Dr. Moses nahm einen Schlüsselbund aus ihrer Tasche und schloss die Tür zur Gefängnisbibliothek auf. Mike folgte ihr in einen luftigen Raum voller Bücherregale und langer Holztische. Am anderen Ende des Raumes gaben hohe Fenster den Blick auf einen Garten frei, wo Gefangene die Blumenbeete von Unkraut befreiten. Jedes Fenster bestand aus Glasquadraten, und als er ihre Anzahl – drei mal drei mal drei – registrierte, bewunderte er das Muster: siebenundzwanzig Quadrate pro Fenster, ein Stapel perfekter Würfel. Dr. Moses führte ihn zu einem Tisch vor den Fenstern.
»Ich gehe jetzt Jess holen«, sagte sie und lächelte ihn dankbar an. »Bin in fünf Minuten zurück.«
Er stellte sich ans Fenster und schaute auf den Garten hinaus. Ein paar Frauen in grauen Overalls gingen einen kleinen Pfad entlang, und dahinter lag der Parkplatz. Sein verbeulter Pick-up fiel unter den Hondas, Fords und Chevys, die in der späten Morgensonne glitzerten, auf wie ein bunter Hund. Der 1991er-Ford, tomatenrot mit Rosträndern, hatte es kaum bis nach Ray Brook geschafft. Er hatte gebebt und geschwankt, sobald die Tachonadel die hundert überschritt, und jedes Mal ein alarmierendes Kreischen von sich gegeben, wenn Mike den fünften Gang einlegte. Der Truck war schon damals, 2008, spürbar in die Jahre gekommen, als Mike mit ihm von Cleveland zum College nach Boston gefahren war, aber er hatte seinem Vater gehört und zählte zu den wenigen Dingen, an denen Mike nach dessen Tod festgehalten hatte. Er brachte es einfach nicht übers Herz, ihn verschrotten zu lassen. Und auch wenn der Wagen ständig kaputtging, akzeptierte Mike seine Mängel doch so, wie man die Schwächen eines lieb gewordenen alten Hundes akzeptierte: mit Toleranz und einem Gefühl für das unvermeidlich bevorstehende Ende, so traurig es sein mochte.
Der Truck hatte ihn bei allen wichtigen Meilensteinen im Teenageralter begleitet: Mit ihm hatte er fahren gelernt, in seinem Führerhaus hatte er sich mit seinen Freunden betrunken, und auf seiner Ladefläche hatte er zum ersten Mal Sex gehabt. Auch an jenem Tag, an dem sich alles änderte, war er mit dem Truck gefahren: am 12. Oktober 2007, dem Tag der Ohio-High-School-State-Football-Meisterschaft. Er hatte ihn auf dem Parkplatz abgestellt, von dem aus seine Mannschaft den Bus zum Stadion nahm, und hätte sich im Traum nicht vorstellen können, wenige Stunden später in einem Krankenwagen abtransportiert zu werden. Die abgenutzten Vinylsitze und der beißende Geruch von Staub und Schweiß, sogar das defekte Getriebe – all das führte ihn zu dem zurück, der er einmal gewesen war: Quarterback und Captain eines Footballteams in der Highschool-Meisterschaft, gut aussehend und selbstbewusst, einer dieser glücklichen, unbeschwerten Typen, die mühelos durchs Leben segelten.
Es war immer schwer, sich vor einem großen Spiel zu konzentrieren, aber an diesem Abend war es noch schwerer gewesen als sonst. Die Scouts der Colleges waren da und sahen aufmerksam zu, und seine Zukunft hing von seiner Leistung auf dem Platz ab. Bei einem Sieg würde man ihm ein Vollstipendium an einem der besten Footballcolleges anbieten. Bei einer Niederlage würde er sich für eines der zweitklassigen Colleges entscheiden müssen, die ihn bereits umworben hatten. So oder so würde er am Ende dieses Abends ein Stipendium in der Tasche haben.
Selbst ohne ein Sportstipendium hätten seine Eltern ihm durchs College geholfen. Sie hatten ihn immer unterstützt, selbst wenn er Mist baute wie damals, als er wegen zu schnellen Fahrens angehalten worden war oder als er in US-Geschichte durchgefallen war. Als er jetzt über den Platz blickte, entdeckte er seine Eltern in der zweiten Reihe der Tribüne direkt hinter der Mannschaft, eine Wolldecke über ihren Knien ausgebreitet. Seine Mutter winkte, als sie ihn sah, und sein Vater nickte ihm aufmunternd zu. Er spürte, dass das hier seine Chance war, ihnen endlich etwas zurückzugeben. Nach allem, was sie für ihn getan, nach all den Auswärtsspielen, die sie ertragen, nach all der Ausrüstung, die sie gekauft, nach all der Ermutigung, die sie ihm immer wieder geschenkt hatten. Es war sein Abend, sie stolz zu machen.
Der Lärm war ohrenbetäubend. Die stampfenden Füße, das stakkatoartige Skandieren der Cheerleader, der urtümliche Rhythmus der Blaskapelle – er versuchte, das alles auszublenden und sich aufs Spiel zu konzentrieren. Es war kalt, wie üblich am Ende der Saison, die Wetterbedingungen auf dem Spielfeld waren brutal, und er befürchtete, den Ball gegen den Wind werfen zu müssen. Wie es der Zufall wollte, gewann sein Team den Münzwurf. Das gegnerische Team hatte sich für Zahl entschieden, und der Schiedsrichter warf Kopf, was Mike den Vorteil verschaffte, in Windrichtung zu spielen. Nach dem Abschlag war sein Team in einer starken Position, also beschloss er, die Kontrolle zu übernehmen. Er entschied sich für einen Spielzug, bei dem er sich einen Weg durch die Mitte bahnen und den Ball bis in die Endzone tragen konnte. Es war ein ungewöhnlicher Spielzug, riskant in dieser Entfernung zum Ziel, aber dennoch ein QB-Sneak, der den Gegner aus dem Gleichgewicht bringen und seine eigene Beweglichkeit und Schnelligkeit demonstrieren würde. Ein Touchdown in der ersten Minute würde ihnen zeigen, wer hier der Boss war.
Er packte den Ball fester, zog sich ein Stück zurück, täuschte einen Pass vor und rannte los mit allem, was er hatte. Zehn Yards, zwanzig Yards, dreißig. Er spürte den in seine Seite gedrückten Ball. Den eisigen Wind in seinem Rücken. Sah die Endzone in der Ferne, weit offen, wartend. Und dann kam der Schlag. Er ging hart zu Boden, sein Kopf knallte in seinen Helm, und alles wurde schwarz.
Er kam im Krankenwagen wieder zu sich. Sein erster Gedanke war, dass er sich etwas gebrochen hatte, aber dem war zum Glück nicht so. Außer einer Sehtrübung und einer Beule so groß wie ein Gänseei schien nichts passiert zu sein. Nach einer gründlichen Untersuchung in der Notaufnahme sagte ihm ein Arzt, er habe eine Gehirnerschütterung, und schickte ihn mit der Anweisung nach Hause, den Kopf mit Eis zu kühlen und sich auszuruhen.
Anzeichen dafür, dass seine Verletzung doch komplizierter war, gab es erst einige Tage später. Er war wie empfohlen zu Hause, um sich zu erholen, als er bemerkte, dass alles um ihn herum irgendwie anders war als sonst. Geordneter, schlüssiger als zuvor. Zu seiner Verblüffung stellte er fest, dass er in allem Muster erkannte. Der Marmorboden in der Küche – ein Schachbrett aus schwarzen und weißen Fliesen – war ein geometrisches Wunderwerk, ein dreidimensionales Puzzle mit endlosen Verbindungswegen. Eines Nachmittags verbrachte er fünfundvierzig Minuten unter der Dusche und beobachtete einfach nur die Bewegung des Wassers, seinen Weg vom Duschkopf zu den Fliesen, wie es in einer Spirale um den Abfluss herumwirbelte. Das Wasser ordnete sich selbst in kunstvollen architektonischen Strukturen – Regenbögen und Fraktale, mathematische Muster, die sich vor ihm in Farbwellen auftaten. Während er das Spiel der sich entwickelnden Muster im Wasser verfolgte, machte etwas klick in ihm. Er wusste nicht, wie, aber er verstand diese Strukturen. Es gab ein System, eine grundlegende Ordnung in der Welt, und er sah sie.
Mit der Zeit stellte er noch mehr Veränderungen in seiner Wahrnehmung der Welt fest. Wenn er an bestimmte Zahlen oder Buchstaben dachte, erschienen sie ihm in lebhaften Farben, hell und gesättigt, fast schillernd: Die Zahl 9 war kirschrot, die 6 kanariengelb, die 3 ein dunkles Stahlblau. Doppelte Ziffern zeigten sich als Farbmischungen, sodass die 63 ein klares Grün war, die 93 ein sattes Ultraviolett, die 69 ein leuchtendes Orange. Auch Töne übertrugen Farben in sein Bewusstsein, und ein Song wurde zu einem sensationellen Farbenspektakel, einem gemalten Konzert im Hintergrund seines Geistes.
Diese Veränderungen in der Art und Weise, wie er die Wirklichkeit wahrnahm, waren so fremdartig, dass er zunächst kein Wort darüber verlor. Er wusste, dass er regelmäßig stark strukturierte, geometrische Halluzinationen hatte und dass diese real waren, aber er war sich nicht sicher, ob ihm jemand glauben würde, wenn er versuchte, das zu erklären. Er war überzeugt, dass die Muster und Farben mit zunehmender Heilung der Beule an seinem Kopf verschwinden würden. Also beschloss er abzuwarten, der Sache etwas mehr Zeit zu geben und zu sehen, was passierte.
Aber sie verschwanden nicht. Vier Monate vergingen, und sein Zustand besserte sich nicht. Er war die ganze Nacht über wach und schlief am Tag. Seine Freundschaften litten darunter, und seine Freundin Kelsey, von der er ohnehin vermutete, dass sie sein Footballtrikot mehr mochte als ihn, versuchte nicht mal mehr, ihn zu erreichen. Ohne Panikattacken konnte er nicht mehr in die Schule gehen. Und dann hielt er es eines Nachts nicht mehr aus. Zahlen, Strukturen und Farben überschwemmten seinen Verstand mit einer hydraulischen Kraft – es waren so viele Bilder und Formen, dass er zu ertrinken meinte. Er ging in die Küche, setzte sich an den Tisch und brach in Tränen aus. Er brauchte Hilfe, aber er wusste nicht, wie er jemandem sagen sollte, was mit ihm geschah.
Seine Mom setzte sich zu ihm an den Tisch. Sie bestand darauf, dass er ihr sagte, was los war. Mike erzählte, dass er seit Monaten Muster in seinem Kopf sah, sich aber nicht getraut hätte, darüber zu reden. Er sagte ihr, er habe Angst, verrückt zu werden, und auch, dass er schon daran gedacht habe, sich umzubringen, damit es endlich vorbei war. Seine Mutter hörte aufmerksam zu, als er beschrieb, wie er das schwarz-weiße Raster des Küchenbodens wahrnahm, dass es alle möglichen Muster erzeugte – ein Schachbrett, dann ein Kreuzworträtsel, dann ein Zahlenschema –, eine schwarz-weiße Matrix sich unendlich verändernder Möglichkeiten. Sie hörte zu, als er ein Rätsel beschrieb, das ihm immer wieder in den Kopf kam, dann verblasste, um sofort zurückzukehren.
Seine Mom legte ein Blatt Papier und einen Stift vor ihn hin. »Zeig mir, was du siehst«, sagte sie, und dann zeichnete er ihr das Rätsel, ein Zahlenfeld, von dem er später erfuhr, dass es sich um ein klassisches magisches Quadrat handelte, genannt Lo-Shu-Quadrat: ein Raster aus neun Zahlen, dessen Spalten und Reihen sich auf jeder Seite zu fünfzehn addieren ließen. Dieses spezielle magische Quadrat war zum ersten Mal etwa 2300 v. Chr. in China erstellt worden. Er wusste noch nichts von der Geschichte des Quadrats, als er es in jener kalten Februarnacht des Jahres 2008 um drei Uhr morgens für seine Mom aufmalte. Sie betrachtete das Quadrat sorgfältig, erkannte, dass er etwas Außergewöhnliches erschaffen hatte, und sagte: »Du hast ein Talent erhalten. Du kannst es ignorieren, oder du kannst es nutzen. Aber du kannst dich nicht davor verstecken.«
Erst nach einer MRT-Untersuchung verstand er, dass sie recht hatte. Er würde nie mehr der sein, der er vor dem Unfall gewesen war. Ein Neurochirurg erklärte ihm, dass bei dem Aufschlag auf den Boden eine Druckwelle von achthundert Pfund pro Quadratzoll durch seinen Schädel geschossen war. Sein Gehirn hatte mit einem Gegenschlag reagiert, der seine linke Hemisphäre beschädigte. Und obwohl er nicht die üblichen Symptome eines Schädelhirntraumas zeigte – er hatte weder epileptische Anfälle noch Gedächtnisverlust, keinen neurologischen Schaden oder Schmerzen –, war Mike für immer ein anderer geworden.