Die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Jess Price endete mit einem umfassenden Freispruch. Jameson Sedges Selbstmord und die Rede, die er im Gefängnis gehalten hatte, um Jess zu entlasten, änderte die Beweislage, und Anne-Maries Aussage unterstützte das weiter. Sie schilderte detailliert Jamesons Ringen mit seiner psychischen Erkrankung, die in seiner Kindheit mit dem Tod des Vaters begonnen hatte und in seinem tragischen Selbstmord endete. Sie beschrieb seine Besessenheit von der Unsterblichkeit und gab zu, dass sie sich bereits seit Jahren Sorgen um ihn gemacht hatte. Die Geschworenen hörten alarmierende Enthüllungen darüber, wie Jameson einen Mann ins Gefängnis geschleust hatte, um Jess überwachen zu lassen, und ihn auch mit der Ermordung von Ernest Raythe beauftragt hatte. John Williams sagte aus, Jameson habe nur wenige Minuten vor seinem Selbstmord erklärt, dass Jess Price keine Schuld am Tod von Noah Cooke trage. Beweise für seine Beteiligung an einer radikalen futuristischen Gruppe, die behauptete, die Erben der Alchemisten zu sein, besiegelten die Angelegenheit.

Mike besuchte Jess in den Monaten vor ihrer Entlassung nicht. Die außergewöhnlichen Ereignisse hatten ihn zutiefst verunsichert. Er hatte alles hautnah miterlebt – die überaus plastischen Träume, das Ritual, die schreckliche Macht des Ha-Schem –, und doch begann er, an sich zu zweifeln, seine Erinnerungen so lange infrage zu stellen, bis sie ihm wie eine Art Fata Morgana erschienen, hell und schillernd und unwirklich. Er begann, Jess Price und das Gottesrätsel als eine Abfolge zufälliger Ereignisse in seinem ansonsten so geordneten

Er machte einen Termin bei Dr. Trevers, in der Hoffnung, dieser würde ihm eine rationale Erklärung liefern können. Ihr Gespräch fand als Videoanruf statt. Connie saß auf Mikes Schoß und behielt den Bildschirm aufmerksam im Blick, während ihr Herrchen seine Erlebnisse schilderte. Mike erklärte nicht alles, was er durchgemacht hatte, nur die Intensität der Träume und dass sie tiefe Spuren in seinem Gedächtnis hinterlassen hatten. »Ich muss wissen, was passiert ist«, sagte er, »und ob es wieder passieren könnte.«

Dr. Trevers dachte lange über das Gehörte nach. Schließlich sagte er: »Sie wissen natürlich, dass ein Schädelhirntrauma unregelmäßige Serotoninmodulationen bewirken kann.«

»Sicher«, sagte Mike. Sie hatten über seine Stimmungsschwankungen, seine Schlafbeschwerden und all die Möglichkeiten gesprochen, wie er durch Bewegung und Meditation seinen Serotoninspiegel beeinflussen konnte. »Aber was hat das mit meinen Träumen zu tun?«

»In gewissen Phasen des Schlafs nimmt die Serotoninmodulation zu. Das ist völlig normal. Aber bei einer unregelmäßigen Modulation kann Serotonin das Gehirn fluten und dabei anormale Erfahrungen verursachen. Man hat festgestellt, dass ein hoher Serotoninspiegel im Gehirn einen ähnlichen Effekt hat wie Psilocybin, das, wie wir wissen, psychedelische Halluzinationen bewirkt. Das Ergebnis ist eine extreme Salienz: ein Gefühl von tiefer Bedeutung, ultralebendige Wahrnehmungen und eine spirituelle Verbindung mit dem Universum. Serotoninrezeptoren des Typs zwei sind für diesen Zustand verantwortlich, und Sie wissen ja, dass Ihr Serotoninspiegel stark schwankt. Nach einer Verletzung wie der Ihren ist mit solchen Träumen in der Tat zu rechnen.«

»In den Träumen«, sagte Mike, »konnte ich zum ersten Mal seit der Verletzung aus meinem Kopf herauskommen. Es gab keine Rätsel. Keine Muster. Nur ich. Manchmal fühlte sich das alles so … real an.«

Mike fühlte sich nach der Sitzung besser, und eine Zeit lang beruhigte ihn die Erklärung von Dr. Trevers. Es war eine Erleichterung zu glauben, dass alles nur das Produkt von Chemikalien in seinem Gehirn war. Dennoch gab es Nächte, in denen er schweißgebadet aufwachte und von einer intensiven Sehnsucht nach Jess Price übermannt wurde. Er erinnerte sich an ihre Berührungen, an das tiefe Verständnis, das er empfunden hatte, wenn er mit ihr zusammen war, an ihre außergewöhnliche Verbindung, und er wusste, dass er sie wiedersehen musste. Eines Nachts, nachdem er viele Stunden lang wach gelegen und an sie gedacht hatte, wusste er, dass die Zeit gekommen war, eine Entscheidung zu treffen: Kontakt zu ihr aufnehmen oder sie vergessen. Er nahm seinen Morgan-Silberdollar, balancierte ihn auf seiner Daumenfläche und warf ihn in die Luft. Bei Kopf würde er nach Ray Brook fahren, bei Zahl würde er die ganze Sache auf sich beruhen lassen. Die Münze landete auf Zahl.

Er hätte Jess Price in die Vergangenheit verbannen sollen. Aber er konnte es nicht. Er musste sie sehen. Also nahm er trotzdem Kontakt zu ihr auf.

 

Jess wurde Ende Februar entlassen, als die Adirondacks noch mit Schnee bedeckt waren. Thessaly half ihr, eine Wohnung in Brooklyn zu mieten, und Mike bot ihr an, sie in seinem neuen Pick-up in die Stadt zu fahren. Am Morgen ihrer Entlassung holte er sie im Gefängnis ab und lud sie zum Mittagessen ein. Er hatte dafür ein rustikales Gasthaus hoch in den Bergen ausgesucht, wo er Connie im Wald würde laufen lassen können. Zwischen seiner Dackeldame und Jess war es Liebe auf den ersten Blick. Connie leckte Jess im Auto die Wangen ab und zeigte auf dem Parkplatz des Restaurants ihre besten

Sie unterhielten sich zwei Stunden lang bei Burgern und Fritten. Sie stellte ihm Fragen über sein Leben vor seiner Verletzung, über das MIT und seine bevorstehenden Rätselwettbewerbe. Während ihrer Unterhaltung bemerkte er, wie sehr sie sich in den letzten Monaten verändert hatte. Sie wirkte selbstbewusst, glücklich, ihr Haar glänzte, und ihre Wangen waren leicht gerötet. Wie er von Thessaly wusste, hatte Jess seit ihrer Rückkehr nach Ray Brook wieder Appetit, hatte jeden Nachmittag im Gefängnishof Joggingrunden gedreht und die Nächte durchgeschlafen. Sie hatte sogar wieder angefangen zu schreiben, und obwohl sie nicht über ihre Arbeit sprechen wollte, verstand er, dass ein wesentlicher Teil von ihr wiederhergestellt worden war. All die Dunkelheit, die sie in sich getragen hatte, war verschwunden.

Und doch wusste er, dass sie trotz ihres gesunden Aussehens seelisch noch sehr sensibel war. Er hatte darauf geachtet, nicht über den Prozess, über Sedge House oder irgendetwas anderes in dem Zusammenhang zu reden, das sie beunruhigen könnte. Aber nachdem sie ihr Mittagessen beendet hatten, sagte Jess: »Ich möchte diesen Teil meines Lebens einfach nur vergessen, Mike. Aber ich weiß, ich werde nie vergessen, was du für mich getan hast. So verwirrend und schmerzhaft das alles ist – zu wissen, dass du noch da bist, dass es dich wirklich gibt, bedeutet mir sehr viel.«

Nachdem er die Rechnung bezahlt hatte, gingen sie hinaus in den kühlen Nachmittag und lachten wie alte Freunde. Sie hatten gemeinsam etwas Außergewöhnliches durchgemacht, und er fühlte sich in ihrer Gesellschaft auf eine Weise wohl, wie er es nur selten bei jemandem erlebt hatte. Aber Freundschaft war nicht unbedingt das, was er wollte. Als hätte Jess seine Gedanken gelesen, nahm sie seine Hand und drückte sie. Ein elektrisierendes Gefühl durchfuhr ihn, köstlich und aufregend. Er verspürte das Bedürfnis, sie an sich zu

»Mal sehen, wohin das führt«, sagte sie und ging mit ihm zum Anfang eines Wanderweges, der mit Schnee gesprenkelt war.

Die Sonne ging bereits unter, und er fragte sich, ob sie nicht aufbrechen sollten. Er schaute auf seine Uhr. Es war vier Uhr vier am Nachmittag. Vier plus vier gleich acht. Acht war keine perfekte Zahl, keine Primzahl, sondern eine gewöhnliche Zahl, eine Zahl, deren Quadrat vierundsechzig war, was nach verschiedenen Überlieferungen für Wachstum stand. Er sehnte sich nach Wachstum, nach allem, was er nicht hatte, nach Beziehung, nach Liebe, und vielleicht war das hier seine Chance, es zu verwirklichen.

»Komm«, sagte sie und grinste fröhlich. »Ich habe viele Jahre nicht mehr wandern können.«

Ehe er sichs versah, kraxelten sie zusammen durch den dunkler werdenden Wald, das Wintersonnenlicht ließ die Blätter sprenkeln, und ein scharfer, stechender Windhauch fuhr durch seine Jacke. Er ließ Connie von der Leine, und sie rannte den Pfad hinauf und bellte wie verrückt angesichts der Fülle an Gerüchen. Der Pfad schraubte sich hinauf und herum, durch die Schatten alter Wälder, in denen eisbedeckte Farne kristalline geometrische Landschaften bildeten: riesige Fraktale, hell und prismenartig, hauchdünne Netze voller Farben. Der Wald war eine verschlungene, sich ständig weiterentwickelnde Abfolge von Mustern, die ihn in ihrem komplexen Netz zu verfangen drohten, aber mit Jess an der Hand stand er fest auf dem Boden und war sicher vor den Illusionen seines Verstandes.

Schließlich erreichten sie den höchsten Punkt des Weges. Im schwachen Licht des Sonnenuntergangs entfaltete sich der Blick auf die Berge, auf Schicht um Schicht schneebedeckte Gipfel. Er drehte

Instinktiv erwiderte er den Kuss, zog sie an sich, spürte ihren Körper an seinem. Einen Moment lang stellte er sich vor, sie wären zusammen in ihrer privaten Welt, dieser ultralebendigen Dimension, in der alles passieren konnte. Der Kuss war ein Test, und er offenbarte die Wahrheit: Das schreckliche Verlangen, das ihn fast in den Wahnsinn getrieben hatte, war verschwunden. An seine Stelle waren Zärtlichkeit und Verletzlichkeit getreten, ein tiefes Bedürfnis, sie zu verstehen, eine völlig neue Art der Beziehung. Er hatte mit dieser Frau etwas Unglaubliches erlebt, und er wollte sie nicht verlieren. Es fühlte sich gut an, sie fest in seinen Armen zu halten, und mit dieser Feststellung kam auch eine Erkenntnis: Jess war nicht mit der Frau zu vergleichen, die er in seinen Träumen getroffen hatte. Sie war besser.