Als sich der Raum leerte, schloss Rachel die Tür ab und setzte sich zu Mike an den Tisch.
»Sie haben etwas gesehen«, sagte sie und sah ihn gespannt an. »Das habe ich daran erkannt, wie Sie die Kreise angeschaut haben.«
»Sie werden es auch sehen.« Er öffnete den Lederkoffer und schob ihn zu ihr. »Wenn Sie das hier aufmachen.«
Sie packte die Puppe aus und hielt sie unter das Licht, sodass ihre leuchtend grünen Augen funkelten. Dann legte sie sie mit dem Gesicht nach unten auf den Tisch und öffnete den Hohlraum im Nacken. Sie drückte die Papierrolle zwischen ihren Fingernägeln zusammen, zog sie heraus und strich sie auf dem Tisch glatt.
»Es ist definitiv eine Kopie von Abulafias Ha-Schem Ha-Mephorasch, aber ich kann nichts Ungewöhnliches erkennen.« Sie sah Mike an. »Sie allerdings schon.«
»Nach meiner Verletzung«, sagte er, »habe ich jeden nur denkbaren Test gemacht. Aber erst als ich zu einem Neurologen ging und er einen Test auf Synästhesie durchführte, begann ich zu verstehen, was mit mir geschehen war. Einer der Tests, die ich gemacht habe, sah so aus …« Mike nahm sein Notizbuch mit Millimeterpapier heraus und zeichnete ein Diagramm, gefüllt mit den Zahlen 5 und 2. »Sehen Sie hier.« Er schob das Diagramm Rachel zu.
»Wenn ich Sie bitte, mir jede Zwei in diesem Diagramm zu zeigen, werden Sie das können, aber Sie werden dazu Zeit benötigen. Menschen mit einer Synästhesie wie ich hingegen sehen die Zahl zwei sofort, in einem Sekundenbruchteil.«
»Wie?«, fragte sie.
»So«, sagte er und malte die Zweien fetter, dunkler. »Die Verdrahtung meiner Sinne wurde verschränkt. Jede Zahl besitzt einen Farbwert, und diese Farbe hebt die Zweien augenblicklich hervor. Sehen Sie«, sagte er. »So sehe ich dieses Diagramm.«
»Und in welchem Zusammenhang steht das mit Abulafias Kreis?«, fragte sie und betrachtete mit gerunzelter Stirn das Diagramm.
»Ich kann Muster sofort erkennen«, sagte er. »Deshalb ist mir diese Unstimmigkeit gleich aufgefallen …« Mike nahm die Kopie des Kreises und legte sie neben Abulafias Originale. »Der in LaMoriettes Puppe gefundene Kreis ist eine Kopie des zehnten Kreises im Manuskript. Die beiden Kreise müssten eigentlich identisch sein. Sind sie aber nicht.«
»Sind Sie sich sicher?«, fragte Rachel und betrachtete die beiden Kreise genauer.
»Definitiv«, sagte er. »Sie sind fast identisch, weisen aber einen wesentlichen Unterschied auf.«
»Welchen?«, fragte Rachel und sah zwischen beiden Kreisen hin und her.
»Wie Sie sagten, sind die Wörter selbst und die Reihenfolge, in der sie gesprochen werden, eine Art Code. Die buchstabengetreue Wiedergabe ist entscheidend. Was also auf den ersten Blick wie ein winziger Unterschied aussieht, ist in Wirklichkeit eine enorme Abweichung. Wenn man die beiden vergleicht, wird klar, dass der Kreis falsch kopiert wurde.«
»Woher wissen Sie das?«
»Sehen Sie diese Buchstaben hier?« Mike zeigte auf die hebräischen Buchstaben חיים.
»Ja, dieses Wort ist haim«, sagte Rachel. »Das heißt übersetzt Leben. Es ist der Stamm von l’chaim, ein Ausdruck, der oft als feierlicher Trinkspruch verwendet wird: Auf das Leben.«
»Nun, im Originalkreis wurde das Wort auf die eine Art geschrieben, in der Kopie ist es verdreht oder seitenverkehrt. Sehen Sie.« Er zeigte ihr den Kreis mit dem verkehrten Buchstaben.
Rachel betrachtete es einen Moment lang. »Sie sagen also, haim wurde in der Kopie rückwärts geschrieben?«
»Genau«, sagte Mike. Er erinnerte sich an die letzten Seiten von LaMoriettes Brief. Was hatte Jakob gesagt? Es war ein Fehler. Er muss vernichtet werden. »Beim Kopieren ist ein Fehler unterlaufen.«
Es folgte ein angespanntes Schweigen, während Rachel den Kreis untersuchte. Ihr Blick pendelte zwischen dem Original des Manuskripts und der kleineren Kopie hin und her. »Sie haben recht«, sagte sie schließlich. »Haim ist in der Kopie seitenverkehrt. Ich versuche nur gerade zu verstehen, wie das passieren konnte. Der Rabbi hatte Abulafias Manuskript. Er hätte die richtige Schreibweise gekannt. Es kann kein Fehler gewesen sein.«
»Aber der Rabbi hat die Kopie nicht angefertigt«, sagte Mike. Er zog die letzten Seiten von LaMoriettes Brief heraus und zeigte sie Rachel. Folgsam hatte ich das Hebräische so exakt wie irgend möglich aus dem Manuskript kopiert. »Das Hebräische dürfte für ihn verwirrend gewesen sein und –«
»Natürlich«, sagte Rachel. »Abulafias Original war ein bustrophedon geschriebener Text, eine im Altertum durchaus verbreitete Technik, bei der nicht nur die Schreibrichtung wechselte, sondern auch die Ausrichtung der Buchstaben, sodass ein Text auch in Spiegelschrift erscheinen konnte. Der Rabbi Josefez hätte gewusst, wie man es richtig schreibt und liest, aber LaMoriette eben nicht. Er hat es kopiert, wie es auf der Seite stand, und damit einen Fehler verursacht.«
»Einen, der ganz offensichtlich Eindruck hinterlassen hat, denn er verwendete ein solches Spiegeln viel später noch einmal«, sagte Mike.
»Wo?«, fragte sie und überflog den Brief.
»Sie haben die erste Seite von LaMoriettes Brief an seinen Sohn gelesen. Haben Sie das Palindrom bemerkt?«
Rachel schüttelte den Kopf. »Palindrom?«
»Eine Folge von Buchstaben oder Zahlen, die in beiden Richtungen identisch ist, sodass sie absolut gleich vorwärts wie rückwärts gelesen werden kann.«
»Ich weiß, was ein Palindrom ist«, sagte sie und verdrehte die Augen. »Aber ich kann mich nicht erinnern, eines in LaMoriettes Brief gesehen zu haben. Was war’s denn?«
Mike nahm sein Notizbuch heraus und schrieb den lateinischen Satz von der ersten Seite von LaMoriettes Brief auf. Er schrieb den letzten Buchstaben als Großbuchstaben, um die Spiegelung zu betonen: In girum imus nocte et consumimur ignI.
Rachel las die lateinische Redewendung laut vor und übersetzte sie dabei. »Wir gehen des Nachts im Kreise und werden vom Feuer verzehrt.«
»Es ist ein Rätsel«, sagte Mike und verspürte einen Anflug von Freude über die Eleganz der Konstruktion, sowohl was die Bedeutung des Satzes als auch die Perfektion des Palindroms betraf.
»Was umkreist in der Dunkelheit eine Flamme, bis es verbrennt?«, fragte Rachel.
»Eine Motte«, antwortete Mike.
»Ja«, sagte Rachel. »Aber auch Ikarus, der so nah an die Sonne flog, dass seine Flügel verbrannten und er ins Meer stürzte. Und auch Prometheus, der bestraft wurde, weil er den Göttern das Feuer gestohlen hatte. Auch der Rabbi Josefez ist Ha-Schem zu nahe gekommen und starb.«
»Und LaMoriette selbst«, sagte Mike. »Im Kern ist sein Brief nichts anderes als ein langer Abschiedsbrief.«
»Der Brief war ein Abschiedsbrief, ja, aber vor allem anderen wollte LaMoriette seinen Sohn vor den Verlockungen einer solchen Macht warnen. Als er schrieb, Wir gehen des Nachts im Kreise und werden vom Feuer verzehrt, hat er die unfassbare Macht beschrieben, den wahren Namen Gottes auszusprechen.«
»Außerdem erklärt das die Dringlichkeit seines Briefs«, sagte Mike. »LaMoriette spürte, dass er selbst in Gefahr war. Das könnte der Grund für LaMoriettes Selbstmord gewesen sein. Der Mann hatte entsetzliche Angst.«
»Abulafias Kreis war darauf ausgelegt, eine solche Angst auszulösen«, erwiderte Rachel. »Die Erfahrung dieser Angst und Ehrfurcht vor Gott, der wahre Schrecken, den man bei der Kommunikation durch das Gebet empfindet – ein Zustand der Gemeinschaft mit dem Göttlichen –, das ist der springende Punkt. Der Kreis ist die Tür, aber der Gemütszustand, die Trance, welche die Worte erzeugen, ist der Schlüssel zu dieser Tür.«
»Wollen Sie damit sagen, dass ein Gemütszustand zu dem führte, was dem Rabbi und seinem Sohn widerfuhr?«
»Das ist ein Teil davon, ja«, sagte sie. »Aber die eigentlichen Worte und Zahlen in dem Kreis sind ein anderes, gleichermaßen wichtiges Element. Als das Wort haim verändert wurde, veränderte sich auch das Ergebnis. Dies erklärt, was dem Rabbi und seinem Sohn zugestoßen ist, und ebenfalls die schrecklichen Ereignisse im Sedge House. Die Veränderungen, die Sie in der Kopie von Abulafias Zirkel entdeckt haben, mögen zwar unbedeutend erscheinen, aber sie hatten die Macht, schreckliche Folgen zu verursachen. Und als dieser Kreis von Rabbi Josefez benutzt wurde, war das Ergebnis absolut katastrophal.«
Mike erinnerte sich an die grausame Beschreibung von Jakob in LaMoriettes Brief und an die Fotos, die er von Frankie Sedge und Noah Cooke gesehen hatte. Rachel hat recht, dachte er. Ein paar kleine Änderungen in einem Code können in komplexen Systemen verheerende Auswirkungen haben. Der kleinste Fehler kann den größten Schaden anrichten. Schwerwiegende Defekte entstehen durch eine winzige Mutation in einem einzigen Gen. Ein winziger Fehler in einem Computercode kann das gesamte System lahmlegen.
»Okay, aber welches System hat es hier verändert?«
»Das höchste, das ultimative System«, sagte Rachel. »Das System des Lebens. Ähnlich Dr. Frankenstein, der Elektrizität in seine Kreatur leitete, benutzten sie Abulafias Gebetskreise als direkten Weg der Energie von Gott, um einen Golem mit Leben zu versehen. Und sie waren dabei durchaus erfolgreich. Sie führten das Ritual korrekt aus. Nur war das Ergebnis nicht, was sie erwartet hatten.«
Sie lenkte Mikes Aufmerksamkeit wieder auf den Baum des Lebens, der auf dem Tisch lag.
»Ich habe vorhin begonnen, die Sephiroth und die Positionen der zehn Kreise auf dem Lebensbaum zu erklären, aber es gibt noch einen weiteren Aspekt, den ich bisher nicht erwähnt habe. Er ist für die meisten Menschen einfach zu esoterisch. Aber Sie sind anders. Ich denke, Sie werden es verstehen.«
Sie zeigte auf den obersten Kreis, Kether, zog dann eine Linie durch jeden Kreis und hielt bei Malchuth, dem letzten Kreis, inne.
»In der Kabbala ist jeder dieser Kreise eine Sphäre mit einem einzigartigen Aspekt und einer Funktion bei der Erschaffung der Welt. Im Grunde sind sie wie elektrische Schaltstellen, die das Göttliche und die materiellen Dinge mit stromführenden Drähten verbinden. Die Kreise oder Schaltstellen sind die Orte, an denen Energie gesammelt, umgewandelt und weiter verteilt wird. Als solche werden diese Sphären von ebenso mächtigen Dienern bewacht: den göttlichen Wesenheiten, besser bekannt als Engel.«
Mike war augenblicklich skeptisch. »Engel?«
»Lassen Sie mich ausreden«, sagte sie. »Wie ich bereits erwähnt habe, ist die Grundlage der Schöpfung in der Kabbala die Vereinigung von Gegensätzen: positiv und negativ, männlich und weiblich. So gibt es in der Kabbala eine umgekehrte Kraft im Universum, die Qliphoth genannt wird. Es ist die Kraft der Dunkelheit oder des Bösen, das Gegenteil des Baums des Lebens. Die Qliphoth wird oft als das Produkt zerbrochener Schalen oder als hohle Gefäße beschrieben, die gesprungen sind. Der Überlieferung nach war Gottes Emanation beim ersten Versuch, das Universum zu erschaffen, so stark, dass die Gefäße, die sie aufnehmen sollten, zerbrachen. Er versuchte es erneut und schuf die Welt, wie wir sie kennen. Aber das frühere, zerbrochene Universum verschwand nicht. Es blieb bestehen, als Gegensatz zu dem Universum, das wir bewohnen.«
Mike erinnerte sich an Anne-Maries Worte über das crazing – den extremen Druck, der zu einer Explosion führte. Das unvollkommene Muster, Craquelé, das dabei entstand.
»Diese Dualität wurde durch den Baum der Erkenntnis von Gut und Böse verkörpert. Sie erinnern sich, dass dies der verbotene Baum war, der Adam und Eva in Versuchung führte. Als sie von seiner Frucht aßen – und die Dualität oder die Existenz von Gut und Böse kennenlernten –, wurden sie aus der Unschuld oder dem Paradies in das Reich der Erkenntnis verwiesen. Die Sphären des Lebensbaums werden von Engeln bewohnt, die Sphären der Qliphoth von Dämonen. Im Baum des Lebens wird der zehnte Kreis, Malchuth – der Kreis, den der Rabbi bei der Erschaffung des Golems benutzte – vom Engel Sandalphon betreut. In der Qliphoth ist der zehnte Kreis der Ort, an dem der Dämon Lilith lebt.«
»Warten Sie«, sagte Mike. Rachel hatte etwas in seinem Gedächtnis wachgerufen. Die Worte Lilith lebt erschienen in seinem Kopf. »Etwas, das Sie gerade gesagt haben …« Er nahm LaMoriettes Brief und zeigte Rachel, was Jess am unteren Rand notiert hatte: Höllisch böser Ritus. »Jess Price hat das nach Noah Cookes Tod geschrieben.«
Rachel studierte die Worte, sichtlich verwirrt. »Was in aller Welt …?«
»Ich habe versucht zu verstehen, was Jess damit meinte. Sie hatte nur wenige Minuten Zeit, um etwas mitzuteilen, bevor sie das hier versteckte, und obwohl sie alles Mögliche hätte schreiben können, wählte sie diese drei Worte. Höllisch böser Ritus. Zuerst dachte ich, diese Worte sollten beschreiben, was in jener Nacht geschah. Aber Jess liebt die Sprache, ganz besonders Buchstabenspiele und Rätsel. Sie würde niemals etwas so Simples schreiben. Als Sie gerade eben Lilith lebt gesagt haben, hat etwas in mir klick gemacht. Es ist ein Anagramm.« Mike sah die Anordnung der Buchstaben sofort vor seinem geistigen Auge, aber um es Rachel zu zeigen, nahm er das Notizbuch und schrieb die Worte Höllisch böser Ritus auf Englisch: hellish evil rite. Dann ordnete er die Buchstaben neu, bis er den Satz Lilith lives here buchstabiert hatte.
»Lilith lebt hier«, sagte Mike. »Jess Price hat festgestellt, dass Lilith in der Nacht, in der Noah Cooke starb, im Sedge House anwesend war.«
Rachel starrte auf die Worte auf dem Papier, dann sah sie Mike entsetzt an. »Wenn das stimmt«, sagte sie, »ist Jess in schrecklicher, wirklich schrecklicher Gefahr.«