Cam Putney beobachtete Thessaly Moses. Sie ging von einem Ende ihres Stadthauses zum anderen, wobei sie das Licht anschaltete, bis die Wohnung so hell erleuchtet war wie der Gefängnishof bei Nacht. Offensichtlich war die Frau verängstigt. Sie hatte seine Anwesenheit wahrgenommen, ihn gespürt, auch wenn sie ihn nicht gesehen hatte. Ihre erste Verteidigungsmaßnahme war, alle Ecken und Winkel zu beleuchten. Interessant, dachte er, als die Lampen im zweiten Stock aufflammten, dass Licht immer mit Sicherheit gleichgesetzt wurde – Sonnenlicht, ein Lagerfeuer, ein Nachtlicht in einem Kinderzimmer. Seine Tochter hatte früher nie im Dunkeln einschlafen können. Aber Licht machte Cams Arbeit leichter. Er sah alles klar und deutlich. Die dicken Akten, die Dr. Moses aus ihrer Tasche zog und auf den Esszimmertisch legte, neben ein schlankes, goldfarbenes MacBook Air, das gleiche Modell, das er seiner Tochter gekauft hatte, als die Schule während der Pandemie online ging. Das Licht vertrieb die Schatten, bis nichts mehr vor Thessaly Moses verborgen war. Aber auch vor Cam Putney war nichts verborgen.
Das Stadthaus gehörte zu einer bewachten Wohnanlage etwa zwei Meilen vom Gefängnis entfernt, eine Ansammlung von zehn Häusern, die in den dichten Adirondack-Wald eingebettet waren. Cam parkte mehr als eine Meile entfernt und verbarg den Tesla zwischen den Bäumen. Mr Brinks Köter bellte wie verrückt im Kofferraum und schien dort herumzutitschen wie eine Flipperkugel. Seit Stunden ging das schon so, und er war versucht, ihn von seinem Elend zu erlösen. Aber das würde Mr Sedge nicht gefallen. Er hatte ihm befohlen, den Hund mitzunehmen, nicht, ihn zu töten, und Cam wollte nicht riskieren, ihn wegen so etwas zu verärgern. Es war besser, wenn der Dackel sich auspowerte und dann einschlief.
Cam umrundete das Stadthaus und suchte nach einem Weg hinein. Er hielt sich im Schatten und achtete sorgfältig darauf, von den Nachbarn nicht gesehen zu werden. Das Letzte, was er brauchte, war, dass jemand die Polizei rief. Auf der Rückseite des Hauses fand er ein Fenster, das zum Wohnzimmer gehörte. Er konnte Dr. Moses am Esszimmertisch sehen, den geöffneten Laptop vor sich. Sie versuchte wieder, in die Datenbank der Bundesverwaltung zu gelangen, aber natürlich wurde ihr der Zugang verweigert. Er selbst hatte das Passwort geändert und sie von allen Informationen über ihre Patienten, einschließlich Jess Price, abgeschnitten. Es war kinderleicht gewesen, in das System einzudringen, ihr Passwort zu ändern und alles auf seinen eigenen Account umzuleiten. Wenn ihr Laptop auch nur halbwegs so konfiguriert war wie ihr Desktop, dann hatte sie keinerlei Schutz, keine Virenerkennungssoftware, nicht einmal ein VPN. Sie hatte offensichtlich keine Ahnung, dass alles, was sie tippte, jede Fallnotiz, jede persönliche E-Mail, jeder Post in den sozialen Medien, jeder Cent, den sie auf ihr Bankkonto einzahlte, überwacht wurde.
Plötzlich stand Dr. Moses auf und drehte sich zum Fenster um. Einen elektrisierenden Moment lang starrte sie ihn an, und er war sich sicher, dass sie ihn hinter dem Glas entdeckte. Aber dann wandte sie sich wieder ab und verließ das Zimmer, ihre Bewegungen waren ruhig und ohne Angst, und er wusste, dass sie seine Anwesenheit nicht bemerkt hatte.
Cam machte sich an die Arbeit. Zuerst versuchte er es mit dem Fenster. Es war verschlossen. Dann die Hintertür. Sie war ebenfalls verschlossen, aber es war ein Zylinderschloss, das er ohne allzu große Mühe knacken konnte. Er zog einen Satz Schlagschlüssel heraus und bückte sich vor dem Schloss. Schweiß rann ihm über die Haut. Er wischte ihn sich aus den Augen und machte sich an die Arbeit, indem er die Schlüssel schnell und leise ausprobierte. Der vierte Schlüssel funktionierte. Der Riegel schnappte auf. Er drehte den Knauf und schob die Tür leise auf, ein kalter Luftzug strich über ihn hinweg, als er eintrat, und die klimatisierte Luft hinterließ ein Frösteln auf seiner feuchten Haut. Er schloss die Tür und glitt hinein, bewegte sich durchs Esszimmer in das angrenzende Wohnzimmer. Als er sich hinter einem Bücherregal positionierte, kehrte Dr. Moses mit einer Flasche Wein ins Esszimmer zurück. Er verspürte eine Woge der Erleichterung. Sie hatte nicht gehört, wie die Tür geöffnet oder geschlossen wurde. Sie hatte nicht gehört, wie er über den Parkettboden des Esszimmers ging. Sie hatte gar nichts gehört. Sie schenkte sich ein Glas Rosé ein, nahm einen Schluck und setzte sich vor den Laptop.
Als er neben dem Bücherregal stand, sah er die DSM-4- und DSM-5-Handbücher, ein Regal mit gebundenen Romanen und Reihen populärer Selbsthilfebücher, alles fein säuberlich geordnet. Es gab ein Foto von einem älteren Paar, das in einem Park stand – ihre Eltern, wie er vermutete. Leise, ohne ein Geräusch zu machen, schob er das Foto zur Seite. Er wollte nichts über das Leben von Thessaly Moses wissen – nicht über ihre Eltern, nicht über ihre Lesegewohnheiten, nicht darüber, dass sie die Klimaanlage auf subarktische Temperaturen herunterdrehte. Je mehr er wusste, desto schwieriger würde es werden, das zu tun, weswegen er gekommen war. Und das hier musste einfach laufen.
Er zog die Glock 43 aus dem Holster und spürte ihr Gewicht in seiner Hand. Sie war warm, speicherte die Wärme seiner Haut. Sie zu heben war, als würde er einen Finger heben, die Waffe eine Verlängerung seines Körpers, ein Teil von ihm. Seine Hand war ruhig, als er zielte. Das war eine seiner Stärken – dieses unerschütterliche Zielen, eine unheimliche Fähigkeit, sein Ziel in jeder Situation zu treffen, Reflexe, die es ihm erlaubten, ohne Zögern zuzuschlagen. Doch er schlug nicht zu. Noch nicht. Er beobachtete sie. Er fragte sich, wie es ihr ging. Spürte sie, wie gefangen sie war? Dass er immer da sein würde, egal, wohin sie sich wendete?
Er ließ einen Finger über die Sicherung gleiten und zielte auf ihren Hinterkopf. Doch gerade als er abdrücken wollte, bückte sie sich und fischte ihr Mobiltelefon aus der Tasche, strich mit einem Finger über die Glasoberfläche und schloss das Gerät an ihren Laptop an.
Er legte die Glock auf ein Regal und trat näher heran, wobei er versuchte, etwas zu erkennen. Es dauerte eine Sekunde, bis er begriff, was sie tat: Sie übertrug manuell eine Datei von ihrem Handy auf den Laptop. Dem Anschein nach war es eine WAV-Audiodatei, eine Sprachaufnahme. Ein Schrecken durchfuhr ihn. Er kannte jeden Winkel ihrer Online-Existenz. Er überwachte ihre E-Mails, ihre Social-Media-Kanäle, ihre Bankkonten. Aber sie hatte einen Weg gefunden, seine Überwachung zu umgehen. Sie hatte die Datei im Gefängnis erstellt, auf ihrem Handy gespeichert und lud sie jetzt herunter, um sie aus seinem elektronischen Netz herauszuhalten. Er war gerade mal einen halben Tag nicht in Ray Brook gewesen, und sie hatte das an ihm vorbeigeschleust.
Cam hatte auch schon früher getötet, aber diese Jobs waren schnell, anonym und weit weg von zu Hause gewesen. Er hatte in Hotelzimmern und Gassen getötet, einmal sogar in einer Flughafentoilette, aber immer ohne persönliche Komplikationen. Die einzige Ausnahme war Dr. Ernest Raythe gewesen, ein Mann, den er jeden Tag im Gefängnis gesehen hatte. Mr Sedge hatte ihm keine Zeit gegeben, sich entsprechend vorzubereiten, und es war überraschend gekommen. Doch als die Zeit gekommen war, Raythe zu eliminieren, war Cam bereit gewesen.
Es hatte einer gehörigen Portion Kreativität bedurft, um es wie einen Unfall aussehen zu lassen. Es war eine kalte Dezembernacht gewesen, eine Woche vor Weihnachten. Auf dem Gefängnisparkplatz war es dunkel genug, um ihm Deckung zu geben, als er in Raythes Auto einbrach – einen Subaru Outback, der dem Geruch des Innenraums nach zu urteilen brandneu war. Er versteckte sich auf dem Rücksitz, duckte sich hinunter und wartete auf Raythe. Der Schnee fiel in dicken Flocken gegen die Scheiben und bedeckte die Windschutzscheibe, sodass das Auto zu einer dunklen geschlossenen Kapsel wurde.
In einem anderen Leben war es Cams Spezialität gewesen, in Autos einzubrechen. Diese Fähigkeit hatte ihm mit fünfzehn seinen ersten Aufenthalt im Jugendknast beschert und mit siebzehn seinen ersten richtigen Gefängnisaufenthalt. Er war schon immer ein guter Tüftler gewesen und hatte einen Haufen Generalschlüssel an seinem Gürtel, aber am einfachsten waren die elektronischen Schlösser zu knacken, die er ohne Beschädigung des Autos deaktivieren konnte. Je ausgeklügelter die Elektronik, desto leichter waren sie abzuschalten. Mr Sedge musste das über ihn gewusst haben, er wusste, dass er eine Begabung für den Zusammenbau und die Demontage von Systemen hatte, von seinen frühen Autodiebstählen und seiner Zeit im Gefängnis. Das leuchtete ein. Nur ein Krimineller mit einer Begabung für das Lösen komplizierter Systeme würde zu Singularity passen.
Aber wie es der Zufall wollte, war Raythes Auto gar nicht verschlossen gewesen. Es war ein unerwartetes Geschenk. Ebenso wie der Schnee: Er fiel nass und matschig, dann gefror er und legte eine Eisschicht über die Bergstraßen. Raythe ahnte nicht, dass Cam war, wo er war. Er fuhr langsam und gewissenhaft in die Nacht hinein, war zu sehr mit den Gefahren der kurvenreichen Landstraßen beschäftigt, um zu ahnen, dass ein Mann hinter ihm kauerte. Cam war ein großer Kerl, aber er konnte sich wie ein Phantom in die Vertiefung hinter dem Fahrersitz verkriechen, atmete bedächtig und leise, die Hände auf dem Schoß gefaltet, wartend. Jahre der Meditation hatten ihn gelehrt, seinen Körper runterzufahren, die Atmung zu regulieren, praktisch transparent zu werden.
Raythe fuhr weiter, der Wagen kroch den dunklen Berg hinauf, und Cam wusste, dass es nicht viel brauchen würde, eine harte, schnelle Drehung des Kopfes, ein kräftiger Schlag, um ihn zu töten. Je schneller, desto besser. Ernest Raythe war ein guter Arzt, der sich seinen Patienten auf eine Weise widmete, die Cam respektierte – Loyalität war eine der edelsten Eigenschaften, wie Ume-Sensei immer sagte. Cam lebte diese Überzeugung jeden Tag und opferte seine Wünsche der größeren Mission. Doch Raythes Sorge um seine Patientin brachte ihn zu nahe an Mr Sedge heran, zu nahe an die Wahrheit, und das stellte eine Gefahr für das gesamte Unternehmen dar. So sehr es ihn auch schmerzte, er konnte Raythe nicht erlauben, noch näher zu kommen.
Cam hatte keine Freude an Gewalt. Manche der Jungs in Mr Sedges Security-Team schon. Sie prahlten mit der Brutalität ihrer Arbeit, genossen die Fähigkeit, andere Menschen zu beherrschen, zu demütigen und zu zerstören. Mit der Zeit feuerte Sedge sie alle, bis die ursprüngliche Gruppe der Singularity-Samurais auf einen einzigen Mann reduziert war: Cam Putney. Seine Position verlieh ihm Macht, aber er wusste, dass sie ein zweischneidiges Schwert war, wie Ume-Sensei ihn gelehrt hatte. Eines Tages würde er auf der anderen Seite dieses Austausches stehen. Es war unvermeidlich, ein absolutes Gesetz des Universums, dass sich Materie und Energie umwandelten. Tag zu Nacht. Stärke in Schwäche. Leben in Tod. Eines Tages würde seine Macht schwinden, und er würde einer Kraft ausgeliefert sein, die stärker war als er selbst. Aber bis dahin war es noch lange hin, und er hatte eine Aufgabe zu erfüllen.
Cam hob seine Waffe auf und glitt tiefer in das Esszimmer, lautlos wie ein Geist. Er atmete ruhig ein, um sich zu beruhigen, dann hob er die Glock. Er erinnerte sich an den Moment, in dem er Ernest Raythe getötet hatte: das Knacken seines Halses, die Dynamik des Autos, das weiter über die Landstraße raste. Er hatte das Timing so gewählt, dass er aus dem Auto springen konnte, kurz bevor der Wagen in die Schlucht schlitterte. Dr. Raythe hatte nichts geahnt, bis es zu spät war. Und Dr. Thessaly Moses würde es auch nicht.