Mike war gerade am unteren Ende der Treppe angekommen, als ihn das Knarren einer Bodendiele aufschreckte. Plötzlich war der Raum von einem blendenden Licht erfüllt, und Mike stand Jameson Auge in Auge gegenüber. Der Mann blickte erstaunt von Mike zu dem Lederkoffer und wieder zu Mike. Jameson war es gewohnt, jeden Spielzug vorauszusehen, und Mike hatte ihn überrascht.
»Gut gemacht«, sagte Jameson. »Gut gemacht.«
Mike trat einen Schritt zurück und musterte ihn. Wären es nur sie beide gewesen, hätte er Jameson blitzschnell überwältigen können. Aber er wusste, dass unter seiner Jacke die Walther verborgen war, und der Waffe hatte er nichts entgegenzusetzen.
»Sie hatten bestimmt einen anstrengenden Abend«, sagte Jameson. »Ich hatte schon überlegt, ob ich Ihnen im Diner Gesellschaft leisten sollte – der Kirschkuchen sah verlockend aus –, aber Sie schienen so in Ihre Lektüre vertieft zu sein, dass ich es nicht über mich gebracht habe, Sie zu stören.«
»Danke für die Rücksichtnahme«, erwiderte Mike und versuchte, seine Wut im Zaum zu halten. Er hatte gewusst, dass er verfolgt wurde – hatte die ganze Zeit gespürt, dass sich Jameson irgendwo im Hintergrund aufhielt –, und hatte sich dennoch erwischen lassen.
»Sie müssen sich wirklich nicht bedanken, Mike«, sagte Jameson mit einem Blick auf den Koffer. »Sie haben schon mehr als genug getan. Ich habe allerdings eine Frage. Wo war er?«
Mike dachte über seine Möglichkeiten nach. Er hatte drei Optionen: sich herausreden, kämpfen oder weglaufen. Reden war schon mal ein guter Anfang. »Auf dem Dachboden. Ich staune wirklich, dass Sie ihn nicht gefunden haben.«
»Ah, der Dachboden«, sagte Jameson und schüttelte den Kopf. »Als ich nach Abschluss der Ermittlungen wieder ins Haus durfte, habe ich jedes Zimmer, jeden Schrank, jeden Winkel dieses Hauses durchsucht, einschließlich des Dachbodens. Der Koffer war nicht da. Ich nahm an, sie hätte ihn vernichtet.«
»Offensichtlich nicht, nein«, erwiderte Mike.
»Offensichtlich nicht«, wiederholte Jameson und streckte die Hand nach dem Koffer aus.
Mike trat einen weiteren Schritt zurück. Er musste hier raus. Sein Zeitfenster schloss sich. »Warum erzählen Sie mir nicht, was wirklich mit Jess passiert ist?«
»Niemand weiß wirklich genau, was an diesem Abend geschehen ist. Und übrigens auch nicht, was meinem Vater widerfahren ist. Aber es ist höchste Zeit, dass wir es herausfinden.«
Als Jameson sich auf den Koffer stürzte, verpasste Mike ihm einen Stoß, drehte sich um und lief den Korridor hinunter, dann weiter die Treppe hinab ins Erdgeschoss. Die Tür stand offen, gab ihm den Weg hinaus auf den Rasen frei. Er rannte, so schnell er konnte, hielt den Koffer wie einen Football im Arm, und während er über den mondbeschienenen Rasen zu seinem Pick-up stürmte, hörte er ganz schwach die anfeuernden Rufe der Cheerleader und die Sprechchöre und das donnernde Stampfen auf den Tribünen.
Mike war eine halbe Meile entfernt, als der BMW von Anne-Marie hinter ihm auftauchte. Für ein, zwei Minuten konnte er seinen Vorsprung halten, doch sein Pick-up war dem anderen Wagen auf lange Sicht nicht gewachsen. Schon bald fuhr Jameson neben ihm, dann gab er plötzlich erneut Gas und drängte ihn von der Straße.
Mike riss das Lenkrad herum und trat auf die Bremse, und mit einem Mal drehte sich alles, die Welt stand auf dem Kopf, Glas und Metall barsten. Obwohl das Ganze nicht länger als ein oder zwei Sekunden dauern konnte, schien sich die Zeit zu dehnen und zu einem verschwommenen Bewegungsablauf zu gerinnen. Eine Abfolge von Lichtern explodierte hinter seinen Augen, und am Rande seines Blickfelds sah Mike mit einem Mal eine Frau aus Licht. Da stand sie, nur ein Stück weiter, und beobachtete ihn, ein Wesen aus reiner Energie mit lodernden Augen und wildem, flammendem Haar. Als sie nach ihm griff, verspürte er ein überwältigendes Verlangen, sich ihr hinzugeben, in die Flammen zu stürzen und mit ihr zu verbrennen.
Als er wieder zu sich kam, hing er kopfüber in seinem Wagen, nur noch gehalten vom Sicherheitsgurt. Ein Blutstropfen löste sich aus einer Wunde über seinem Auge und fiel auf den Dachhimmel des Fahrerhauses. Zappelnd versuchte Mike, sich herauszuwinden, aber es gelang ihm nicht. Er war in seinem geliebten alten Truck gefangen, und sein Kopf hämmerte vor Schmerzen. Auch ohne das ganze Ausmaß des Schadens zu sehen, wusste er, dass es sich um einen Totalschaden handelte, der nicht mehr zu beheben war. Das Gleiche galt für seine Lage: Selbst wenn er sich aus dem Pick-up befreien könnte, selbst wenn er nicht schwer verletzt wäre, hätte er nicht die geringste Chance zu entkommen. Er war umgeben von endlosem Wald, keine Versteckmöglichkeiten weit und breit.
Dann tauchten Cam Putneys Stiefel vor dem gesprungenen Glas der Windschutzscheibe auf, und dahinter, direkt hinter dem BMW, sah er den schwarzen Tesla parken. Mike griff nach dem Koffer – er war auf den Dachhimmel geschleudert worden – und packte ihn, aber es war zwecklos: Cam öffnete die Tür und entriss ihn seinem Griff. Dann, mit dem Klicken des Sicherheitsgurtes und einem festen Griff in sein T-Shirt, zog er auch Mike hinaus in die kühle Nachtluft.
Das Stehen bereitete ihm Schmerzen. Er lehnte sich benommen gegen das Wrack seines Pick-ups. Über der linken Augenbraue brannte es, und als er seine Wange berührte, spürte er das Blut an seinen Fingern. Er blickte auf die zerbrochene Windschutzscheibe und fühlte, wie etwas in ihm zerbrach, wie die Waagschalen zwischen dem Mann, der er gewesen war, und dem, der er geworden war, aus dem Gleichgewicht gerieten. Es gab jetzt kein Zurück mehr.
In diesem Moment hörte er ein vertrautes Wimmern. Auf der anderen Straßenseite zog Cam seine Dackeldame aus dem Kofferraum des Tesla und ließ sie an der Leine baumeln. Connie strampelte und zappelte, ihr Wimmern wurde immer verzweifelter, während sie nach Luft rang. Mike lief zu ihr, ohne auf den Schmerz zu achten, den er noch eine Sekunde zuvor gespürt hatte, doch als er nach seinem Hund griff, wich Cam ihm aus. Wut explodierte in Mike und ließ ihn erbeben. Cam konnte mit ihm machen, was er wollte, aber Connie musste er in Ruhe lassen.
Mike stürzte sich auf Cam, war bereit zu kämpfen, doch bevor er dazu eine Chance bekam, schnippte Jameson mit den Fingern. »Lassen Sie den Hund los, Mr Putney.« Cam blieb stehen, ließ die Leine fallen und ging.
Mike hob Connie in seine Arme, spürte ihr Zittern. »Fassen Sie meinen Hund nie wieder an«, sagte er.
»Ich erkenne langsam, dass Sie nicht so einfach gestrickt sind, wie ich dachte«, sagte Jameson und warf Mike einen stählernen Blick zu. »Und das ist ein Kompliment.«
»Es tut immer gut, sich gewertschätzt zu fühlen«, erwiderte Mike und wischte sich das Blut aus den Augen. »Aber Sie sind total durchgeknallt.«
»Lassen Sie uns nicht streiten, Mike«, sagte Jameson. »Das führt doch zu nichts. Und wir haben noch viel, sehr viel mehr zu tun. Kommen Sie.« Jameson legte ihm eine kalte Hand auf den Arm. »Sehen wir doch mal nach, was sich in diesem Koffer befindet.«