Cam wartete auf seine Tochter. Sie waren früh dran für ihren Flug und hatten noch über eine Stunde totzuschlagen. Jasmine hatte noch nicht zu Mittag gegessen, also gab er ihr zwanzig Dollar und sagte, sie solle sich bei Starbucks etwas holen. Er wollte nicht mit hineingehen. Der Raum war klein, und Menschenmassen machten ihn nervös. Menschen im Allgemeinen machten ihn nervös. Das war es, was er aus seiner Zeit in Ray Brook mitgenommen hatte: die Angst vor geschlossenen Räumen. Klaustrophobie. Agoraphobie. Egal, wie man es nannte, es war immer dasselbe. Wenn man ihn in einen engen Raum mit vielen Menschen steckte, wollte er so schnell wie möglich wieder weg.
Es hatte einige Überzeugungsarbeit gebraucht, damit Jasmines Mutter grünes Licht für die Reise gab, aber Jasmine hatte gebettelt und gebettelt, und schließlich hatte Cam die Erlaubnis erhalten. Die Cayman-Inseln würden eine willkommene Abwechslung zum dunklen, tristen New York sein. Anne-Marie hatte ihm für eine Woche ihr Haus zur Verfügung gestellt, mit Koch und allem Drum und Dran, sodass sie sich dort pudelwohl fühlen würden. Als Anne-Marie darauf bestand, den Jet von Singularity zu benutzen, hatte er sich zunächst geweigert, dann aber nachgegeben, als ihm klar wurde, dass es für Jasmine eine einmalige Erfahrung sein würde. Nach dem Tod von Mr Sedge hatte sich so vieles verändert, aber eines war gleich geblieben: Alles, was er tat, tat er für sie. Sich um sie zu kümmern, war das Einzige, was ihn bei Verstand hielt.
Während seine letzte Mission genauso geendet hatte, wie Mr Sedge es haben wollte, hatte Cam Anne-Marie im Stich gelassen. Sie hatte ihn angefleht, Jameson davon abzuhalten, sich umzubringen, doch obwohl er sein Bestes gegeben und in jener Nacht nicht abgedrückt hatte, hatte er Mr Sedge nicht davon abhalten können, sich die Waffe zu schnappen.
Alles in allem waren die Ereignisse im Gefängnis glimpflich für Cam ausgegangen. Er hatte niemandem etwas getan, also konnten sie ihn nicht länger als vierundzwanzig Stunden festhalten. Zehn Gefängniswärter waren Zeugen von Mr Sedges Selbstmord geworden, und alle zehn bezeugten, dass Cam sich bemüht hatte, diesen zu verhindern. Es gab nichts, was man ihm vorwerfen konnte, außer dem unerlaubten Führen einer Waffe in einem Staatsgefängnis, was Anne-Maries Anwälte in eine Geldstrafe umwandeln konnten.
Die eigentliche Bestrafung spielte sich in seinem Kopf ab. Er konnte nicht aufhören, Mr Sedge sterben zu sehen. Wie sich die Pistole an seine Schläfe hob. Der schreckliche Moment zwischen dem Schuss und dem Zusammenbruch auf dem Boden. Und das Blut, so viel Blut. Er wachte aus Albträumen auf, und das war nicht das Schlimmste. Der Verlust von Mr Sedge ließ ihn auf eine Weise hilflos zurück, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte. Selbst mit all dem Geld, das er geerbt hatte, wusste er nicht, was er mit sich anfangen sollte. Er rieb seinen Hals und zeichnete das Dreieck nach, das seine Aufnahme in Mr Sedges Welt symbolisiert hatte. Er war reich und frei, fühlte sich jedoch nicht frei. Er fühlte sich verlassen, ohne Sinn und Ziel.
Die Zeit mit Jasmine würde ihm helfen, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Sieben Tage Sonne und Meer. Vater zu sein war der perfekte Anfang. Er wollte all die Jahre, die er weg gewesen war, wiedergutmachen. Jasmine ließ ihm nichts durchgehen, und das tat ihm gut. »Chill mal, Dad«, sagte sie immer, wenn er anfing, sich aufzuregen, was angesichts von Jess Price’ Prozess viel zu oft passierte – auch angesichts Anne-Maries, die darauf bestand, dass sie in Kontakt blieben. Mit Hilfe seiner Tochter würde er einen Plan für den nächsten Abschnitt seines Lebens entwickeln.
Ihre Begeisterung über die Reise genügte, um ihn abzulenken. Als der Wagen sie auf das Rollfeld brachte und sie in den Jet stiegen, wies sie ihn auf jedes kleine Detail hin: das Logo von Singularity, das seiner Tätowierung entsprach, die luxuriösen Ledersitze, den Großbildfernseher, der Schlafbereich mit dem Queen-Size-Bett, das Bad und die Duschkabine. Er war schon ein paar Mal mit dem Jet geflogen, normalerweise mit Mr Sedge, aber auch schon mehrmals allein, und dennoch staunte auch er jedes Mal über all den Luxus.
Sie saßen bereits in ihren Ledersitzen, als er sein Handy in der Gesäßtasche seiner Jeans vibrieren spürte. Sicherlich ein weiterer Marketinganruf. Er bekam sie inzwischen ziemlich oft, ständig wollten irgendwelche Telefonverkäufer und Versicherungsleute etwas von ihm. Er vermutete, dass seine nicht registrierte Nummer auf irgendeiner Liste gelandet war. Doch als er auf sein Handy sah, entdeckte er eine Textnachricht: Ich rufe Sie in zwei Minuten an, Mr Putney. Gehen Sie ran. Es geht um Ihren Vertrag. Das erschreckte ihn. Der einzige Vertrag, den er mit jemandem hatte, war der, den er 2011 mit Singularity abgeschlossen hatte, sein Ricardianischer Vertrag. Er vermutete, dass er durch Mr Sedges Tod hinfällig geworden war. Der Testamentsvollstrecker, ein Anwalt, dem Cam nie zuvor begegnet war, hatte nichts davon erwähnt, als sie sich trafen, um über sein Erbe zu sprechen. Anne-Marie hatte ebenfalls nichts erwähnt.
Cam stand auf, ging zum hinteren Teil des Jets und schlüpfte ins Bad, um den Anruf entgegenzunehmen. Jasmine, der nie etwas entging und die immer genau wusste, in welcher Stimmung er gerade war, brauchte nicht unbedingt zu hören, wie er gleich irgendjemanden zur Schnecke machte. Er hatte keine Lust, schon wieder belästigt zu werden, aber er war doch neugierig genug, um den Anruf entgegenzunehmen.
Es war ein Videoanruf. Er nahm ihn an und verfolgte dann entgeistert, wie es kurz auf seinem Bildschirm flackerte und dann das rote Haar, die blasse, pergamentene Haut und die stechend blauen Augen von Jameson Sedge erschienen. Sein Herz setzte einen Schlag aus, und beinahe wäre ihm das Telefon aus der Hand gefallen. Da, auf dem rechteckigen Bildschirm, war der Mann, für den er unermüdlich gearbeitet hatte, dessen Großzügigkeit die Zukunft seiner Tochter verändert hatte, dessen Tod er miterlebt und nicht verhindert hatte. Jameson Sedge starrte ihn an, ein Schimmer von Belustigung in seinen Augen.
»Mr Putney«, sagte er mit gekräuselter Stirn, so wie immer, wenn er ihn foppte. »Sie sehen ganz schön erschrocken aus.«
Cam starrte ihn schockiert an und bekam keinen Ton heraus. Er versuchte zu atmen, spürte aber, wie sich seine Brust zusammenzog. Konnte es sein, dass der verrückte Plan von Mr Sedge funktioniert hatte? Die Dateien waren alle hochgeladen worden, die Programme waren in Gang gesetzt worden, die Bankkonten hatten Geld an die Netzwerkknoten verteilt. Aber es musste ein Irrtum vorliegen. Mr Sedge konnte nicht am Leben sein.
»Diese kleine Panne im Gefängnis hätte uns beinahe alles gekostet«, sagte Mr Sedge und lächelte leicht. »Was war los, mein Junge? Kalte Füße?«
Die Stimme war Mr Sedges Stimme. Das Gesicht war Mr Sedges Gesicht. Die Worte waren exakt die Worte, die Mr Sedge benutzen würde.
»Mr Putney«, sagte er. »Sagen Sie was.«
»Nein, Sir«, sagte er. »Keine kalten Füße.«
»Ich habe Sie schon in vielen heiklen Situationen erlebt«, sagte der Kopf auf dem Bildschirm. »Aber Sie waren noch nie jemand, der einfach erstarrt, Mr Putney.«
Cam dachte darüber nach. Es stimmte. Er hatte schon Männer getötet, und es hatte nie ein Problem gegeben. Konnte er ihm die Wahrheit sagen? Dass Anne-Marie ihn angefleht hatte, es nicht zu tun, dass er es tief in seinem Herzen nicht fertiggebracht hatte, den Mann zu töten, der ihn einst gerettet hatte? »Ich konnte es einfach nicht«, sagte er schließlich und versuchte die richtigen Worte zu finden, um den Schmerz auszudrücken, den er über den Verlust von Mr Sedge empfunden hatte. »Nach allem, was Sie für uns getan haben … konnte ich es einfach nicht, Sir.«
»Nun«, sagte Mr Sedge, und ein Hauch von Verärgerung schwang in seiner Stimme mit, »nicht nötig, emotional zu werden. Einigen wir uns darauf, dass es menschliches Versagen war, ein Anflug von Irrationalität, den wir jetzt aufgearbeitet und überwunden haben. Vergessen wir’s. Aber hören Sie mir jetzt gut zu, Mr Putney: Das darf nie, niemals wieder passieren. Sie sind jetzt mein Körper. Sie sind meine Hände, meine Füße, meine Eingeweide. Obwohl meine Reichweite innerhalb des Netzwerks sehr groß ist, fast unendlich, werde ich niemals mehr eine Mahlzeit essen, ein Glas guten Wein trinken, Anne-Marie wieder in den Armen halten. Ich werde Ihnen nicht mehr die Waffe aus der Hand nehmen und eine Mission selbst zu Ende bringen können. Sie müssen jetzt die Zügel in der Hand halten oder doch zumindest Befehle ohne jedes Zögern befolgen. Haben Sie mich verstanden, Mr Putney?«
»Jawohl, Sir«, sagte Cam. Und während ein Teil von ihm vor dem blassen, körperlosen Mann auf dem Bildschirm zurückschreckte, spürte er gleichzeitig, wie ihn eine große Erleichterung überkam, eine Erleichterung, die alle Ängste und Sorgen wegspülte, die er seit Mr Sedges Tod empfunden hatte. Jameson Sedges Existenz, so geisterhaft sie auch sein mochte, gab ihm wieder eine Aufgabe. Die Mission war noch nicht zu Ende. Es gab noch etwas zu tun. Er stand wieder in seinem Dienst. »Klar und deutlich, Sir.«
»Gut«, sagte der Mann auf dem Bildschirm. »Denn es gibt viel zu tun. Wir sind die Zukunft, und die Zukunft ist lang, sehr lang. Eigentlich, mein Junge, ist heute der erste Tag der Ewigkeit.«
ENDE