9. Juni 2022

Ray Brook, New York

Mike Brink bog auf eine Landstraße ein, fuhr durch einen dichten Nadelwald und hielt vor dem hohen Metalltor des Gefängnisses. Seine Hündin, eine einjährige Dackeldame namens Conundrum, kurz Connie, schlief auf dem Boden des Pick-up, im Schatten gut getarnt. Sie lag so still da, dass der Wachmann sie gar nicht sah, als er auf Mikes Wagen zutrat und hineinlinste. Er glich lediglich Mikes Führerschein mit einer Liste ab und winkte ihn dann zu einem imposanten Backsteingebäude hinüber, das besser zu einem Horrorfilm zu passen schien als zu diesem strahlenden Sommertag.

Mike hatte eine Verabredung mit Dr. Thessaly Moses, der leitenden Psychologin der New York State Correctional Facility, einem reinen Frauengefängnis mit geringer Sicherheitsstufe, das am Rande der kleinen Ortschaft Ray Brook gelegen war, im Bundesstaat New York. Sie hatte ihn letzte Woche angerufen und ihn um einen Besuch im Gefängnis gebeten. Eine der Gefangenen habe ein verwirrendes Bilderrätsel gezeichnet, das sie nicht zu deuten vermochte. Vielleicht könne er ihr dabei behilflich sein? Mike kannte solche Anfragen. Seit das Time Magazine ihn zum talentiertesten Enträtsler der Welt erkoren hatte, wurde der Zweiunddreißigjährige regelmäßig mit Rätseln bombardiert. Die meisten löste er innerhalb weniger Minuten. Doch der Beschreibung von Dr. Moses nach zu urteilen, war dieses Rätsel tatsächlich außergewöhnlich, anders als alle, die er je zuvor

Das Gefängnis hatte etwas Unheilvolles mit seinen hohen Türmchen und schmalen dunklen Fenstern. Während seiner Recherchen hatte Mike erfahren, dass es 1903 als Sanatorium zur Behandlung von Tuberkulose erbaut worden war. Die saubere Luft, die erhöhte Lage und die endlosen Wälder waren ein wesentlicher Bestandteil der Kur. Wenn das Institut zu so etwas wie Ruhm gelangt war, dann aufgrund seiner Erwähnung in Sylvia Plaths Die Glasglocke. Plath hatte ihren Freund besucht, als der sich dort von einer Tuberkulose erholte, und es dann für ihren Roman genutzt. Inzwischen beherbergte das Sanatorium Hunderte weibliche Häftlinge. Vom Parkplatz aus sah Mike einen Hof, der von Maschendrahtzaun umgeben war, gekrönt von NATO-Draht, und dahinter einen modernen Anbau aus Betonstein, dessen Strenge in einem überraschenden Kontrast zu den gotischen Ausschweifungen des ursprünglichen Gebäudes stand. All das war umgeben von einem schier endlosen Meer an dichten Nadelwäldern, die eine natürliche Barriere zwischen den Häftlingen und dem Rest der Welt bildeten. Selbst wenn eine Gefangene es über den Zaun schaffen sollte, selbst wenn sie sich aus den Schlingen des Stacheldrahts befreien könnte, befände sie sich doch im Nirgendwo.

Mike parkte im Schatten, goss für Connie Wasser in eine Schale, kraulte sie hinter ihren langen, weichen Ohren, steckte einen tragbaren Ventilator in den Zigarettenanzünder und ließ das Fenster einen Spalt weit offen, damit sie es gut hatte. Normalerweise ließ er sie nicht allein, doch er würde nicht lange weg sein, und die Bergluft

Am Haupteingang blieb er an der Sicherheitsschleuse stehen, ließ seine Schultertasche in eine Kunststoffwanne gleiten, zeigte dem Wärter seinen Führerschein und den Covid-Impfausweis und trat durch einen Metalldetektor. Er hatte vorher die Genehmigung erhalten, seine Tasche mitzubringen, in der sich sein Laptop, sein Handy, ein Notizbuch und ein Stift befanden, und war sehr erleichtert, dass die Wachen nicht versuchten, sie ihm abzunehmen. Auf der anderen Seite stand wartend eine Frau in einem lockeren marineblauen Kleid. Sie war groß, dünn, hatte dunkelbraune Augen, dunkle Haut und das Haar zu einem Bob geschnitten. Sie stellte sich als Dr. Thessaly Moses vor, die leitende Psychologin.

Er selbst brauchte sich nicht vorzustellen. Sie hatte ihn mit Sicherheit gegoogelt. Dennoch starrte sie ihn einen Tick zu lange an, und er wusste, dass sein Aussehen sie überraschte. Er war eins fünfundachtzig, athletisch, schlank, aber auch muskulös und (wie ihm gesagt wurde) gut aussehend, entsprach also überhaupt nicht der Vorstellung, die sich Leute von einem »Rätselfreak« (wie seine Mutter ihn manchmal witzelnd nannte) machten. Er trug seine geliebten roten Converse-All-Stars, eine schwarze Levi’s und ein Sportsakko über einem T-Shirt, auf dem »Somebody Do Something« stand.

Abgesehen von Fotos hätte eine Google-Suche nach Mike Brink auch einen Videoclip-Treffer von seinem Auftritt in der Late Show with Stephen Colbert ergeben, der 2020 während des Lockdowns per Zoom-Zuschaltung stattgefunden hatte. Mike hatte Colbert auf eine Tour durch seine Rätselbibliothek mitgenommen und einen seiner japanischen Geheimniskästen geöffnet, was die Inspiration zu einem Witz über Sushi lieferte. Zudem gab es eine Wikipedia-Seite mit einem Link zur New York Times, für die er regelmäßig Rätsel entwickelte, einer Liste von Rätselwettbewerben, die er gewonnen hatte, und einem Link zu einem Vanity Fair-Artikel, in dem seine Lebensgeschichte nachgezeichnet wurde: eine gewöhnliche Kindheit

»Danke, dass Sie es so schnell möglich gemacht haben«, sagte Dr. Moses. »Ich wäre gerne in die Stadt gekommen, aber ich kann meine Patientinnen nicht allein lassen.«

»Sie haben meine Neugierde eindeutig geweckt«, erwiderte er. »Ihrer Beschreibung nach scheint das Rätsel recht ungewöhnlich zu sein.«

»Um ehrlich zu sein, finde ich absolut keinen Zugang dazu«, sagte sie. »Aber wenn irgendwer Licht ins Dunkel bringen kann, dann Sie.«

Ihr Vertrauen in seine Fähigkeiten beunruhigte ihn. Bei seinem wachsenden Ruhm als Rätsellöser nahmen die Menschen oft an, er würde übernatürliche Kräfte besitzen. Nicht nur die Fähigkeit, Pi bis auf fünfzehntausend Nachkommastellen aufzusagen, oder das Talent, ein äußerst schwieriges Kreuzworträtsel zu erschaffen, sondern das Vermögen, die Zukunft vorherzusagen. Doch er besaß weder übernatürliche Kräfte, noch konnte er Unmögliches bewirken. Er war ein ganz normaler Typ mit einer singulären Gabe, einer »Insel der Genialität«, wie sein Arzt es nannte. Er konnte es lediglich versuchen, mehr nicht.

»Haben Sie es bei sich?«, fragte er, als er die Mappe unter ihrem Arm bemerkte.

»Wenn Sie mir bitte folgen würden, dann können wir uns ungestört unterhalten«, sagte Dr. Moses.

Obwohl er wusste, dass das Gefängnis nach einem anderen Plan gebaut worden war als moderne Einrichtungen, hatte er unbewusst doch erwartet, Betonzellen und vergitterte Fenster zu sehen, so wie er es aus Filmen kannte. Stattdessen führte ihn Dr. Moses einen ruhigen, beinahe anheimelnden Flur entlang, der zwar den Notwendigkeiten einer Anstalt entsprach – die Fenster waren verstärkt –, aber dennoch menschlich wirkte. Neben den Metalldetektoren standen Topfpflanzen, an den Wänden hingen Bilder, und der Boden war

Thessaly Moses führte ihn in ihr helles, schickes Büro und schloss die Tür hinter ihm. Mike sah sich um: ein makelloser Schreibtisch, nach Farben sortierte Heftmappen in einem Regal, ein Desktop-Computer von Apple, alles vollkommen uninteressant – bis sein Blick auf einen Zauberwürfel fiel, der auf der Fensterbank lag. Es war ein neueres Modell, die einzelnen Würfelchen waren aus Plastik anstatt mit Aufklebern versehen, eine Mischung aus Blau, Grün, Gelb, Orange, Rot und Weiß. Die Würfelchen waren auf eine Art durcheinander, der Mike die regelmäßigen Lösungsversuche sofort ansah; die Wochen, vielleicht auch Monate des Drehens und Wendens, die jemand – vermutlich Thessaly Moses – damit gekämpft hatte, die sechs Farben in die richtige Ordnung zu bekommen. Er trommelte mit den Fingern gegen seinen Oberschenkel, eine nervöse Energie erfasste ihn. Allein den Würfel in diesem Zustand der Unordnung zu sehen erfüllte ihn mit dem überwältigenden Verlangen, ihn zu richten.

Dr. Moses bemerkte sein Interesse und wog den Würfel in ihrer Hand. »Den habe ich letztes Jahr auf einer Party gewonnen«, sagte sie. »Ich hatte auf den Magic 8 Ball gehofft. Ich versuche immer wieder, diesen Würfel zu lösen, aber es ist aussichtslos. Um ehrlich zu sein, weiß ich gar nicht, warum ich es mache. Was bringt es, seine Zeit mit nutzlosen Aufgaben zu vergeuden?«

Während Dr. Moses den Würfel vor sich hin- und herdrehte, wertete Mike jede Seite aus. Drei Schritte nach vorn im Uhrzeigersinn, zwei Schritte zurück gegen den Uhrzeigersinn, ein Schritt nach rechts, fünf Schritte nach links … Im Geiste sah er die Bewegungen deutlich vor sich, die zu einer perfekten Ordnung gleicher Farben auf sechs Seiten führten.

»Hier«, sagte sie und warf ihm den Würfel zu.

Er fing ihn mit der linken Hand, warf einen kurzen Blick auf jede Seite, sodass sich die Farbblöcke in seinem Kopf ordneten, und löste den Würfel in zwanzig Schritten und geschätzten fünfzehn Sekunden. Das war keine Bestleistung – Mats Valk, der Weltmeister im Speedcubing, schaffte es in 5,5 Sekunden –, aber es war dennoch recht gut. Als er den Würfel wieder in Thessaly Moses’ Hand legte, schoss ihm das Adrenalin durch die Adern. Das, genau das hier, war der Grund, aus dem er Rätsel löste: das Gefühl, dass alles im Universum einen Sinn ergab. Es war, als würde man den Touchdown zum Sieg werfen oder einen Marathon beenden. »Ich habe ein Talent für nutzlose Aufgaben«, sagte er.

Sie starrte ihn an, die Augen weit aufgerissen vor Staunen. »Sieht so aus«, sagte sie, nahm den Würfel und strich mit einem Finger über die Farbfelder, über die perfekte Ordnung des Würfels, bevor sie ihn wieder auf den Schreibtisch legte. Sie hob an, Mike etwas zu fragen, zögerte einen Moment und sagte schließlich: »Ich bin mir sicher, das werden Sie ständig gefragt, und verzeihen Sie mir meine Neugierde, aber wie um alles in der Welt haben Sie das eben gemacht?«

Ja, diese Frage war ihm tatsächlich schon tausendmal in der einen oder anderen Version gestellt worden. Was genau verbarg sich hinter dieser Fähigkeit, Rätsel zu lösen? War es Instinkt? Intuition? Begabung? Magie? Hatte er eine Art Computer im Gehirn, der die Antworten ausspuckte? Hatte er sich Tausende von Lösungen zu Tausenden von Rätseln gemerkt? Worin bestand der Trick? Doch die simple Wahrheit war, dass er nicht wusste, wie es passierte. Er konnte es nicht erklären. Sein Hirn tat es ohne seine Erlaubnis, so wie sein Herz Blut pumpte. Es hängte sich – manchmal, ohne dass es

Dr. Moses bedeutete ihm, es sich in der Sitzecke ihres Büros auf einem kleinen Sofa gemütlich zu machen, und nahm dann ihm gegenüber Platz. Als sie beide saßen, begegnete sie seinem Blick mit der achtsamen Aufmerksamkeit, die geübte Therapeutinnen und Therapeuten auszeichnete. Er hatte ihn nach seinem Unfall oft genug gesehen, um zu wissen, was ihn begleiten würde: ein mitfühlender Tonfall und der Versuch, eine emotionale Verbindung aufzubauen. Er hasste die Heuchelei, die dem meist zugrunde lag, die fehlende Authentizität, doch Thessaly Moses schien ehrlich interessiert zu sein. Sie hatte ihn aus einem bestimmten Grund hergeholt.

Sie nahm ein Blatt Papier aus ihrer Mappe und reichte es ihm. »Das ist die Zeichnung«, sagte sie. »Ich bin gespannt zu erfahren, was es Ihrer Meinung nach bedeutet.«