Anne-Marie deckte den Esszimmertisch, dimmte das Licht und begann, Pasta aus einer Schüssel zu servieren.

»Sehr schön«, sagte Jameson und nickte Anne-Marie zu, als er saß. Es war eine knappe, fast förmliche Geste, wie zu einer Hausangestellten.

Anne-Marie lehnte das Kompliment ab. »Ich habe sie schon heute Nachmittag gemacht und im Kühlschrank aufbewahrt – Farfalle mit frischen Tomaten, Knoblauch, Mozzarella und Basilikum vom Bauernmarkt«, erklärte sie, während sie eine weitere Flasche Wein öffnete und auszuschenken begann. »Sie haben Hunger«, sagte sie und schaufelte Nudeln auf Mikes Teller. »Essen Sie, dann geht es Ihnen gleich besser.«

Es brauchte nicht viel Überredung. Er hatte tatsächlich einen Bärenhunger. »Das ist lecker«, sagte er, während er die Pasta probierte. »Ich lebe sonst von Fast Food.« Was nicht einmal weit von der Wahrheit entfernt war – seine letzten beiden Mahlzeiten hatten aus Pizza im Starlite und einem Truthahn-Sandwich in der Autobahnraststätte bestanden.

Anne-Marie setzte sich, begann zu essen, hielt dann jedoch inne und fuhr mit einem Finger über den Rand ihres kobaltblauen Tellers. »Ich habe eine Frage: Finden Sie, ein Essen schmeckt besser, wenn es von einem dreihundert Jahre alten Porzellanteller gegessen wird?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Mike, musterte sie und versuchte herauszufinden, ob sie diese seltsame Frage ernst meinte. Ihr Gesichtsausdruck verriet nichts, doch er entschied, dass die Antwort sie

»Tja, jetzt tun Sie’s, und ich kann Ihnen versichern, es schmeckt besser«, sagte Anne-Marie und spießte eine Tomate mit ihrer Gabel auf.

»Liegt am Gift, gar keine Frage«, sagte Jameson und zwinkerte Anne-Marie zu. »Dieses Blau ist wahrscheinlich mit Blei versetzt.«

»Ich habe ja schon angefangen, Ihnen etwas über die Geschichte von Porzellan zu erzählen, aber die Geschichte hat noch eine Seite, eine esoterische Seite, wenn Sie so wollen, eine, die schon viele Gelehrte vor mir beschäftigt hat. Eine, die in direktem Zusammenhang mit der Antike steht, von der Jameson begonnen hat, Ihnen zu erzählen.«

Mike sah auf. Er spürte, dass die Unterhaltung jetzt in eine andere Richtung driftete. »Wie das?«

»Wie ich bereits erwähnt habe, galt Porzellan im Europa der frühen Neuzeit als geheimnisvolle Erscheinung. Könige begehrten es wegen seiner Leuchtkraft und Stärke, aber es war unmöglich herzustellen, so unmöglich, dass der Prozess mit Alchemie gleichgesetzt wurde. In der Tat wurde es zu einer der Hauptbeschäftigungen der Alchemisten. Die Entdeckung der Formel für die Umwandlung von unedlen Metallen in Gold und von Ton in Porzellan wurde zu einer gemeinschaftlichen Aufgabe: Die geheime Formel für die Verwandlung von Blei in Gold war die Suche nach dem Stein der Weisen, während die Formel für die Herstellung von Porzellan aus Ton als Arkanum bezeichnet wurde.

Das erste europäische Porzellan wurde von Johann Friedrich Böttger hergestellt, einem Alchemisten und begnadeten Chemiker, der im siebzehnten Jahrhundert in Meißen die erste europäische Porzellanmanufaktur gründete. Bald folgten weitere Produktionsstätten. Da Porzellan immer alltäglicher wurde, sank sein Wert. Doch obwohl es nicht mehr so wertvoll war wie Gold, blieben seine Eigenschaften – es begann als unreine Erde und verwandelte sich in eine

»Was für ein Geheimnis?«, fragte Mike und schaute aus dem Fenster, in der Hoffnung, einen flüchtigen Blick auf Connie zu erhaschen. Der Pick-up stand, wo er ihn geparkt hatte, aber der Tesla war fort. Alles war ruhig, daher nahm er an, dass Connie eingeschlafen war.

»Wir haben das erste Mal durch LaMoriettes Brief an seinen Sohn davon erfahren«, sagte Anne-Marie. »Er verweist auf einen Text, der uraltes heiliges Wissen enthält. In diesem Text findet sich eine Art Code oder Rätsel.«

»Es ist bekannt unter dem Namen ›das Gottesrätsel‹«, sagte Jameson.

»Und da komme ich ins Spiel«, sagte Mike und verstand mit einem Mal, warum Jameson so an ihm interessiert war. Jameson vermutete, dass Jess ihm Informationen über das Rätsel gegeben hatte, was sie, natürlich, getan hatte. »Sie denken, ich könnte Ihnen helfen, es zu lösen.«

»Zuerst einmal müssen wir es finden«, sagte Jameson. »Wir wissen aus LaMoriettes Brief an seinen Sohn, wie er in den Besitz des Rätsels gekommen ist. Wir wissen, dass es sich – zusammen mit seinem Meisterwerk, der Puppe Violaine – in seinem Besitz befunden hat, als er im Jahr 1909 Selbstmord beging. Und wir wissen weiter, dass meine Tante die Puppe bis zu ihrem Tod besessen hat und dass Jess Price 2017 Violaine in dem Haus entdeckte. Aber die Puppe verschwand, und was das Rätsel betrifft, haben wir keine Informationen – keine einzige, wie es aussieht, ja wir wissen nicht mal, welche Art von Code es enthält. Aber genau das beabsichtige ich herauszufinden.«

Mike begegnete seinem Blick und verzog keine Miene. Er war Jameson und Anne-Marie ein paar Schritte voraus. Er wusste, wie das Rätsel aussah. Er sah es deutlich vor sich, jede Zahl und jeden Buchstaben an seinem Platz.

»Je länger ich danach suche, desto mehr glaube ich, dass das Rätsel

»Und weil Jess Price die Einzige war, die nach Auroras Tod in dem Haus wohnte«, sagte Mike, »glauben Sie, dass sie Informationen über dieses Rätsel besitzt.«

»Wir wissen es«, sagte Jameson. »Ernest Raythe hat dies bestätigt.«

»Hat er für Sie gearbeitet?«, fragte Mike und spürte Wut in sich aufsteigen, als er begriff, dass Jess von ihrem ersten Psychiater in Ray Brook hintergangen worden war. Er musste an die Hunderte von Aktenseiten im Keller des Gefängnisses denken. Hatte Raythe all das auch Sedge anvertraut?

»Hat er, ja«, bestätigte Jameson. »Er hat mich über ihre Fortschritte regelmäßig auf dem Laufenden gehalten. Jess erzählte ihm, sie habe etwas gefunden, das sie als ›ein unvollständiges Rätsel‹ bezeichnete.«

»Aber warum?«, fragte Mike und versuchte zu verstehen, wie ein Arzt sich so verhalten konnte. Raythe hatte doch eine moralische und professionelle Verpflichtung gegenüber seiner Patientin gehabt. »Lag es am Geld?«

»Raythe und ich hatten ähnliche Ziele – zu verstehen, was im Sedge House wirklich passiert war. Sein Ziel war es, Jess zu helfen. Er glaubte an ihre Unschuld und wollte, dass sie wieder rauskam. Ich glaube, er hat sich wirklich für sie interessiert und wollte Gerechtigkeit. Meine Gründe waren, nun, völlig anders gelagert, wie ich bereits begonnen habe zu erklären. Wir haben unsere Mittel gemeinsam genutzt. Einschließlich dieses Tagebuchs in Ihrer Tasche.«

Mike starrte Jameson verlegen an. Wie konnte er nur von dem Tagebuch wissen?

»Machen Sie nicht so ein überraschtes Gesicht«, sagte Jameson und lächelte süffisant. »Cam hat gesehen, wie Sie es im Gefängnis gelesen haben. Als er es beschrieb, wusste ich, dass es das Buch war, das ich im Sedge House gefunden und dann Raythe gegeben hatte.

»Wenn Sie ihr Tagebuch gelesen haben, dann wussten Sie, dass Jess Violaine gefunden hatte. Und Sie wussten auch von der geheimen Anrichtekammer.«

»Allerdings«, sagte Jameson. »Wir haben die Kammer geöffnet und einen Blick hineingeworfen.«

»Aber keine Violaine«, sagte Anne-Marie. »Und kein Rätsel.«

Jameson deutete zum Wohnzimmer, wo die Ledermappe auf dem Couchtisch lag. »Die Seiten von LaMoriettes Brief lagen über die ganze Bibliothek verstreut. Sie wurden von der Polizei als Beweismittel mitgenommen, allerdings zurückgegeben, als festgestellt wurde, dass sie für den Fall keinerlei Bedeutung besaßen. Dabei enthalten sie durchaus Informationen darüber, was passiert ist, nur war der Polizei das nicht bewusst.«

»Und sie waren unvollständig«, fügte Anne-Marie hinzu. »Die letzten Seiten wurden nie gefunden. Möglich, dass sie schon nach LaMoriettes Tod verloren gingen. Vielleicht hat Jess sie auch vernichtet. Wir haben versucht, über Dr. Raythe mehr darüber zu erfahren, aber Jess hat nie preisgegeben, was aus ihnen wurde.«

»Wenn Sie mit Raythe in Verbindung standen«, sagte Mike, legte seine Kuriertasche auf den Tisch und zog seinen Laptop heraus, »haben Sie das hier wahrscheinlich gesehen.« Er kramte den USB-Stick aus seiner Hosentasche, schloss ihn an, öffnete einen Ordner und dann die Fotos: die Schwarz-Weiß-Bilder von Frankie Sedges Leiche, dann die Polaroids von Noah Cookes Leiche. Er ordnete sie nebeneinander auf dem Bildschirm an und zoomte hinein, vergrößerte die in ihre Haut geätzten Muster.

»Über fünfzig Jahre liegen zwischen diesen beiden Leichen, und doch gibt es eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen ihnen.«

»Woher zum Teufel haben Sie diese Aufnahmen?« Jameson wirkte verunsichert, und zum ersten Mal an diesem Abend geriet sein kultiviertes Gehabe ins Wanken.

»Ich vermute, Dr. Raythe hat Ihnen nicht alles gezeigt, was er fand«, sagte Mike.

»Mon dieu, woher hatte Raythe diese Bilder überhaupt?«, fragte Anne-Marie. Sie setzte sich ebenfalls eine Lesebrille auf und beugte sich zum Bildschirm.

»Er hatte eine Menge Informationen, die niemand gesehen hat. Nicht einmal Jess’ derzeitige Psychiaterin kannte diese Akte.«

Jameson wandte den Blick nicht von den Bildern. »Ich wusste nicht, dass diese Fotos von meinem Vater existieren«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Natürlich habe ich mich immer gefragt, was mit ihm passiert ist, aber es wurde nie darüber gesprochen. Meine Mutter war so am Boden zerstört, so gebrochen. Sie konnte es nicht ertragen, darüber zu sprechen. Niemals. Irgendwann habe ich in alten Zeitungen von seinem Tod gelesen. Aber so etwas wie diese Fotos habe ich nie gesehen. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass sein Tod so schrecklich gewesen war.«

»Raythe muss wohl gedacht haben, es gebe irgendeine Verbindung

»Er hatte recht«, sagte Anne-Marie und klappte seufzend den Laptop zu. »Es gibt eine Verbindung. Hier. Lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen.« Sie stellte einen Porzellanteller unter die Lampe. »Wenn Sie genau hinsehen, werden Sie bemerken, dass die Oberfläche dieses Tellers von einem Netz feiner Risse überzogen ist. Man nennt es Craquelé. Die feinen Haarrisse entstehen durch extreme oder ungleichmäßige Druckeinwirkung.«

Mike starrte das Muster erstaunt an. Es war das gleiche Muster wie auf den Leichen von Frankie Sedge und Noah Cooke. Das gleiche Muster wie auf Jess’ Haut. Und auch genau das, was er in der Glastür über seiner eigenen Haut hatte schweben sehen.

Anne-Marie fuhr fort. »Das englische Wort dafür, crazing, hat übrigens denselben Stamm wie crazy: aufbrechen, bersten, die Ganzheit verlieren. Das Rissigwerden, das Craquelé bei Porzellan ist, genau wie das Verrücktwerden, die Folge einer inneren Störung. Ein innerer Druck, der quasi zu einer Explosion führt.«

Mike erinnerte sich an den Obduktionsbericht. Als Todesursache war dort eine stumpfe Gewalteinwirkung auf den Körper angeführt worden – ein Sturz oder ein Autounfall –, aber beide Szenarien waren unmöglich. Es war fast so, als wäre das Trauma sehr ähnlich gewesen wie das, was Anne-Marie beschrieben hatte: ein Druck, eine große Kraft, die von innen heraus wirkte.

»Und das hat mit dem zu tun, was ihnen zugestoßen ist?« Er deutete mit dem Kopf auf die Fotos auf seinem Laptop. »Und Jess?«

»Es steht alles in LaMoriettes Brief«, sagte Anne-Marie. »Der, den er am Abend vor seinem Tod an seinen Sohn schrieb. Es bringt alles zusammen: die esoterischen Elemente des Arkanums der Alchemisten und ein Geheimnis, das seit Tausenden von Jahren von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurde – eines, das die Zukunft der Menschheit verändern könnte.«

»Nicht könnte«, korrigierte Jameson. »Es wird die Zukunft der

»Hören Sie, Mike, wir wissen von der Zeichnung, die Jess Price angefertigt hat«, sagte Anne-Marie, wobei ihre Stimme sanft war, als ob sie sich entschuldigen wollte. »Wir wissen, dass sie faszinierend genug war, um Sie ins Gefängnis zu holen. Nachdem Sie jetzt wissen, worum es geht, werden Sie sicher verstehen, dass es auch in Jess Price’ bestem Interesse ist, wenn Sie uns helfen, das Rätsel zu vervollständigen.«

»Soweit ich das sagen kann«, erwiderte Mike und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, »ist dieses Ding nicht mal ein Rätsel. Es fehlt ein geschlossenes Muster, das eine Lösung ermöglichen würde. Und selbst wenn ich es lösen könnte, sehe ich wirklich nicht, inwiefern es in Jess’ bestem Interesse ist, wenn ich Ihnen helfe.«

»Nun«, sagte Jameson und zog unter seinem Hemd eine Pistole hervor, legte sie auf den Tisch, »es ist ganz sicher in Ihrem besten Interesse. Was halten Sie davon, uns bei der Suche nach der Antwort zu helfen?«