Sie folgten dem Security-Fahrzeug die Madison hinauf, durchquerten den Central Park und hielten wenig später vor einem imposanten Stadthaus in der Upper West Side. Mike stieg aus dem SUV und trat in den heller werdenden Morgen. Es war inzwischen kurz nach acht, aber wie jeden Samstagmorgen um diese Uhrzeit war die Stadt noch ruhig, fast menschenleer. Er streckte sich und ließ den Blick über den Park auf der anderen Straßenseite schweifen, wo sich ein Citi-Bike-Terminal befand und dahinter der Hudson River, mit hohem Pegelstand, dessen Salzgehalt Mike in der Luft zu schmecken glaubte.

Cullen stieg aus dem gepanzerten Fahrzeug und wurde sofort von zwei bewaffneten Sicherheitsleuten flankiert. Mike warf einen Blick auf Cam Putney und fragte sich, wie viele Zweifel dem Mann wohl gerade angesichts des Sicherheitsniveaus, das Cullen an den Tag legte, überkamen – dass er nicht stark genug war, nicht schnell genug, nicht gewitzt genug? Obwohl er Cam nicht mochte, empfand er plötzlich Mitleid für ihn. Selbst mit einer Größe von eins fünfundachtzig war Mike auf dem Spielfeld immer klein gewesen, daher wusste er, wie hart es war, sich körperlich unterlegen zu fühlen.

Mike folgte Cullen, Jameson und Anne-Marie die Stufen hinauf zur Tür des Stadthauses, wo ein Messingschild mit der Aufschrift Zentrum für das Studium der Kabbala in die Fassade eingelassen war. Kaum hatte Cullen angeklopft, öffnete ihnen ein junger Mann, begrüßte Cullen mit Namen: »Mr Withers, bitte hier entlang«, und führte sie durch ein luftiges Foyer zu einer Treppe in einen Lesesaal mit Eichentischen und gläsernen Leselampen.

Mike zog es zu den Bücherregalen. Auf einem Ständer in der Mitte des Raumes stand ein dickes Hebräisch-Englisch-Wörterbuch, und er wusste, er würde sich innerhalb weniger Stunden die Grundlagen der Sprache erarbeiten können. Sein Geschick mit Sprachen war eine Gabe, die der gleichen Quelle entstammte wie sein Talent, Rätsel zu lösen. Schon bald nach seinem Unfall beherrschte er fließend Französisch, Spanisch, Italienisch, Latein, Japanisch, Chinesisch und Altgriechisch, allesamt Sprachen, die er sich durch das Lesen von Grammatiklehrbüchern angeeignet hatte. Das Erlernen von Sprachen war für ihn wie das Knacken eines Codes, ein Rätsel, das ihm ermöglichte, mit Menschen aus anderen Ländern zu kommunizieren.

Eine Frau mit langen dunklen Haaren betrat den Raum und riss Mike aus seinen Gedanken. Sie war hochgewachsen, schlank, hatte markante Wangenknochen und große blaue Augen, trug eine weite weinfarbene Pluderhose und ein Seidentop. Sie begrüßte Cullen herzlich und bedeutete ihm, die Archivbox auf einen Tisch zu stellen, dann wandte sie sich an die anderen und stellte sich als Rachel Appel, Leiterin des Zentrums vor.

»Es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte sie und bot Mike die Hand an. »Aber um ehrlich zu sein, nachdem ich diesen Vanity Fair-Artikel gelesen und mir jede Woche den Kopf an Ihren Kreuzworträtseln zerbrochen habe, kommt es mir vor, als würden wir uns längst kennen.« Sie musterte seine Verletzungen. »Wie ich sehe, hat Sie das hier auch früh aus dem Bett geholt. Oder sollte ich sagen, aus dem Bett gezerrt?«

Er berührte den Schnitt über seinem Auge. Die Schwellung war noch nicht abgeklungen. »So könnte man es wohl besser ausdrücken, ja.«

»Ich fürchte, keiner von uns hat viel geschlafen«, schaltete sich Anne-Marie ein.

Rachel trat an Cullens Seite, als dieser die Archivbox öffnete und,

»Wir haben Mr Withers’ Wort, dass Sie diskret sein werden«, sagte Jameson. »Ich vertraue darauf, dass er diesbezüglich recht hat.«

Rachel lachte und warf ihm einen verschwörerischen Blick zu. »Diskret beschreibt mich nicht einmal annähernd, Mr Sedge. Wenn Sie später gegangen sind, werde ich mich nicht einmal mehr daran erinnern, dass Sie hier waren.«

Das schien Jameson zu beruhigen. Er lächelte schwach und ließ es dabei bewenden.

Rachel lehnte sich gegen den Tisch. »Nachdem ich den Brief von LaMoriette an seinen Sohn gelesen hatte, war ich so aufgedreht, dass ich direkt ins Zentrum kam, um in unserer Sammlung zu stöbern. In unserem Genealogie-Archiv konnte ich ermitteln, dass es tatsächlich einen Rabbi Ezekiel Josefez gab, der in den Jahren, in denen LaMoriette in Prag war, dort lebte, und dass dieser Rabbi der Rabbiner der Altneu-Synagoge war. Er hatte einen Sohn namens Jakob. Vater und Sohn starben, wie LaMoriette schrieb, im Jahr 1891, und beide Männer sind auf dem Alten Jüdischen Friedhof in Prag begraben, in einer Parzelle nicht weit von Rabbi Löw selbst.«

»Es ist also wahr«, sagte Cullen. »LaMoriettes Geschichte kann verifiziert werden.«

»Manches davon schon, und obwohl ich unter den meisten Umständen versucht wäre, solche Geschichten bestenfalls als das Produkt einer übersteigerten Phantasie abzutun – Geschichten über den Golem scheinen, wie die über Geister und Vampire, zu wilden Höhenflügen der Phantasie zu inspirieren –, fand ich LaMoriette doch recht glaubwürdig. Er hatte Verständnis für spezielle religiöse Vorstellungen, die außerhalb der üblichen Mythologie liegen. Die

Rachel ging zu einem Regal und nahm ein Buch heraus.

»Um zu verstehen, was Rabbi Josefez vorhatte, müssen wir wissen, was ein Golem eigentlich ist. Das Wort Golem taucht zum ersten Mal im Talmud auf«, sagte sie, blätterte durch das Buch und hielt schließlich auf einer Seite inne. »Sanhedrin 38b beschreibt die Erschaffung Adams durch Gott und bezeichnet den neu geschaffenen Körper als Golem, eine formlose Schale. Im frühen Hebräisch wurde Golem mit formlose Masse übersetzt. Der Golem wurde als ein Tonmodell, eine Art Prototyp, angesehen. Adams Körper war, bevor der Schöpfer ihm Leben einhauchte, ein Golem, ein unvollkommenes Geschöpf, ein Körper ohne Seele. Während die jüdisch-christliche Schöpfungsgeschichte als metaphorisch interpretiert wurde, glauben viele, dass sie buchstäblich wahr ist und als Modell für die gesamte Schöpfung dient, vom kleinsten Teilchen der Materie bis hin zum gesamten Universum.«

»Ich vermute, Sie meinen nicht den Urknall«, sagte Jameson grinsend.

»Sie werden überrascht sein, wie nahe die jüdisch-christliche Schöpfungsgeschichte dem Urknall ist«, erwiderte Rachel und lächelte. »In der kabbalistischen Vorstellung des Universums entstand die materielle Welt in einem Ausbruch aus dem Göttlichen, aus positiven und negativen Elementen, aus männlichen und weiblichen Manifestationen Gottes, die sich zu den Bausteinen des materiellen

Rachel Appel schloss das Buch, ging zu einem Regal und nahm ein anderes heraus.

»Bei der Schöpfung, ob aus religiöser oder wissenschaftlicher Sicht, geht es um den Moment, in dem das Unsichtbare sichtbar wird, in dem nichts zu etwas wird. In der jüdischen Tradition ist der älteste und wichtigste Text, der sich mit diesem Prozess befasst, die Sefer Jetzira, übersetzt als Buch der Formung oder auch Buch der Schöpfung.«

Rachel öffnete das Buch auf einer Seite mit einem Netz von Kreisen, die durch Pfade miteinander verbunden waren. Auf jedem Kreis und in jeder Bahn befanden sich hebräische Schriftzeichen. Sie fuhr mit einem Finger vom obersten Kreis aus im Zickzack die Pfade entlang.

Der Rabbi Josefez und sein Sohn Jakob machten sich diese Kraft zunutze, um Leben zu erschaffen. Sie kannten die Geheimnisse von Ha-Schem und damit die Geheimnisse der gesamten Schöpfung.« Rachel drehte sich lächelnd zu Mike um, und er hatte das Gefühl, dass sie im Folgenden speziell zu ihm sprach. »Um zu verstehen, wie sie das gemacht haben, muss man die Sephiroth verstehen, den direkten Kanal aus dem Unendlichen, Gott, in das Endliche, die Erde. Das erfordert eine starke Vorstellungskraft, aber ich glaube nicht, dass das ein Problem für Sie sein wird. Wenn Sie hierherkommen, neben mich, werde ich es Ihnen zeigen.«