Mike blätterte die letzte Seite um. Mehr gab es nicht. Zweifellos hörte der Brief an dieser Stelle nicht auf. Doch wo waren die restlichen Seiten?
Er schob den Brief beiseite und sah sich blinzelnd um, betrachtete das leere Lokal, die türkisfarbenen Sitzecken aus Vinyl, sein Spiegelbild, das auf dem schwarzen Glas des Fensters schwebte. Alles fühlte sich merkwürdig und verzerrt an. Die Luft war zu heiß, die Lichter zu hell, das Koffein in seinen Adern zu stark. Er holte tief Luft und ballte eine Faust, verspürte das Bedürfnis zuzudrücken, bis seine Fingerknöchel weiß wurden. Der Brief von LaMoriette lag vor ihm, ein dickes Bündel Seiten, gefüllt mit den Aufzeichnungen eines Mannes, der von seiner Vergangenheit heimgesucht wurde. Der Mann hatte in Prag etwas zutiefst Beunruhigendes erlebt, etwas von solcher Wucht, dass sich sein gesamtes weiteres Leben darum drehte, in fortwährendem Kreisen.
Mike steckte die Seiten vorn in seine Kuriertasche und zog den Reißverschluss zu. Unwillkürlich musste er an den Rabbinerkreis denken, an die kreisförmige Wiedergabe des Namens Ha-Schem, den der Rabbiner benutzt hatte, um den Golem zu erwecken. Nach der Beschreibung war Mike sich sicher, dass es derselbe Kreis war, den Jess ihn zu entschlüsseln gebeten hatte, derselbe Kreis, den Jameson das Gottesrätsel nannte, derselbe Kreis, den Anne-Marie als heiliges Wissen bezeichnet hatte.
Aber auch wenn diese Zusammenhänge klar waren, so war Mike der Lösung des Rätsels selbst nicht näher gekommen als in dem Moment, als er es zum ersten Mal gesehen hatte. Er versuchte zu verstehen, was der Brief mit Anne-Maries Arkanum beziehungsweise mit Jamesons »unentdecktem Land« zu tun hatte. Was hatte der Brief eines verzweifelten Mannes in Prag, der vor so langer Zeit geschrieben worden war, mit Jess Price zu tun? Und was zum Teufel hatte irgendetwas davon mit ihm selbst zu tun? Anne-Marie hatte versprochen, dass der Brief von LaMoriette alles miteinander in Verbindung setzen würde. Doch letztlich warf er nur noch mehr Fragen auf.
Mike zog sein Handy hervor, bat die Kellnerin um das WiFi-Passwort und stellte fest, dass sein Akku zur Neige ging. Das Schnellladegerät lag im Wagen. Er ging es rasch holen, steckte es neben seinem Platz ein und prüfte seine E-Mails. Es gab zwei Nachrichten: eine von Thessaly Moses, mit einem riesigen Anhang – offenbar die Audiodatei, die sie zu schicken versprochen hatte. Die zweite Nachricht stammte von Vivek Gupta, seinem Mentor und Freund, und enthielt einen Link zu seiner verschlüsselten App. Er öffnete den Link und las:
Mein lieber Junge, ich muss gestehen, dass mich das Abenteuer, in das Sie geraten sind, um den Schlaf bringt. Dass Jameson Sedge hinter diesem Rätsel her ist, hätte schon genügt, um mich neugierig zu machen, aber ich habe die Konfiguration, die Sie geschickt haben, untersucht und dabei etwas von großem Interesse entdeckt. Ich muss Sie abermals warnen, vorsichtig zu sein. Was Sie entdeckt haben, ist einzigartig, höchst begehrt und aus vielen Gründen gefährlich, nicht nur, weil Sedge es haben will. Sie dürften inzwischen wissen, dass Sie eine einzigartige Gabe besitzen, und diese Gabe bringt Sie in Situationen, die die meisten von uns nie erleben würden. Außergewöhnliche Menschen ziehen außergewöhnliche Ereignisse an, sowohl gute als auch schlechte. Sie müssen sich selbst schützen. Werfen Sie Ihre elektronischen Geräte weg, da sie höchstwahrscheinlich manipuliert worden sind. Versuchen Sie nicht, mich zu kontaktieren. Ich werde Sie finden.
Unter seiner Nachricht befand sich ein Link zu einem Artikel der Adirondack Daily Enterprise. Die Nachricht von Dr. Gupta war fünf Minuten zuvor, um 23:03 Uhr, abgeschickt worden. Mike öffnete den Link und las die Überschrift des Artikels: Prominente Psychiaterin aus Ray Brook überfallen und in Krankenhaus eingewiesen.
Er brauchte nur die erste Zeile zu lesen, um zu wissen, dass es in der Eilmeldung um Dr. Thessaly Moses ging. Sie war in ihrem Haus überfallen worden, und obwohl der Artikel nicht viele Informationen enthielt – weder bezüglich des Ausmaßes ihrer Verletzungen noch im Hinblick auf die Frage, ob der Täter festgenommen worden war –, war es genau so, wie Jess es ihnen prophezeit hatte. Jemand hatte sie beobachtet. Thessaly war verletzt worden, und wenn dieser Jemand nicht gefasst worden war, dann befand sich Jess jetzt in größter Gefahr.
Er sah sich Thessalys Nachricht an. Sie war um 21:47 Uhr eingegangen, was bedeutete, dass sie sie kurz vor dem Überfall abgeschickt haben musste. Die Nachricht selbst war leer, am Ende war eine Audiodatei angehängt. Er lud sie herunter, beschloss aber, mit dem Abspielen zu warten. Er durfte nicht riskieren, dass jemand zufällig mithörte, nicht einmal die Kellnerin, also wartete er nur noch ein paar wenige Minuten, damit der Handyakku ein paar weitere Prozent sammeln konnte. Dann ließ er Bargeld neben die Rechnung fallen, schnappte sich seine Tasche und verließ das Lokal. Nirgends war er so sicher wie in seinem Pick-up.
Als er in die Nacht hinaustrat, schaute er auf seine Uhr: 23:09 Uhr. Der Parkplatz war immer noch leer, auch die Straße war wie verwaist, doch irgendetwas stimmte nicht. Er ließ den Blick über den rissigen Asphalt schweifen, die leeren Stellplätze. Irgendwo in den Schatten lauerte jemand auf ihn, das spürte er jetzt. Seit Jahren hielt ihn Gupta dazu an, sich gegen jegliche Form der Überwachung zu schützen, aber er hatte es immer als Paranoia abgetan. Jetzt jedoch, nach seinen Erfahrungen im Gefängnis und dem Überfall auf Thessaly, verstand er, wie recht sein Freund gehabt hatte.
Die Nacht war ruhig, das leise Zirpen der Zikaden erfüllte die Luft. Und obwohl er so schnell wie möglich zu seinem Pick-up gelangen wollte, konnte er doch nicht anders, als die wilde Disharmonie dieser Kreaturen zu bewundern. In der Nähe seines Elternhauses in Ohio hatte es Zikaden gegeben, und ihr Gesang hatte ihn immer mit Melancholie erfüllt. Einmal, an einem warmen Sommerabend, hatte sein Vater ihm von dem erstaunlichen Lebenszyklus der Zikade erzählt, wie sie jahrelang als Nymphe unter der Erde leben konnte, um dann für ein paar Tage oder Wochen an die Oberfläche zu steigen, sich zu paaren, Eier zu legen und zu sterben. Eine solch kurze Existenz schien die Sinnlosigkeit des Lebens zu veranschaulichen, aber wer konnte schon sagen, ob Langlebigkeit in der großen Weltordnung wirklich von Bedeutung war? Er dachte an Jamesons verrückte Suche nach Unsterblichkeit, seine Weigerung, die Grenzen von Leben und Tod zu akzeptieren. Dabei war der Gesang das Wichtigste, ob er nun einen Tag dauerte oder hundert.
Sein Pick-up wartete in der Dunkelheit. Er stieg ein und verriegelte vorsichtshalber die Türen. Dann ließ er den Motor an und verließ so schnell wie möglich den Parkplatz. Aufmerksam beobachtete er, ob es auf der Straße irgendwelche Veränderungen gab, und sah sich nach Schildern um. Er musste klar denken. Er musste die richtigen Entscheidungen treffen. Aber er hatte keine Ahnung, wo zum Teufel er war. Auf seiner Flucht vor Jameson und Anne-Marie war er aufs Geratewohl davongebraust, war kleinen, kurvigen Straßen gefolgt, bis er sich im Gewirr der sanften Hügel verloren hatte. Ja, er hatte sich mehr von seinen Gefühlen als von seinem Orientierungssinn leiten lassen. Wenn er ein bestimmtes Ziel vor Augen hätte, könnte er zumindest sein GPS benutzen – aber welches Ziel sollte das sein?
Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass er das, was Thessaly zugestoßen war, hätte vorhersehen müssen. Jess hatte ihn gewarnt, sie seien in Gefahr, hatte ihnen gesagt, dass der Tod von Dr. Raythe kein Unfall gewesen war. So wie auch der Überfall auf Thessaly kein Zufall war. Raythe war gestorben, nachdem er begonnen hatte, Informationen über Jess auszugraben, und Thessaly hatte da weitergemacht, wo Raythe aufgehört hatte. Bestimmt hätte Mike irgendetwas tun können, um es zu verhindern.
Doch selbst wenn er sich die Schuld gab, Thessaly im Stich gelassen zu haben, wusste er auch, dass sie darauf bestanden hatte, dass er das Gefängnis verließ. Sie hatte ihn zu seinem Wagen begleitet. Sie hatte gesagt, sie werde sich bei ihm melden, wenn sie ihn bräuchte. Sie war unbeirrbar gewesen. Was passiert war, war nicht seine Schuld, und es war auch nicht ihre Schuld. Keiner von ihnen hatte wissen können, wie ernst die Sache war und wie gefährlich. Ihm kam etwas in den Sinn, das Anne-Marie gesagt hatte: »Sie sollten das Ausmaß dessen verstehen, worauf Sie sich einlassen.«
Er begann, dieses Ausmaß zu erkennen. Der Überfall auf Thessaly hatte alles verändert. Es stand jetzt mehr auf dem Spiel, die Folgen waren tödlich. Was auch immer er sich zuvor hatte einreden können – dass es eine logische Erklärung für seinen Rauswurf aus dem Gefängnis gab, dass er sich nicht in echter Gefahr befand –, war nun endgültig dahin. Sie spielten ein Spiel um Leben und Tod, und die Gefahr war real.
Er wollte direkt nach Ray Brook fahren, aber das würde niemandem etwas nützen. Sie würden ihn nicht wieder ins Gefängnis lassen, und das Krankenhaus in Ray Brook wäre der erste Ort, an dem Jameson nach ihm suchen würde. Mike war genauso ein Ziel wie Thessaly. Er erinnerte sich an etwas, das Dr. Raythe in seinem Bericht geschrieben hatte: »Es müssen sehr mächtige Leute hinter alledem stecken.« Jameson Sedge war einer dieser Leute. Sein Bauchgefühl sagte Mike, dass Jameson hinter dem Überfall auf Thessaly steckte, und sein Bauchgefühl in Bezug auf solche Leute war selten falsch. Vivek Gupta hatte recht – hinter dem polierten Äußeren steckte etwas Fanatisches, etwas Skrupelloses. Jameson hatte zugegeben, auf der Suche nach esoterischem Wissen zu sein. Seine Tante habe etwas Wesentliches für das menschliche Bewusstsein entdeckt, hatte er gesagt. Aber wie weit würde dieser Mann gehen, um es zu erlangen?
Mike erinnerte sich an das, was Jess zuletzt zu ihm gesagt hatte: »Denk an dein Versprechen.« Aber wie zum Teufel sollte er ein Versprechen halten, das er im Traum gegeben hatte? Er verstand nicht, was er für sie tun sollte. Das Gottesrätsel lösen, so viel verstand er, doch was dann? Konnte ein alter religiöser Text wirklich dazu beitragen, sie zu rehabilitieren? Konnte eine wilde Geschichte über religiöse Geheimnisse und arkane Rituale irgendeinen konkreten Wert haben? Jameson war eindeutig dieser Meinung und Anne-Marie auch. Aber Mike war sich da nicht so sicher. Er fühlte sich an der Grenze seines Könnens. Seine Begabung war wie ein tiefer, schmaler Fluss. Mit den richtigen Elementen und den richtigen Hinweisen konnte er außergewöhnliche Dinge vollbringen. Aber was Jess von ihm verlangte, brachte ihn an den Rand seiner Vorstellungskraft, und er wusste, nur wenn er sich eine Lösung bildhaft vorstellen konnte, war er auch in der Lage, eine zu finden.
Er bog auf einen kleinen Nebenweg ab, hielt auf dem Seitenstreifen und tippte sein Passwort ins Handy ein. Gupta hatte ihn gewarnt, dass sein Telefon manipuliert worden sein könnte, dass jemand es benutzen könnte, um ihn zu verfolgen, aber er brauchte es, um die Nachricht abzuhören. Vielleicht war es ja das versprochene Interview mit Jess? Die Audiodatei öffnete sich in der Dunkelheit und beleuchtete den Bildschirm. Als er auf Play drückte, verspürte er eine Mischung aus Vorfreude und Angst: Bald, in wenigen Sekunden, würde er vermutlich Jess’ Stimme hören. Und während er sich danach sehnte zu erfahren, was sie ihm zu sagen hatte, fürchtete er sich auch davor, was es bedeuten könnte.