorteil einzusetzen. Er machte sich zu eigen, was Dr. Trevers seine »Superkraft« nannte, und konnte sich nicht vorstellen, wie sein Leben aussehen würde, wenn er nicht fünfzehn Jahre zuvor auf diesem Footballfeld verletzt worden wäre. Dennoch gab es Zeiten, in denen er den erlittenen Schaden deutlicher spürte als andere.
»Dr. Riccard«, sagte Mike, als er in der Tür zu ihrem Büro stand. Er erkannte sie von dem Foto auf der Website des Bard College. Sie war groß und schlank, elegant, das dunkle Haar schulterlang. Sie trug ein helles Schaltuch, dessen große Maschen ein kompliziertes Gitterwerk um ihre Schultern legten.
»Nennen Sie mich bitte Anne-Marie«, sagte sie und bat ihn mit einer einladenden Handbewegung in ihr beengtes Büro. Er setzte sich auf ein kleines ledernes Zweiersofa vor einem Regal mit Kunstbüchern: ein Katalog des Rodin-Museums in Paris, ein weiterer mit japanischer Keramik. »Und wer ist das?«, fragte sie und bückte sich, um Connie zu streicheln, die sie argwöhnisch beäugte.
»Connie wird Sie für immer in ihr Herz schließen, wenn Sie ihr das hier geben«, sagte er und gab ihr ein Stück Trockenfleisch aus seiner Tasche. Das war gelogen. Seine Dackeldame hatte ein ausgeprägtes Gespür für Menschen; sie wusste sofort, ob sie jemanden mochte, und änderte ihre Meinung nur selten. Das war eines der Dinge, die er am meisten an ihr bewunderte – sie hatte einen sechsten Sinn für Menschen. Anne-Marie warf Connie den Leckerbissen zu und setzte sich dann Mike gegenüber auf ein identisches Sofa.
»Vielen Dank, dass Sie sich so kurzfristig Zeit für mich genommen haben«, sagte er, als Connie sich neben seinen Füßen niederließ und begann, sich über ihr zweites Leckerchen des Tages herzumachen.
»Schon seit Jahren hoffe ich, dass sich jemand wegen Jess Price mit mir in Verbindung setzt«, sagte Anne-Marie. »Ist sie immer noch …?«
»Eingesperrt?«, beendete Mike ihren Satz. »Ja. In einer Einrichtung in den Adirondacks. Ich komme gerade von dort.«
»Sie erwähnten etwas von einer Zusammenarbeit mit ihr an einem Projekt?«, fragte Anne-Marie. »Um was für ein Projekt handelt es sich da?«
Mike hatte nicht beabsichtigt zu lügen, aber die Geschichte kam ihm mühelos über die Lippen. »Rätsel für Strafgefangene. Ein ehrenamtliches Projekt des Bundesstaates.«
»Wie edelmütig«, sagte sie und warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Ist eine solche ehrenamtliche Arbeit üblich für jemanden mit Ihrer … Kompetenz?«
»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Mike und dachte, dass sein Ruf ihm wieder einmal vorausgeeilt war. »Aber ich helfe gern, wo ich kann. Und genau deshalb wollte ich mit Ihnen sprechen. Sie sind Jess persönlich begegnet, richtig?«
»Nur einmal im Sedge House. Der Besitzer hatte mich beauftragt, sämtliche im Haus befindlichen Antiquitäten zu begutachten, zu beglaubigen und zu verkaufen. Dazu ist es aber nie gekommen.«
Das überraschte ihn. Er nahm an, dass alles im Sedge House veräußert worden war – einschließlich des Hauses selbst. »Es wurde nichts verkauft? Auch das Haus nicht?«
»Nein«, antwortete sie. »Der Besitzer wollte die Antiquitäten genau so belassen, wie sie zu Lebzeiten seiner Tante gewesen waren.«
»Ist es nicht ein wenig kostspielig, ein herrschaftliches Anwesen aus dem Gilded Age für Lagerzwecke zu unterhalten?«
»Jameson denkt nicht viel über Kosten nach. Aber, ja, es war eine merkwürdige Entscheidung. Die meisten Leute hätten das Haus so schnell wie möglich verkauft. Aber nach allem, was dort passiert ist, hat er beschlossen, es zu behalten. Er bezahlt eine Haushälterin, die putzt und Staub wischt, einen Gärtner, der sich um die Rosen kümmert, und heizt gerade so viel, dass die Rohre im Winter nicht platzen. Jameson ist genauso exzentrisch wie seine Tante Aurora. Vielleicht sogar noch exzentrischer.«
»Dann ist die Sammlung von Porzellanpuppen immer noch im Haus?«
Anne-Marie errötete leicht, und er bemerkte, wie sie nervös wurde. »Jess hat Ihnen von den Puppen erzählt?«
Er nickte, wobei er darauf achtete, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sich für alles interessierte, was Anne-Marie ihm über sie erzählen könnte.
»Ich habe die Sammlung intensiv studiert. Ich bin Aurora nie begegnet, aber durch ihre Sammlung spürte ich, dass sie etwas, wie soll ich sagen, Wunderbares an sich hatte. Sie war sicher auf eine gewisse Art sonderbar, gar keine Frage, aber sie hütete das, was sie liebte, und hielt die Außenwelt fern.«
Anne-Marie faltete die Hände auf dem Schoß und fuhr fort. »Sie besaß außerdem eine außergewöhnliche Porzellansammlung, und Porzellan ist seit vielen Jahrzehnten eine meiner Leidenschaften. Es ist mein Fachgebiet als Kunsthistorikerin, und ich habe umfassende Arbeiten darüber veröffentlicht, von alten chinesischen Tempelvasen bis hin zu den Meisterwerken der französischen Fayence. Ursprünglich waren Porzellanpuppen ein Teilgebiet dieser Arbeit, aber ich gebe zu, dass sie ab einem bestimmten Punkt deutlich in den Vordergrund rückten.«
»Es ist ein sehr spezielles Gebiet«, sagte er aus dem Bedürfnis heraus, sie am Reden zu halten. »Wie sind Sie dazu gekommen?«
»Die Wahrheit?« Sie errötete leicht. »Als ich zehn Jahre alt war, bekam ich heißen Kakao in einer der Teetassen meiner Urgroßmutter serviert – einer eierschalendünnen Porzellantasse mit einer Rose in der Mitte und vergoldetem Rand. Das Porzellan mit seiner Leichtigkeit, der eiweißartigen Durchsichtigkeit und seiner Fähigkeit, das Licht einzufangen und es um sich herum zu brechen, das zog mich damals schon in seinen Bann. Nach dem Tod meiner Urgroßmutter erbte ich diese Tassen. Wie sich herausstellte, waren sie aus Limoges. Ich nahm sie mit in meine erste Wohnung in Manhattan, wo sie die Hälfte des Stauraums im Schrank meiner winzigen Küche einnahmen. Ich benutzte sie jeden Tag – für eine mittellose Studentin ein bisschen absurd, ich weiß. Doch irgendwie haben sie mir den Rücken gestärkt. Jeden Tag hielt ich eine Tasse aus Limoges in der Hand und dachte an meine Urgroßmutter, aber auch an all die Kunstfertigkeit, mit der sie geschaffen worden war, daran, wie Schönheit Generationen überdauert und über einen langen Zeitraum hinweg Freude bringt. Ich begriff, dass diese Tasse ein Kunstwerk war, so wertvoll wie eine römische Statue, nur mit dem Unterschied, dass ich mich jeden Tag an ihr erfreuen konnte. Ab diesem Punkt rückte die Geschichte der Keramik ins Zentrum meines Studiums. So begann meine Leidenschaft für Porzellan.« Anne-Marie lächelte ihn verlegen an. »Bitte verzeihen Sie mir«, sagte sie. »Ich muss Sie schrecklich langweilen.«
»Überhaupt nicht«, sagte Mike. Tatsächlich verstand er sehr gut, wie eine Besessenheit von einem Leben Besitz ergreifen konnte – seine Entdeckung der Rätsel hatte ihn gerettet, seiner Existenz eine Struktur gegeben und eigentlich alles verändert. »Ich finde das alles ausgesprochen faszinierend.«
»Es ist allerdings faszinierend«, erwiderte sie erfreut. »Die Geschichte des Porzellans ist besonders fesselnd. Die Europäer kamen erstmals mit Porzellan in Berührung, als Marco Polo ein kleines Gefäß aus China mitbrachte. Er nannte es porcellana, nach dem italienischen Namen für eine Muschelart, deren schimmerndes Perlmutt dem Gefäß ähnelte. Viele Kunsthandwerker versuchten in den folgenden Jahren, chinesisches Porzellan zu kopieren, doch alle scheiterten. Es gab Techniken, die sie nicht analysieren konnten, eine geheime Formel, die nur die Chinesen beherrschten. Die Preise für importiertes Porzellan waren astronomisch, und selbst die reichsten Adeligen konnten sich nur wenige Stücke leisten.
Ganz Europa war hingerissen von Porzellan und wollte es unbedingt haben. Der deutsche Kurfürst und König August der Starke investierte ein Vermögen, um die Formel für das weiße Gold zu finden. Schließlich gelang es ihm. Als die Katze sozusagen aus dem Sack war, explodierte die Porzellanproduktion in ganz Europa. Französische Porzellanmanufakturen wurden gegründet und erlangten Weltruhm, ebenso britische Unternehmen wie Wedgwood. Figurinen wurden zu begehrten Schmuckgegenständen. Dosen, Teekannen, Vasen – die Menschen konnten nicht genug davon bekommen. Mit der Markteinführung des Porzellans veränderte sich das Leben in Europa in vielerlei Hinsicht. Natürlich brachte es großen Reichtum und Prestige mit sich, und die Könige und Königinnen Englands und Europas gaben atemberaubende Meisterwerke in Auftrag, aber ab dem neunzehnten Jahrhundert konnte eine Teekanne aus Porzellan oder ein Set hübscher Tassen auch von ganz gewöhnlichen Menschen wie meiner Urgroßmutter erworben werden.«
»Von Menschen wie Aurora Sedge«, sagte Mike und lenkte die Unterhaltung wieder auf sein Ziel.
»Ja, wie Aurora Sedge«, bestätigte sie. »Obwohl sie alles andere als gewöhnlich war. Aber verraten Sie mir doch bitte – warum haben Sie Verbindung zu mir aufgenommen? Hat es etwas mit diesem Projekt zu tun, an dem Sie und Jess Price arbeiten?«
Mike hatte versucht, Anne-Marie auf den Zahn zu fühlen, und entschied, dass es nun an der Zeit war, auf den eigentlichen Anlass seines Besuchs zu kommen. »Ich versuche zu verstehen, was im Sedge House passiert ist«, sagte er. »Sie waren einer der wenigen Menschen, die Jess gesehen haben, als sie dort war.«
»Ich war dort, um Antiquitäten zu begutachten«, antwortete sie. »Ich habe kaum ein Wort mit ihr gewechselt.«
»Vielleicht ist Ihnen irgendetwas Merkwürdiges in dem Haus aufgefallen?«, fragte er. »Etwas, das erklären könnte, was kurze Zeit später Noah Cooke zugestoßen ist.«
»Meines Wissens gab es eine Untersuchung«, sagte sie mit plötzlich deutlich kühlerer Stimme. »Und wie Sie ja sehr wohl wissen, gab es auch eine Verurteilung.«
»Ich glaube nicht, dass die richtige Person verurteilt wurde.«
»Und Sie werden jetzt für Gerechtigkeit kämpfen?«
»Spricht etwas dagegen?«
»Vielleicht nicht«, sagte sie. »Aber bevor Sie es versuchen, sollten Sie das Ausmaß dessen verstehen, worauf Sie sich einlassen.«
Mike erinnerte sich an Jess’ chiffrierte Nachricht. Sie glaubte, dass Ernest Raythe ermordet worden war und er sich ebenfalls in Gefahr befände. Er musterte Anne-Marie und versuchte herauszufinden, wie viel sie wusste. »Deshalb bin ich hier«, sagte er schließlich. »Um zu verstehen.«
Anne-Marie zog ihren wallenden, hauchdünnen Schal enger um sich, eine bedächtige Geste, die sich in ihrem Tonfall widerspiegelte. »Es ist ein bisschen wie mit der Büchse der Pandora, Mike. Wenn Sie sie öffnen, werden Sie verstehen, was Jess Price widerfahren ist. Sie werden alle Informationen haben, die Sie suchen, und noch mehr. Aber Wissen hat auch Konsequenzen. Denn sie hat etwas gefunden, das sehr lange Zeit verborgen gewesen war. Es gibt Menschen, die nicht wollen, dass diese Entdeckung in die Welt hinausgetragen wird. Jess ist der Sache viel zu nahe gekommen. Das Resultat haben Sie gesehen.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht, was Sie meinen«, sagte er und beobachtete sie aufmerksam.
»Wissen ist verführerisch«, fuhr sie fort. »Es weckt den Wunsch, es aufzudecken, jede Schicht, die es schützt, abzutragen. Wir denken, wir wollen die Wahrheit besitzen und sie würde uns Befriedigung verschaffen, uns Bestärkung, Sicherheit und Trost geben. Aber in Wirklichkeit gibt es Momente, in denen uns das Wissen schaden kann. Manchmal bleibt ein Geheimnis aus gutem Grund unerreichbar.«
Mike war sich unsicher, wie er darauf reagieren sollte. Geheimnisse waren nicht sein Ding. Ein tief sitzender innerer Zwang ließ nicht zu, dass er eines ungelöst ließ. »Ich bin nicht der Typ, der einfach wieder gehen kann, ohne dem Wissen näher gekommen zu sein.«
Anne-Marie nahm einen Schlüssel aus ihrer Handtasche, sperrte einen Aktenschrank auf und zog eine kleine Ledermappe heraus. Mike erkannte sie sofort als die in Jess Price’ Tagebuch beschriebene Mappe: braun, abgewetzt, verschlossen mit einem kräftigen Lederband. Als sie zu ihrem Platz zurückkehrte, hielt sie die Mappe so fest umklammert, dass sich ihre Fingernägel in das weiche Leder gruben. »Ich denke, Sie wissen bereits, dass die Geschehnisse im Sedge House nicht sind, was sie zu sein scheinen. Es geht nicht nur um die Frage, wer Noah Cooke getötet hat oder ob Jess Price verantwortlich ist für das, was passiert ist. Der Inhalt dieser Mappe wird Ihre Wahrnehmung der Ereignisse verändern. Genau genommen wird es Ihre Wahrnehmung von allem ändern.«
Mike warf einen Blick aus dem Fenster. Das Licht wurde schwächer, der Tag klang mit der untergehenden Sonne aus. »Wahrnehmungen sind dazu da, verändert zu werden.«
Anne-Marie steckte die Mappe in ihre Tasche, nahm ihre Schlüssel aus dem Bücherregal und ging zur Tür. »Dann kommen Sie mit«, sagte sie mit leiser Stimme, als hätte sie Angst, belauscht zu werden. »Ich zeig es Ihnen.«