Das einzige Krankenhaus lag wie auch das einzige Gefängnis von Ray Brook außerhalb der Stadt, eingebettet in einem ausgedehnten Waldgebiet. Nach Cams Überfall war der Rest der Fahrt geradezu friedlich verlaufen. Mike spielte alle möglichen Varianten durch, was mit Thessaly Moses passiert sein könnte. Der Artikel, den Dr. Gupta ihm geschickt hatte, war vage, bot wenig Handfestes. Er wusste weder, wie schwer sie verletzt worden war, noch, wo Jess Price zur Tatzeit gewesen war oder ob die Polizei den Täter gefunden hatte. Das Fehlen von Details veranlasste ihn, das Schlimmste zu befürchten.
Sie kamen am Nachmittag an. Mike versuchte, Thessaly vom Krankenhausparkplatz aus anzurufen. Sie nahm nicht ab, aber zehn Sekunden später erschien eine Textnachricht von ihrer Nummer. Kann nicht sprechen. Wo sind Sie?
Er erklärte, dass sie vor dem Krankenhaus waren und sie sehen müssten. Sie schrieb zurück: Die Polizei war heute Morgen hier, und das macht das Personal nervös. Nur die nächsten Angehörigen sind erlaubt. Falls jemand fragt, sagen Sie einfach, Sie sind mein Bruder. Ich liege in Zimmer 207.
Mike antwortete: Okay, Schwester, auch wenn mir das vielleicht niemand abkaufen wird, weil ich ja weiß bin.
Woraufhin Thessaly mit einem dunkelhäutigen Daumen hoch-Emoji antwortete: Dann eben Stiefbruder.
Auf der ersten Etage wurden sie sofort von einer Krankenschwester aufgehalten, die sie zur Rede stellte. Als Mike sagte, sie suchten Zimmer 207, warf die Schwester ihnen einen scharfen Blick zu, zeigte dann aber den Flur hinunter. Er ging schnell weiter, vorbei an einem Rollstuhl, einem verlassenen Tropf und einem Essenswagen – Kartoffelbrei, Brokkoli und etwas, das wie Lasagne aussah. Mike schüttelte sich. Der Geruch von Krankenhäusern erinnerte ihn immer an die Zeit, als sein Vater krank gewesen war. Beinahe dreizehn Jahre war das jetzt her …
Vor Zimmer 207 gab Rachel ihm mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass er ohne sie hineingehen solle. Er zögerte – Rachel Appel gehörte jetzt dazu, und Thessaly sollte das wissen –, aber vermutlich gab es tatsächlich einen besseren Zeitpunkt, um die beiden Frauen einander vorzustellen. Thessaly saß aufrecht im Bett. Ein Verband bedeckte die linke Seite ihres Gesichts. Er betrat den Raum, aber sie sah ihn erst, als er fast direkt vor ihr stand.
»Mike«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln.
»Was zum Teufel ist passiert?«, fragte er leise, als ob die Lautstärke ihre Verletzung verschlimmern könnte.
»Zweiundzwanzig Stiche«, sagte sie und zog eine Linie über ihre Wange. »Ich kann von Glück sagen, dass ich mein Auge nicht verloren habe.«
Erst jetzt begriff er vollends, was Thessaly Entsetzliches zugestoßen war. Jemand hatte sie brutal überfallen. Sie musste starke Schmerzen haben und würde sicher eine Narbe im Gesicht zurückbehalten. Wieder spürte er die Last der Verantwortung. Er hätte dort sein sollen. Hätte er Ray Brook nicht verlassen, wäre sie nicht verletzt worden.
Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben das Bett. Vielleicht konnte er ihr Leid ja irgendwie lindern. Da bemerkte er die dicke Wochenendausgabe der New York Times auf dem Nachttisch. Das Sonntagsmagazin der Times lag mit aufgeschlagener Rätselseite da. Es war eines von seinen – das Triangulum, das ihm an dem Tag, an dem er in dieses Abenteuer verstrickt worden war, solche Schwierigkeiten bereitet hatte.
Es war ein solides Puzzle, und die Eleganz der Konstruktion erfüllte ihn mit Stolz. Er liebte Zahlenrätsel – Str8ts, 24er-Rätsel, Sudokus, Kreuzzahlrätsel. Ihre Prämisse war immer klar und ließ keinen Raum für Zweideutigkeiten. Man bekam ein paar Zahlen vorgegeben, gab den Rest ein, und alles fügte sich zusammen. Als er das Triangulum betrachtete, stellte er fest, dass es zu seinen anspruchsvolleren Rätseln gehörte. Thessaly hatte nur zwei der Antworten vervollständigt. »Das ist ein lustiges Rätsel«, sagte er und deutete mit einem Nicken darauf.
»Stimmt«, erwiderte sie trocken. »Ich habe den ganzen Morgen daran gearbeitet, Mike. Können Sie nicht auch mal eines machen, das für normale Menschen wie mich einen Tick zugänglicher ist?«
»Ich würde Sie jetzt nicht unbedingt ›normal‹ nennen«, sagte er. »Es war wirklich erstaunlich, dass Sie es geschafft haben, Jess Price diese Nachricht an mich aufnehmen zu lassen. Wenn Sie das nicht getan hätten, wäre ich in dieser Sache auch nicht annähernd da, wo ich jetzt bin.«
Sie starrte ihn an. »Und wo genau wäre das?«
Er blickte hinaus auf den Korridor, dann zu den Monitoren neben ihrem Bett. Er war eigentlich noch nie paranoid gewesen, doch er wusste nur zu gut, dass jede seiner Bewegungen getrackt und seine Stimme aufgezeichnet werden konnte. »Ich werde Ihnen alles sobald wie möglich erklären«, antwortete er. »Aber jetzt sagen Sie mir erst mal, wer Ihnen das angetan hat.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht«, erwidert sie. »Ich bin nach Hause gegangen, um Ihnen die Audiodatei zu schicken, und saß gerade am Esszimmertisch, als es passierte. Offensichtlich muss ich mich gegen den Eindringling gewehrt haben – mir wurde mein eigener Laptop ins Gesicht geschlagen –, aber ich kann mich an nichts erinnern. Mein Arzt sagt, es besteht eine fünfzigprozentige Wahrscheinlichkeit, dass meine Erinnerung an den Zwischenfall zurückkehrt.«
Mike verspürte einen Anflug von Mitleid. Er wusste, wie es sich anfühlte, nach einer Verletzung die Kontrolle zu verlieren.
»Inzwischen ist der Freund, den ich erwähnt habe – John Williams, der Sicherheitschef des Gefängnisses – auf der Suche nach dem Täter. Er glaubt, dass es etwas mit dem Hack zu tun hat, durch den ich aus dem System ausgesperrt wurde.«
»Glaubt er, es war jemand aus dem Gefängnis?«
Thessaly zuckte die Achseln. »Er weiß es nicht, aber möglich wär’s. Er hat sämtliche Sicherheitsdaten überprüft, in der Hoffnung, etwas Merkwürdiges zu finden – einen Unbefugten, der sich ein- und ausloggt, oder eine kürzlich entlassene Gefangene, die vielleicht ein Hühnchen mit mir zu rupfen hat. Es gibt eine ganze Menge zu überprüfen, denn wie Sie bei unserem Ausflug in den Keller selbst gesehen haben, besitzt die Einrichtung einige strukturelle Schwachstellen. Bislang hat John jedoch noch nichts gefunden.«
»Hat er sich auch um den Verbleib von Cam Putney gekümmert?«
Die Erwähnung des Wächters überraschte sie. »Woher wissen Sie von ihm?«
»Er arbeitet für Jameson Sedge.«
Thessaly verarbeitete diese Information. »Sie meinen, Mr Putney arbeitet für den Kerl in dem Tesla, vor dem mich mein Freund gewarnt hat?«
»Genau«, sagte Mike. »Der steckt hinter all dem.«
Auf Thessalys Gesicht spiegelte sich eine Reihe von Emotionen: Überraschung, Empörung, dann auch Wut. »John wird stinksauer sein. Er wird alles ganz genau wissen wollen. Ist es ein Problem für Sie, wenn ich diese Informationen an ihn weitergebe?«
»Ich würde sowieso gern mit ihm sprechen«, sagte Mike. »Ich würde ihn gern fragen, ob er mir bei etwas behilflich sein kann.«
»Was für ein ›etwas‹ wäre das denn?«
Er holte tief Luft, weil er wusste, seine Bitte würde wie ein Stein einschlagen. »Ich muss Jess Price noch einmal treffen.«
Thessaly starrte ihn an, als versuchte sie erst noch zu verstehen, was sie da gerade gehört hatte. »Wie bitte?«
»Sie haben mir doch gesagt, dass sie verlegt wird«, sagte er. »Ist das schon passiert?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nach dem Überfall hat John die Verlegung erst mal auf Eis gelegt.«
»Ich muss mit ihr reden«, sagte Mike. »Der Ort spielt keine Rolle. In der Bibliothek. In Ihrem Büro. Alles ist gut. Ich muss sie nur sehen. Allein.«
»Sie wissen, dass das nicht geht.«
»Es ist sehr viel verlangt, das ist mir schon klar«, sagte er. »Aber es ist wichtig. Ihr Freund wird mir helfen wollen, wenn er weiß, wie extrem wichtig es ist.«
Thessaly hob eine Augenbraue. »Damit ich das jetzt richtig verstehe: Sie wollen, dass der Chef des Sicherheitsdienstes einer Justizvollzugsanstalt von New York State einem Mann, der als Sicherheitsrisiko eingestuft worden ist und dem der Zugang zum Gefängnis von höchster Stelle aus entzogen worden ist, dass er diesem Mann erlaubt, mit einer Gefangenen allein zu sein?«
Er wusste, dass es eine unerhörte Bitte war. »Zehn Minuten, um mehr bitte ich gar nicht.«
»Sie haben den Verstand verloren, Mike.«
Er schwieg. Genau das Gleiche hatte er selbst schon oft gedacht, aber es hatte etwas Befriedigendes, es jemand anderen laut aussprechen zu hören.
»Hören Sie, hier geht es um erheblich mehr, als uns allen klar ist. Jess Price hatte Angst, über das zu sprechen, was ihr widerfahren ist, weil sie überwacht wurde. Cam Putney hat Jess im Auge behalten und Jameson Sedge Bericht erstattet. Aber Jess weiß vielleicht mehr über das alles, als sie sagt. Sie hat angefangen, sich mir gegenüber zu öffnen. Wenn John Williams mich nur zu ihr lassen würde, dann würde sie mir alles erzählen, das weiß ich. Auch, wer Sie überfallen hat.«
Thessaly schien darüber nachzudenken, und gerade als Mike schon fürchtete, sie würde ihn bitten zu gehen, griff sie nach ihrem Handy. »Geben Sie mir ein paar Minuten«, sagte sie. »Ich werde sehen, was ich tun kann.«
Geduld war nicht unbedingt Mikes Stärke, und abzuwarten, ob er Zugang zu Jess Price bekommen würde, war nahezu unerträglich. Er ging auf dem Flur vor Thessalys Zimmer auf und ab, besorgte sich und Rachel aus einem Automaten zwei Tassen bitteren Kaffee und bemühte sich mit aller Macht, nicht durchzudrehen. Im Wartebereich entdeckte er ein weiteres Exemplar des Sonntagsmagazins der Times und half Rachel bei der Lösung des Triangulums.
Es hatte etwas sehr Beruhigendes, etwas elementar Befriedigendes, das Zahlenmuster zu vervollständigen. Die Zahlen fügten sich auf klare, logische und eindeutige Weise zusammen. Es gab keine Zweideutigkeit. Die Antworten waren die Antworten, ohne jeden Zweifel. Er lächelte, als er Rachel die Buchstaben zeigte, die er eingefügt hatte, das alphanumerische Osterei seines Namens mit den Zahlen 13, 9, 11, 5, 2. Mike B.
Schließlich hörte er Thessaly nach ihm rufen. Nervös kehrte er in ihr Zimmer zurück.
»Er wird es machen«, sagte Thessaly, als sie Mike eintreten sah. »Er muss noch Verschiedenes abklären, aber er sagte, dass er Sie anrufen und Ihnen mitteilen wird, wann Sie ins Gefängnis kommen können.«